Ausgabe Juni 1995

Vive la gauche nouvelle - Es lebe die neue Linke!

Dankadresse französischer Sozialisten an Lionel Jospin (Wortlaut)

Den nachstehenden - in der Form einer Dankadresse an den zweiten Sieger der französischen Präsidentschaftswahlen vorgetragenen Aufruf entnehmen wir 'Le Monde', Paris, vom 11.5.1995. Darin versuchen prominente Sozialisten wie der langjährige Kommissionspräsident der EG/EU Jacques Delors und seine Tochter Martine Aubry, designierte Premierministerin eines Präsidenten Jospin, oder auch Ex-Regierungschef Michel Rocard sich in politischen Formeln, die auf die Fortsetzung der in Lionel Jospins Wahlkampagne zu Tage getretenen Dynamik zielen. - D. Red.

Danke, Lionel Jospin! Die neue Linke ist geboren. Der Präsidentschaftswahlkampf hat es möglich gemacht, ihre Fundamente zu legen. Es gibt verlorene Schlachten, die nicht nach Scheitern schmecken. Wir sind stolz darauf, diese Schlacht mit Lionel Jospin und all jenen geführt zu haben, die sich in der Aktion oder durch ihre Stimme engagiert haben. In diesem Wahlkampf wurde eine große Hoffnung wach, denn er führte auf der Linken zur Wiederentdeckung der Politik. Die Politik wiederzuentdecken, bedeutet für uns, die Werte der Republik zu bekräftigen, Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zu fördern. Es bedeutet, die Gesellschaft zu reformieren und nicht nur zu verwalten

. Es heißt, Prioritäten setzen - und das sind heute Arbeit, Wohnung, soziale Sicherheit und gesellschaftlicher Fortschritt - und die Mittel zu ihrer Verwirklichung erlangen. Es geht darum, den Wandel nicht nur auf dem Weg der Gesetzgebung anzugehen, sondern indem die ganze Gesellschaft sich in Bewegung setzt, unter Mitwirkung insbesondere all derer, die in Vereinigungen und Gewerkschaften, in Berufsverbänden und in den Wohngebieten aktiv sind. Die Linke hat jetzt eine neue Art zu denken und zu handeln in die Politik gebracht. Ihre Erneuerung steht im Zeichen einer strikten Auffassung von Ethik und Moral. Sie lehnt Demagogie ebenso als wie Resignation. Sie versucht, eine neue politische Praxis zu verwirklichen: Man muß sagen, was man tut, und tun, was man sagt. Die Linke wünscht einen starken Staat, der sich im öffentlichen Dienst bewährt, Energien freisetzt, Initiative anerkennt und die Schwächsten schützt.

Linke Politik zu betreiben heißt, sich in der modernen Gesellschaft verankern, neue Probleme wie Drogen und Aids entschlossen anpacken, neue Rechte schaffen, etwa im Bereich Wohnen und Sicherheit, und auf die hohen Erwartungen der Jungen und der Frauen eingehen. Linke Politik zu betreiben heißt, an vorderster Front gegen Rassismus, Nationalismus und jegliche Form des Fundamentalismus und der Intoleranz kämpfen. Ebenso laut und deutlich stellen wir fest, daß die Errichtung Europas unsere Ambition und das Abenteuer unserer Generation ist. Wir wollen, daß Frankreichs Worte und Taten in der Welt auf der unnachgiebigen Verteidigung der Menschenrechte gründen, auf der vorbeugenden Verhütung von Konflikten und Massakern ebenso wie auf der ausgewogenen Entwicklung der armen Welt.

Es sind diese Werte und diese Art, Politik zu machen, die es ermöglicht haben, daß sich auf der Linken um Lionel Jospin herum jene neue Hoffnung formieren konnte. Wir müssen unser Projekt weiter verfolgen, vertiefen, konsolidieren und uns für all jene öffnen, die diese Bestrebungen teilen. Laßt uns diese Hoffnung mit Leben erfüllen! Laßt uns weiter kämpfen und handeln!

Martine Aubry, Jacques Delors, Elisabeth Guigou, Jean-Noel Jeanneney, Bernard Kouchner, Michel Rocard, Jean-Pierre Sueur

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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