Ausgabe April 1995

Rote Roben, braune Schatten

Am 9. August 1931 wurden am Bülowplatz in Berlin zwei Polizisten erschossen, aus dem Hinterhalt und aus politischen Motiven. Der Täter, Erich Mielke, wurde 60 Jahre später vor Gericht gestellt, am 26. Oktober 1993 zu sechs Jahren Haft verurteilt, und am 10. März 1995 entschied der Bundesgerichtshof (BGH) im Revisionsverfahren: Erich Mielke, 83, bleibt in Haft. Am 13. Oktober 1943 wurden in Caiazzo bei Neapel 15 Frauen und Kinder auf bestialische Weise umgebracht, aus niedrigen Motiven, unter dem Vorwand der sogenannten "Bandenbekämpfung". Der Haupttäter, Wolfgang Lehnigk-Emden, wurde 50 Jahre später vor Gericht gestellt. Am 1. März 1995 (eine Woche vor dem Mielke-Beschluß) entschied der BGH in letzter Instanz: Wolfgang Lehnigk-Emden, 72, bleibt für den Rest seiner Tage ein freier Mann. Zwei Täter, ein Gericht, zwei Urteile, zweierlei Maß. Und das scheint ja auch nur zu verständlich. Der eine der beiden Täter, Erich Mielke, wurde ein führender Mann des SED-Staates, Chef der gefürchteten Stasi. Für seine Taten in diesem Amt kann man ihn wahrscheinlich nicht bestrafen, aber dann doch wenigstens für eine andere, liege sie auch lange zurück. Der zweite Täter, Wolfgang Lehnigk-Emden, wurde nach seiner Mordtat Architekt, SPDRatsherr, Karnevalspräsident kurz: ein geachtetes Glied unserer Gesellschaft, ein Honoratior.

April 1995

Sie haben etwa 9% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 91% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Warnungen aus Weimar

von Daniel Ziblatt

Autokraten sind vielerorts auf dem Vormarsch. Ihre Machtübernahme ist aber keineswegs zwangsläufig. Gerade der Blick auf die Weimarer Republik zeigt: Oft ist es das taktische Kalkül der alten Eliten, das die Antidemokraten an die Macht bringt.

Allzu perfekte Opfer

von Olga Bubich

„Das normale Vergessen ist der programmierte Zelltod des geistigen Lebens. Es formt die Erfahrung zu einer nützlichen Geschichte“, schreibt der amerikanische Schriftsteller Lewis Hyde. Da es keinen Grund gibt, ihm zu widersprechen, stellt sich eine nicht minder logische Frage – nützlich für wen?

Befreiung als Zusammenbruch

von Klaus-Dietmar Henke

Im August 1941 wandte sich Thomas Mann in einer seiner berühmten Radiobotschaften aus dem amerikanischen Exil wieder einmal an die deutschen Hörer. Die Sowjetunion schien fast besiegt, die Vereinigten Staaten befanden sich noch nicht im Krieg, Präsident Roosevelt und Winston Churchill hatten mit der Atlantik-Charta eben ihren Gegenentwurf zu Hitlers Pax Germanica der totalen Unterwerfung verkündet.

Kein »Lernen aus der Geschichte«

von Alexandra Klei, Annika Wienert

Wofür steht der 8. Mai 1945 in der deutschen Erinnerungskultur? Bereits zum 70. und zum 75. Jahrestags beschäftigten wir uns ausführlich mit dieser Frage. Ist dem jetzt, am 80. Jahrestag, etwas Neues hinzuzufügen?