Nach der Erfahrung der Epochenwende von 1989-1991 ist die Versuchung groß, die Zäsur von 1945 nicht mehr so ernst zu nehmen. Was bedeutet schon das Ende des Zweiten Weltkriegs gegenüber der Auflösung des sowjetischen Imperiums und dem Ende des ideologischen Zeitalters? Ist Europa nicht zu einer Normalität zurückgekehrt, die durch die Oktoberrevolution gut 70 Jahre lang gestört worden war? Und sollte nicht auch Deutschland in eine Normalität zurückkehren, wie sie vor der ideologischen Verstrickung in den Nationalsozialismus und der darauf folgenden Teilung bestand? In der Tat weist die Zeit vom Ausgang des Ersten Weltkriegs bis zum Untergang des Sowjetimperiums Gemeinsamkeiten auf, die bei einer Überbetonung des Epochenschnitts von 1945 zu kurz zu kommen drohen. Ideologische Bewegungen, die ihre utopischen Weltordnungsvorstellungen mit den Mitteln des modernen Industriestaates durchzusetzen versuchen, haben den größeren Teil dieses Jahrhunderts in einer Weise geprägt, wie es vorher nicht vorstellbar war und jetzt nicht mehr vorstellbar ist.
Auch gab es, wie besorgte Moralisten und sorgsam registrierende Historiker seit Jahren darlegen, 1945 keine "Stunde Null", weder im zusammengebrochenen Deutschland noch sonstwo auf der Welt.