Ausgabe Juni 1997

Vollbeschäftigung, sozialer Zusammenhalt und Gerechtigkeit - Für eine alternative Wirtschaftspolitik in Europa.

Erklärung europäischer Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftswissenschaftlerinnen vom 27. Mai 1997 (Wortlaut)

Die nachstehende Erklärung fußt die Grundzüge eines Memorandums zusammen, das, wie auch die Erklärung selbst, von einer Arbeitsgruppe aus französischen, deutschen, britischen und spanischen Wirtschaftswissenschaftlerinnen und Wirtschaftswissenschaftlern erarbeitet und Ende Mai in verschiedenen europäischen Hauptstädten der Öffentlichkeit vorgestellt wurde (die deutsche Fassung am 27.5.1997 auf einer Pressekonferenz in Bonn). Voraufgegangen waren zwei Konferenzen über "Alternative Wirtschaftspolitik für Europa" in Straßburg (Oktober 1995) und Brüssel (September 1996) mit Teilnehmern aus zehn EU-Mitgliedsstaaten. D. Red.

Wir sind beunruhigt über die wirtschaftliche und soziale Lage in Europa. Als WirtschaftswissenschaftlerInnen, die in den meisten Mitgliedsländern der Europäischen Union (EU) arbeiten, stellen wir mit zunehmender Sorge fest, daß die Arbeitslosigkeit in der EU auf bislang einmalig hohem und nicht akzeptablem Niveau verharrt. 18 Millionen Menschen oder 11% der Erwerbsbevölkerung der EU sind offiziell als arbeitslos gemeldet, die Hälfte davon seit mehr als einem Jahr. Mehr als ein Fünftel aller Jugendlichen in der EU hat keine Arbeit. Als Folge hiervon erleben wir einen Anstieg der Armut, zunehmende soziale Polarisierung und Marginalisierung; für immer mehr Menschen in unseren Gesellschaften werden die Lebensperspektiven brüchig.

In dieser Situation halten wir es für alarmierend und unannehmbar, daß die Wirtschaftspolitik in Europa nicht angemessen auf die neuen Einflüsse und Herausforderungen der letzten Jahre reagiert, sondern sich in erster Linie nach wie vor auf restriktive Geld- und Fiskalpolitik sowie Sozialabbau konzentriert um die Konvergenzkriterien des Vertrages von Maastricht (VM) zu erfüllen. Wir weisen die in der Öffentlichkeit verbreitete Behauptung zurück, daß diese Politik wissenschaftlich wohlbegründet und politisch der einzig mögliche Weg sei, die europäische Integration und Einheit der Völker in Europa zu fördern. Beide Behauptungen sind falsch: Die theoretische Grundlage für die Hauptrichtung der Politik in der EU ist sehr umstritten, oftmals zweifelhaft und falsch. Wir bestehen darauf, daß es Möglichkeiten für eine andere Politik gibt, die den Interessen der Völker in Europa, ihrer Zusammenarbeit und Einheit besser dienen würde als die aktuell betriebene. Für den fundamentalen Fehler in der wirtschaftspolitischen Strategie der EU halten wir ihre sehr enge Konzeption von Stabilität, die fast ausschließlich als Preisstabilität definiert wird.

Damit bleiben andere, gleichermaßen wichtige Aspekte wirtschaftlicher und sozialer Stabilität außer acht, wie die Stabilität von Wachstum, Beschäftigung, Einkommen und sozialer Sicherheit oder die Stabilität der Umwelt. Die Besessenheit im Kampf gegen die Inflation hat zu den Konvergenzkriterien geführt, und sie bestimmt auch die Vorschriften für die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) in der Währungsunion, wie sie im VM vorgesehen ist. Sie hindert die Mitgliedsländer sogar daran, ihrerseits energische und koordinierte Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit durch eine angemessene Haushaltspolitik zu ergreifen. Wegen der hohen gegenseitigen Abhängigkeit in Europa haben die restriktiven Maßnahmen, die in den meisten Ländern seit Beginn der 80er Jahre ergriffen wurden, das Wachstum erheblich verlangsamt und dennoch nur sehr eingeschränkten Erfolg bei der Verminderung der staatlichen Defizite gehabt. Das Fehlen einer koordinierten Ankurbelungspolitik auf europäischer Ebene hat schwerwiegende Folgen gehabt. Sie haben sich schon in den vergangenen Jahren in beunruhigender Weise bemerkbar gemacht.

