Am 9. August 1931 wurden am Bülowplatz in Berlin zwei Polizisten erschossen, aus dem Hinterhalt und aus politischen Motiven. Der Täter, Erich Mielke, wurde 60 Jahre später vor Gericht gestellt, am 26. Oktober 1993 zu sechs Jahren Haft verurteilt, und am 10. März 1995 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) im Revisionsverfahren: Erich Mielke, 83, bleibt in Haft. Am 13. Oktober 1943 wurden in Caiazzo bei Neapel 15 Frauen und Kinder auf bestialische Weise umgebracht, aus niedrigen Motiven, unter dem Vorwand der sogenannten "Bandenbekämpfung". Der Haupttäter, Wolfgang Lehnigk-Emden, wurde 50 Jahre später vor Gericht gestellt. Am 1. März 1995 (eine Woche vor dem Mielke-Beschluß) entschied der BGH in letzter Instanz: Wolfgang Lehnigk-Emden, 72, bleibt für den Rest seiner Tage ein freier Mann. Zwei Täter, ein Gericht, zwei Urteile, zweierlei Maß. Und das scheint ja auch nur zu verständlich. Der eine der beiden Täter, Erich Mielke, wurde ein führender Mann des SED-Staates, Chef der gefürchteten Stasi. Für seine Taten in diesem Amt kann man ihn wahrscheinlich nicht bestrafen, aber dann doch wenigstens für eine andere, liege sie auch lange zurück. Der zweite Täter, Wolfgang Lehnigk-Emden, wurde nach seiner Mordtat Architekt, SPDRatsherr, Karnevalspräsident kurz: ein geachtetes Glied unserer Gesellschaft, ein Honoratior.
In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn.