Ausgabe November 1995

Schwerpunkte, Defizite und Aufgaben grüner Außenpolitik - Thesen von Ludger Volmer und Frithjof Schmidt (Wortlaut)

In Heft 9/1995 (S. 1141 ff.) veröffentlichten wir den Brief von Joschka Fischer an Bündnis 90/Die Grünen zur "Katastrophe in Bosnien", der sich auch mit außenpolitischen Grundsätzen grüner Politik befaßt. Nachstehend dokumentieren wir ein außenpolitisches Strategiepapier von Ludger Volmer, Bundestagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen, und Frithjof Schmidt. D. Red.

1. Programmatik und außenpolitischer Prozeß

Es gibt programmatische Grundorientierungen grüner Außenpolitik: Die Absage an jeglichen Nationalismus, machtpolitische Selbstbeschränkung und internationale Einbindung, zivile Formen des internationalen Interessenausgleichs und der Streitbeilegung, radikale Abrüstung und Entmilitarisierung der internationalen Politik, aktiver Einsatz für die Menschenrechte, Angleichung der Lebenschancen aller Völker, Bewahrung und Wiederherstellung des globalen ökologischen Gleichgewichts. Diese Grundorientierungen stehen in deutlicher Spannung zu der offiziellen Außenpolitik, die - dem einseitigen Ziel der Verbesserung der deutschen Außenwirtschaftsposition folgend - eine Remilitarisierung betreibt und Menschenrechte dem ökonomischen Erfolg nachordnet. Die Praxis der Arbeit im Bundestag hat sich bisher im wesentlichen auf die Befassung mit regionalen Konflikten unter besonderer Berücksichtigung der Menschenrechtsverletzungen konzentriert.

Diese Arbeit ist auf der einen Seite richtig und notwendig, braucht aber eine Einbettung in umfassendere Konzepte, die eine globalere Sicht bieten und die anderen Grundwerte grüner Außenpolitik einschließen. Dies bedeutet keinen Universalitätsanspruch. Ein alternatives politisches "Weltsystem" entwerfen zu wollen, wäre vermessen. Wir müssen aber das Blickfeld unserer Arbeit vergrößern, wenn wir die Grünen der offiziellen Außenpolitik triftig kritisieren, in der Diskussion um Alternativen ernst genommen werden und bei einem eventuellen Regierungswechsel realen Einfluß gewinnen wollen. "Realpolitik" in diesem Sinne kann nicht die vordergründige Anpassung an die herrschenden Maximen bedeuten ein Gewinn an Reputierlichkeit in konservativen Kreisen durch entsprechende Bekenntnisse. Außenpolitik ist ein dynamischer Prozeß. Sie erfordert eine halbwegs exakte Analyse der globalpolitischen Veränderungen und die Frage, wie wir auf der Basis unserer nichtdisponiblen Grundwerte und aufbauend auf der beschlossenen Programmatik unsere außenpolitische Praxis weiterentwickeln können. Diese Aufgabe bringt unweigerlich - vermeidbar nur um den Preis des Abrutschens in sektenhafte Bekenntnisse - die Frage nach Defiziten und Widersprüchlichkeiten des bisher entwickelten Ansatzes mit sich. Dieses Papier will einen Anstoß geben, die notwendige Debatte in allen einschlägigen Gremien von Partei und Fraktion unter Einbeziehung der interessierten außen- und friedenspolitischen Fachwelt aufzunehmen.

2. Zentrale Felder grüner Außenpolitik

Grüne Außenpolitik muß sich in den vier zentralen Feldern bewegen, die heute die Gesamtheit der internationalen Politik bestimmen: - Umwelt- und Klimapolitik, - Handels- und Investitionspolitik, - Finanz- und Währungspolitik, - Sicherheits- und Militärpolitik. Die wachsende Integration der Weltwirtschaft führt dazu, daß die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Feldern internationaler Politik immer stärker verschwimmen und an den Schnittmengen neue Schwerpunkte außenpolitischen Handelns entstehen, die ein erweitertes konzeptionelles Verständnis von Außenpolitik erfordern. In der offiziellen Politik stoßen wir auf die paradoxe Situation, daß der nicht mehr zu leugnenden globalen Problementwicklung nur eine Scheinglobalität der Lösungsversuche gegenübersteht. Unter Globalisierung wird in erster Linie ein erweiterter Horizont für die traditionelle nationale Interessenorientierung verstanden. Statt regionale und globale Regulation in Schlüsselbereichen der internationalen Politik zu betreiben - wie wir sie für notwendig halten - wird im neoliberalen Sinne dereguliert, überhöht mit dem ideologischen Bekenntnis, das Kräftespiel der Partikulteressen diene einem globalen Gemeinwohl, garniert mit internationalen Konferenzen, wo die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit immer grotesker wird, und frankiert mit militärgestützten Ordnungsversuchen, die dem ungeregelten Liberalismus einen externen Halt geben zu geben versprechen.

Grüne Politik darf sich nicht darauf beschränken, die Diskrepanzen in der offiziellen Politik anzuklagen - obwohl dies auch in viel gezielterer Form nötig ist -, sondern muß den Diskurs zu verstärken suchen, der Alternativen entwickeln und durchsetzen will. Dabei muß sie sich sowohl immanent, d.h. im Rahmen der objektiv ablaufenden Prozesse, taktisch bewegen, als auch strategisch über die Sparten der offiziellen Politik hinausgehen und interdisziplinäre Fragen in neuer Weise einbeziehen. Bei der "Spartenpolitik" geht es in den nächsten Jahren schwerpunktmäßig - um die Fortführung der von der UN-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED) eingeleiteten Debatte, kurz auch "Rio-Prozeß" genannt, die mit der Berliner Klima-Konferenz und dem Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995 an einen Scheidepunkt gelangt ist. - um Aufgaben und Strukturen der in der GATT-Nachfolge stehenden Welthandelsorganisation (WTO) und der UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD), - um die Aufgaben und Strukturen des Weltwährungsfonds, der Weltbank und der regionalen Entwicklungsbanken, - um die Rolle der sogenannten G-7-Treffen, die als "inoffizielle Institution" nicht nur für die Weltwirtschaftspolitik, sondern auch für die Militärpolitik eine immer größere Bedeutung erlangen, - um die Strukturen und die Aufgaben des Weltsicherheitsrates der UN bei der internationalen Konfliktmoderation durch Sanktionen und die Entsendung von UN-Einheiten, - um die Rolle von regionalen Organisationen (wie der OSZE), ihr Verhältnis zu Militärbündnissen (wie der NATO) und die Perspektiven von Abrüstung (wie den START-Prozeß), Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung, - um die politische Definition Europas im Rahmen der MaastrichtÜberprüfungskonferenz 1996 in Verbindung mit der Debatte über die Ost- und Süderweiterung der EU und der Schaffung einer transatlantischen Freihandelszone mit gemeinsamen Umweltstandards, die NAFTA und EU in qualitativ neuer Weise verzahnt. In all diesen Bereichen müssen bestehende Konzepte grüner Politik dringend weiterentwickelt und mit den beiden zentralen "Querschnittsthemen" auch im außenpolitischen Bereich, der Verwirklichung der Menschenrechte und der feministischen Politik für eine emanzipierte Gesellschaft, verbunden werden. Das allein reicht jedoch nicht aus. Wichtig ist, ob es uns gelingt, die verschiedenen "Spartenkonzepte" zu einer integrierten Strategie der internationalen Strukturreformen zusammenzuführen.

3. Zukunftsaufgabe "Internationale Strukturpolitik"

Was interdisziplinäre Fragen angeht, hat grüne Politik einen Erfolg zu verbuchen: Bis 1990 wurde der systematische Zusammenhang von Ökonomie, Ökologie und Entwicklung durch die Erarbeitung des Konzeptes für eine ökologisch-solidarische Weltwirtschaftsordnung so thematisiert, daß in wichtigen Fragen Einfluß auf die internationale Debatte bis heute gewonnen werden konnte.

Spätestens mit dem Ende der Blockkonfrontation stellt sich auch das Thema der internationalen Konfliktmoderation durch die globalen Institutionen in neuer Weise. Es geht im Kern darum herauszuarbeiten, wie an die Stelle der überkommenen Militärstrukturen, die auf eine überholte Definition von Sicherheit und damit falsche Bedrohungsanalyse reagieren, auf der Basis eines erweiterten Sicherheitsbegriffs eine internationale Strukturpolitik mit den Aufgaben der Konfliktprävention und Konfliktmoderation treten kann. Unsere These lautet: Überlegungen zur Schaffung einer ökologischsolidarischen Welt sind auch unter den Fragestellungen einer neuen Sicherheitspolitik von zentraler Bedeutung. Die meisten der absehbaren militärisch eskalationsfähigen Konflikte haben ein ökonomisch-ökologisch-soziales Bedingungsgefüge. Eine internationale Strukturpolitik wäre konfliktpräventiv. Umgekehrt können bei bereits eskalierten Konflikten strukturpolitische Überlegungen und wirtschaftspolitische Maßnahmen pazifizierend wirken. Voraussetzung aber ist ein Begreifen dieses Zusammenhangs durch die offizielle Politik und die Aufgabe der überkommenen Spartentrennung von Sicherheits-, Außen-, Entwicklungs-, Außenwirtschaftsund internationaler Finanzpolitik.

Die Ausarbeitung eines solchen Konzeptes erlaubt eine erheblich präzisere und systematischere Kritik der Politik der Bundesregierung. Sie könnte an die Stelle der bei uns oft noch vorherrschenden moralisierenden Argumentation einen Kritikmaßstab setzen, der - für außenpolitische Arbeit unabdingbar - interkulturell nachvollziehbar wäre. Der Maßstab bezieht sich auf das heute historisch Mögliche und Notwendige und das Verspielen dieser Chance durch eine offizielle Politik, die am alten Denken festhält. Gerade auch die katastrophale Lage der Menschenrechte in vielen Ländern der Welt, die tiefen sozialen und ökologischen Krisen und die dramatisch anwachsenden Flüchtlingsbewegungen stehen in direktem Zusammenhang. Eine internationale Strukturpolitik kann einen zentralen Beitrag für eine "präventive Menschenrechtspolitik" leisten, die viel umfassender als die - natürlich notwendige - "nachsorgende" Anprangerung von Menschenrechtsverletzungen, den sogenannten "verschiedenen Generationen der Menschenrechte" (individuelle Freiheitsrechte, politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) Rechnung tragen kann. Nur so können wir der Einlösung unserer programmatischen Maxime, daß Menschenrechtspolitik ein "Querschnittselement" grüner Außenpolitik sein soll, näher kommen. Auch unsere feministische Politik ist eng mit einer strukturellen Lösung sozialer und ökonomischer Fragen verbunden und muß entsprechend zum integralen Bestandteil einer internationalen Strukturpolitik gemacht werden.

Die anstehende Neubestimmung der transatlantischen und gesamteuropäischen Beziehungen einerseits und die durch das Ende der globalen Bipolarität völlig veränderten Rahmenbedingungen für die Durchsetzung nationalegoistischer Außenwirtschaftsinteressen andrerseits haben eine tiefgehende Orientierungskrise für die christliberale Außenpolitik gebracht. Zugleich hat "der Westen" als Gewinner von Wettrüsten, Kaltem Krieg und friedlicher Systemkonkurrenz allergrößte Probleme, die politische und ökonomische Hegemonie so abzusichern, daß die Desintegrationsprozesse im besiegten Block und der nun bindungslosen Peripherie nicht in den Siegerblock zurückschlagen. Alle diejenigen, die sich die imperiale Perspektive des "Kalten Krieges" nach wie vor zu eigen machen, stehen nun vor einem ähnlichen Problem wie knapp 2000 Jahre zuvor das Römische Reich, nachdem es fast die gesamte ihm bekannte Weltregion besiegt, unterworfen, assoziiert oder marginalisiert hatte. An der daraus resultierenden Ordnungs- und Integrationsproblematik zerbrach es. An diesen Krisen, Dilemmata und Widersprüchlichkeiten der herrschenden Eliten und ihrer Politik müßen wir mit unserer Kritik konkret ansetzen und daraus die Notwendigkeit und die Plausibilität unseres politischen Gegenentwurfes zu den herrschenden Verhältnissen zu entwickeln.

4. Strategieproblem: Reformschritte zwischen Themenkonjunktur und politischem Gegenentwurf

Leider spitzt sich die öffentliche Diskussion über eine neue Außenpolitik nach dem Ende der Blockkonfrontation fast nur auf die Frage militärischen Eingreifens in heiße Konflikte zu. Die bessere Marktgängigkeit dieser Themen im Vergleich mit den zähen Prozessen im diplomatischen Bereich und ihr zweifelhafter Unterhaltungswert im Zeitalter des Infotainment mögen ebenso wie das Beharrungsvermögen des "alten Denkens" auch in den Köpfen der kommentierenden Zeitgenossen zu beklagen sein. Faktisch aber konstituieren sie damit eine zweite Wirklichkeit, an der wir nicht vorbei können. Eigentlich mußte es unsere erste Aufgabe sein, den Blick auf die umfassenderen Fragen zu richten. Faktisch aber werden wir immer gezwungen, Stellung zu nehmen zu Ereignissen, die einer Logik folgen, die wir als Ganze ersetzen wollen.

Selbst wenn diese Logik dann auch noch medienmäßig verabsolutiert wird und sich uns bei der medialen Konstruktion der Wirklichkeit die Haare sträuben, entsteht dadurch eine Erwartungshaltung in der Gesellschaft. Dieser können wir nicht nur durch Aufklärung beikommen; manchmal müssen wir sie schlicht bedienen - bei Strafe der Abwahl. Allgemeiner formuliert: Auch wenn wir an einer "neuen Welt" bauen wollen, einen radikalen Gegenentwurf zur bestehenden kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung vertreten und dies als prominenteste Aufgabe begreifen, sind wir als politische Subjekte gezwungen, auch in Entwicklungen der "alten Welt" handelnd einzugreifen und damit im Rahmen einer politischen und ökonomischen Logik zu operieren, die uns nicht gefällt. Diesem Widerspruch können wir prinzipiell nicht entrinnen. Nur wenn wir ihn akzeptieren, können wir unsere Position im einzelnen plausibel machen. Politisch sind wir z.B. gezwungen, eine Position zu der Frage zu beziehen, ob es eine deutsche Beteiligung bei der Rückzugssicherung der Blauhelme aus Ex-Jugoslawien geben soll oder nicht - obwohl unser Einfluß auf die Art und Weise, wie die Regierungen diesen Konflikt seit Jahren behandeln, sich faktisch kaum über "Nullkonmanull" erhebt. Wir müssen uns in dem vorgegebenen Rahmen taktisch bewegen. Das heißt keineswegs, daß wir von unseren langfristigen Zielsetzungen der Entmilitarisierung Abschied nehmen müssen.

Allerdings müssen wir uns vor der "Maximalismus-Falle" hüten, die jedes Handeln unterhalb der Durchsetzung einer maximalen Zielsetzung als "Verrat" begreift. Verzicht auf eine Maximalismus-Rhetorik heißt aber wiederum nicht, die Realität im zustimmenden Sinne anzuerkennen. Das Ziel einer internationalen Politik ohne NATO bleibt z.B. richtig, auch wenn wir nicht mehr umstandslos ihre Auflösung fordern, sondern dies als politischen Prozeß von reformschritten parallel zum Aufbau eines neuen gesamteuropäischen Sicherheitssytems angehen. Wir können unsere Distanz wahren - was übrigens eine Zustimmung zur Ost-Erweiterung verbietet - und gleichzeitig handlungsfähig bleiben in einem politischen Zusammenhang, der von der Existenz der NATO geprägt ist. Ähnlich sind wir auch in unserer Programmatik zum Umbau der Europäischen Union vorgegangen. Mit einer derart differenzierenden Haltung sollten wir uns den Reformdiskussionen nähern. Dabei müssen wir uns einige Fragen vorlegen, deren Beantwortung auch Einfluß auf eine Überarbeitung unserer programmatischen Grundlagen haben könnte. Einige Beispiele: - In den USA gibt es eine tiefgreifende Debatte darüber, wie sehr man sich überhaupt noch in Europa "engagieren" soll. Was ist unsere Meinung zu dieser zentralen Frage: Ami go home?

Oder Amerika als Mit-Garant von Frieden und Sicherheit? APO oder Adenauer? Oder favorisieren wir nicht besser den Prozeß eines neuen transatlantischen Grundlagenvertrages? Was aber ist dessen Gehalt? Was bedeutet es konkret, wenn wir eine enge Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA zur Lösung der drängendsten globalen Probleme für zwingend erforderlich halten? - Welche Rolle soll Rußland in Europa spielen? Wird es quasi als halbasiatisches Land eingestuft und aus der gesamteuropäischen Integration ausgegrenzt oder ist integraler und unverzichtbarer Bestandteil unserer gesamteuropäischen Konzeption? Soll Rußland langfristig Mitglied der EU werden oder muß gerade auch im wirtschaftlichen Bereich ein neues gesamteuropäisches Dach gefunden werden, etwa durch den Ausbau des Wirtschaftsforums der OSZE? - Welchen Stellenwert wird die NATO zukünftig haben? Könnten wir eine Ost-Erweiterung unter Einschluß Rußlands als Schritt zur Auflösung der Blockkonfrontation akzeptieren oder tangiert auch eine solche Entwicklung unsere Forderung nach Auflösung der NATO nicht? Könnten wir die NATO politisch nicht mehr so wichtig nehmen, wenn sie mehr politischen als militärischen Charakter tragen würde? Wie aber ließe sich mit einer solchen Haltung die atomare Erstschlagoption des Bündnisses und die Bildung "Schneller Eingreiftruppen" vereinbaren?

Wenn wir die NATO zurückdrängen wollen, welche Struktur soll verhindern, daß die Desintegration im "Westen" zunimmt? Können die militärischen Strukturen vielleicht nur soweit und in dem Maße zurückgedrängt werden, wie andere Institutionen praktische Bedeutung erlangen. Kann dies die OSZE sein, und wie können wir ihren Entwicklungsprozeß fördern? - Gibt es außer den neuen Bedrohungen, die den erweiterten Sicherheitsbegriff konstituieren und militärische Lösungen ausschließen auch noch Restbestände alter Bedrohungen, gegen die man sich noch militärisch wappnen muß? Wie müßte die entsprechende Insitution aussehen, die weder die NATO ist, noch einen Rückfall in nationale Armeen und in eine Bündnisbildung ? la Bismarck darstellt? Erfordert die Entmilitarisierung der Nationalstaaten zumindest für eine längere Übergangsperiode internationale bewaffnete Einheiten? - Was bedeuten unsere Prinzipien der Selbsteinbindung in internationale Zusammenhänge und freiwilliger nationaler Machtverzicht, wenn die internationalen Zusammenhänge, in die wir uns eingebunden haben, auch kollektive militärische Macht einschließen (wollen)? Fordern wir dann rauszugehen, den nationalen "Sonderweg"? Machen wir mit? Kann es ein System kollektiver Sicherheit geben, das niittelfristig ohne eine militärische Komponente auskommt? - Wenn wir friedenserhaltende Maßnahmen programmatisch begrüßen und z.B. den Verbleib der Blauhelme in Ex-Jugoslawien fordern, was folgt aus diesem prinzipiellen Ja zu Blauhelmen für eine deutsche Beteiligung angesichts der Tatsache, daß unsere bisherigen Gegenargumente nicht mehr alle schlüssig und vor allem nicht prinzipiell gültig sind? Das Verfassungsargument gilt gar nicht mehr, das historische Argument trifft nicht auf alle denkbaren Situationen zu, das der Türöffnerfunktion für eine Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik trifft nur die heutige Bundesregierung, dürfte für eine grün-mitbestimmte Regierung aber keine Gültigkeit haben. Wie reagieren wir auf diese Entwicklungen?