Die Probleme werden sich aber im Rahmen einer Währungsunion verschärfen, in der - wenn es keine wesentlichen Änderungen gibt - das Fehlen wirtschaftspolitischer Koordination eine besondere Schwierigkeit darstellen wird. Die Behauptung, daß niedrige Inflation über den Marktmechanismus automatisch zu mehr Wachstum und daher auch zu mehr Beschäftigung führen wird, kann angesichts der Erfahrungen in den letzten 10 Jahre überhaupt nicht überzeugen: Die Inflation ist auf ein sehr niedriges Niveau gefallen - nämlich von durchschnittlich 10,6% in den 70er über 6,5% in den 80er bis auf 2,6% im Jahre 1996 während das Wirtschaftswachstum erheblich nachgelassen hat und die Arbeitslosigkeit auf Nachkriegs-Rekordhöhen gestiegen ist, von durchschnittlich 4,0% in den 70er über 8,9% in den 80er auf 11,2% im Jahre 1996. Es gibt auch genügend Studien, die zeigen, daß - maßvolle und stabile - Inflationsraten keinen allgemein negativen Einfluß auf Wachstum und Beschäftigung haben.

Auf der anderen Seite führt eine Antiinflationspolitik, die auch dann noch fortgesetzt wird, wenn die Inflation fest unter Kontrolle ist, zu klaren negativen Folgen für die Wirtschaft. Das ist die aktuelle Lage in der EU: Inflation ist für die absehbare Zeit keine Gefahr.

Daher führt die vorherrschende Politik des knappen Geldes und der restriktiven öffentlichen Haushalte, wie sie schon vom VM und verstärkt vom jüngsten "Stabilitätspakt" gefordert werden, zu einer deflationären Abwärtsspirale. Dies untergräbt die gesamtwirtschaftliche Grundlage, die erforderlich ist, um mehr Beschäftigung, Einkommen und soziale Sicherheit zu schaffen und die Ziele des sozialen Zusammenhaltes und des ökologischen Umbaus realistisch angehen zu können. Arbeitslosigkeit ist eine persönliche Katastrophe für die Betroffenen. Sie ist auch eine enorme wirtschaftliche Verschwendung und eine Belastung für die öffentlichen Haushalte, deren Defizite trotz aller Versuche, sie zu vermindern, in der Tendenz weiter steigen. Anhaltend hohe Arbeitslosigkeit untergräbt den sozialen Zusammenhalt in den Mitgliedsländern und in der EU insgesamt. Sie führt zu politischer Instabilität, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. In unseren Augen stellt diese Wirtschaftspolitik der EU zum Teil eine falsche Antwort auf die äußeren Turbulenzen und inneren Beschränkungen der wirtschaftlichen Entwicklung in unseren Ländern seit den 70er Jahren dar. Zu einem anderen Teil halten wir sie für das Ergebnis von starkem Druck von seiten mächtiger Gruppen der Wirtschaft, insbesondere des finanziellen Sektors.

Aber weder akzeptieren wir die Ansicht, daß die neuen Probleme nicht anders und besser gelöst werden können als auf die vorherrschende Weise, noch glauben wir, daß die Kräfte hinter der Austeritätspolitik allumfassend sind und nicht zurückgedrängt werden können. Wirtschaftspolitik in der EU bleibt ein umkämpftes Gebiet. Mit den folgenden Vorschlägen für eine alternative wirtschaftspolitische Strategie in der EU möchten wir zu einer öffentlichen Debatte beitragen, die aus der aktuellen Sackgasse heraus führt und einen anderen Typ der wirtschaftlichen Entwicklung einleitet.

Alternative Wirtschaftspolitik: Ziele und Prioritäten

In unseren Augen können Marktprozesse ohne Anleitung keine kohärente wirtschaftliche Entwicklung gewährleisten. Um sich orientieren zu können, brauchen die Marktteilnehmer eine klare Vorgabe der allgemeinen Entwicklungsrichtung, sie selbst können diese Vorgabe jedoch nicht erzeugen. Zur Festsetzung wirtschaftlicher Ziele bedarf es sozialer und politischer Prozesse sowie institutioneller und instrumenteller Mittel, um sie zu erreichen und zu gewährleisten, daß Marktteilnehmer sich entsprechend diesen Zielen verhalten. Für die wesentlichen wirtschaftlichen Ziele halten wir Vollbeschäftigung, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit sowie ökologische Nachhaltigkeit. Jedes dieser Ziele ist für sich selbst erstrebenswert, zusammen bilden sie ein komplexes Bezugssystem für die Politik.

Daher müssen auch komplexe und differenzierte wirtschaftspolitische Instrumente entwickelt werden, um sie zu verwirklichen.