5. Als Katalysator in der internationalen Reform-Debatte wirken

Zu den angesprochenen zentralen Politikbereichen sind in den letzten Jahren von verschiedenen UN-Organisationen, von zahlreichen NROs und aus der Wissenschaft interessante Reformvorstellungen und neue Konzepte entwickelt worden. Eine große Chance für uns besteht darin, als Katalysator für eine Bilanzierung und Verdichtung dieser vielfältigen Debatten zu wirken. Die Problemstellungen globaler ökologischer, ökonomischer und sozialer Regulation müßen mit denen eines erweiterten Sicherheits- und Friedensbegriffes zusammengebracht werden, ohne gleich umstandslos einer zentralistischen "Weltinnenpolitik" das Wort zu reden. Das ist selbstverständlich nicht nur Aufgabe der Fraktion und von ihr allein auch nicht leistbar. Die Fraktion kann koordinierende Tätigkeiten wahrnehmen und Ergebnisse in die aktuellen Auseinandersetzungen im Bundestag einspeisen. Beteiligt sein müssen der Bundesvorstand und die Bundesarbeitsgemeinschaften.

Eingeladen ist die gesamte sympathisierende Fachwelt. Ziel ist die Weiterentwicklung unserer außenpolitischen Ansätze zu einer im öffentlichen internationalen Diskurs belastbaren Position. Parlamentarisch sollte dieser Arbeitsprozeß seinen Ausdruck in einer "begleitenden" Kette von Anträgen und Anfragen finden. Folgende unmittelbare Ansatzpunkte bestehen dazu: - die offizielle Einleitung einer Reformdiskussion über die internationalen Währungs- und Finanzinstitutionen durch das G-7Gipfeltreffen im Juni 1995, - die Auswertungsdiskussion zur Berliner Klimakonferenz und zum Weltsozialgipfel, die Verhandlungen zur Weiterentwicklung der WTO (u.a. Investitionen, Transnationale Konzerne, Handel und Umwelt) und die Debatte über die Perspektiven einer "nachhaltigen" Entwicklung, - die Debatte über eine Reform des UN-Sicherheitsrates (Regierungsforderung nach einem ständigen Sitz für Deutschland) und die deutsche Beteiligung an "peace-keeping"-Maßnahmen der UNO, - die Kritik am Umbau der Bundeswehr zu einer global einsatzfähigen Interventionsarmee im Zusammenhang mit der Schaffung bzw. dem Ausbau internationaler "Eingreiftruppen", - die aktuellen Probleme der internationalen nuklearen Proliferation sowie der zivilen und militärischen nuklearen Abrüstung, - der Debatte über einen neuen transatlantischen Vertrag (siehe u.a. die Vorschläge von W. Kok und K. Kinkel), die Erweiterung der NATO und die Weiterentwicklung der OSZE, - die Debatte um die großregionalen Politikkonzepte der Bundesregierung für Asien, Afrika, Lateinamerika und den Mittelmeerraum, insbesondere unter den Aspekten der Menschenrechts- und Entwicklungspolitik, - die Vorbereitung der Maastricht-Überprüfungskonferenz 1996.

Sie wird in besonderer Weise wichtige Elemente der genannten Punkte bündeln und hat insofern eine Schlüsselfunktion. Die weltweiten politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme bündeln sich zu einer strukturell neuen Herausforderung der internationalen Gemeinschaft auf die bisher alle politischen Kräfte noch keine tragfähigen Antworten gefunden haben. Die Konzipierung einer integrierten internationalen Reform- und Strukturpolitik stellt sich immer drängender als Überlebensaufgabe der Menschheit. BÜNDNIS 90 / Die GRÜNEN müssen ihre politischen Möglichkeiten viel stärker in den Dienst dieser Aufgabe stellen. 1995/96 sollten deshalb vom AK V gemeinsam mit anderen AK's und in Kooperation mit der Partei zu den schon oben genannten vier zentralen Politikfeldern (Umwelt- und Klimapolitk, Handels- und Investitionspolitik, Finanz- und Währungspolitik, Sicherheitsund Militärpolitik) wissenschaftlich-politische Symposien organisiert und entsprechende Hintergrundstudien in Auftrag gegeben werden. Sie können als Vorbereitung für einen internationalen Kongress Anfang 1997 zum Themenbereich "Globale Strukturpolitik und Friedenssicherung" (Arbeitstitel) dienen, auf dem aus einer Bilanzierung der internationalen Diskussionen und der parlamentarischen Vorarbeiten die Grundzüge eines neuen außenpolitischen Konzeptes entwickelt werden.

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