Dennoch spielt in unseren Augen eine Strategie zur Wiedergewinnung der Vollbeschäftigung eine zentrale Rolle, weil hierdurch die gesamtwirtschaftliche Grundlage gestärkt und es damit auch leichter wird, die anderen Ziele zu erreichen. Aus diesem Grund konzentrieren wir unsere Vorschläge auf die Hauptinstrumente einer umfassenden Beschäftigungspolitik: Geld- und Haushaltspolitik, Arbeitszeitverkürzung und Arbeitsmarktpolitik. Sie können und sollten so angewandt werden, daß sie in Einklang mit den anderen Zielen stehen und in vielen Fällen einen Beitrag zu deren Erfüllung leisten. Für jedes dieser Politikfelder schlagen wir kurzfristige Sofortmaßnahmen und mittelund langfristige Reformen vor. Die ersteren können und sollten unmittelbar durchgeführt werden und würden zu einem beträchtlichen Anstieg der Beschäftigung führen. Letztere erfordern mehr institutionelle Reformen, auf nationaler und auf EU-Ebene einschließlich der Revision und Veränderung bestimmter Bestimmungen im VM. Ihre schrittweise Verwirklichung würde zu einem alternativen Typ wirtschaftlicher Entwicklung führen: In ihm würden die vier politisch bestimmten Ziele Vorrang haben und die Regeln der nationalen und internationalen Konkurrenz würden entsprechend gestaltet werden, statt daß umgekehrt die wesentlichen wirtschaftlichen und sozialen Ziele den Erfordernissen der internationalen Wettbewerbsfähigkeit untergeordnet werden.

Geldpolitik

Kurzfristig braucht die EU eine sofortige weitere Lockerung der Geldpolitik um Investitionen anzuregen und die Fiskalpolitik zu entlasten und dadurch energische Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu erleichtern. Diese Lockerung sollte durch eine Koordinierung der geldpolitischen Ziele und eine Senkung der Zinssätze in den Mitgliedsländern erfolgen. Die Bundesbank muß aufhören, Kapitalzuflüsse geldpolitisch zu sterilisieren. Um eine solche koordinierte geldpolitische Lockerung gegen Kapitalflucht und spekulative Währungsattacken zu schützen, empfehlen wir, eine Devisenumsatzsteuer einzuführen, die ihrerseits einen starken Anreiz für eine internationale Reform des Währungssystems geben würde. In der mittleren und längerfristigen Perspektive braucht die EU eine erheblich größere Kontrolle über Finanzprozesse, die gegenwärtig die meisten Mitgliedsländer der Tyrannei globalisierter Geldvermögensmärkte unterwerfen, ohne zu produktiven Investitionen beizutragen. Eine solche Kontrolle kann durch ein eng koordiniertes und integriertes Geld- und Finanzsystem erleichtert werden. Es umfaßt eine Ausweitung und Verbesserung von Aufsicht und Sicherheitsstandards. In diesem Zusammenhang muß auch die Frage der völligen Unabhängigkeit der Zentralbank neu überdacht werden: Ohne ihre besondere Verantwortung für die Inflationskontrolle zu bestreiten, sind wir andererseits der Ansicht, daß die europäische Geldpolitik in eine umfassende wirtschaftspolitische Strategie eingebettet sein sollte, die mehrere gleichermaßen wichtige Ziele hat und öffentlich diskutierte und demokratisch beschlossene politische Instrumente einsetzt.

Dies erfordert auch, als Gegengewicht gegenüber der Europäischen Zentralbank, eine Institution, die für die allgemeine europäische Wirtschaftspolitik verantwortlich ist, d.h. für die Koordinierung der nationalen Politiken und für die Haushaltspolitik der Union, die wir weiter unten vorschlagen. Für die externen monetären Beziehungen schlagen wir ein reformiertes und modifiziertes Europäisches Währungssystem vor (EWS 2). Wenn die Währungsunion 1999 wie im VM vorgesehen beginnt, würde das EWS 2 als Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedern und den Nicht-Mitgliedern der Währungsunion dienen. Es wäre aus unserer Sicht allerdings wünschenswert, den Beginn der Währungsunion zu verschieben, um die Prioritäten und Methoden ihres Funktionierens wesentlich zu revidieren. In diesem Fall würde das EWS 2 einen allgemeinen Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen allen Mitgliedsländern abgeben. Die Funktionsfähigkeit dieses Systems fester aber anpassungsfähiger Wechselkurse sollte durch zusätzliche Instrumente gesichert werden, mit denen die geldpolitischen Instanzen auf spekulative Kapitalbewegungen reagieren könnten: Devisenumsatzsteuern oder der Einsatz des Europäischen Fonds für währungspolitische Zusammenarbeit; dieser sollte über zusätzliche Mittel verfügen, die von den Überschußländern kommen. Im Falle einer Verschiebung der Währungsunion bestünde eine weitere Möglichkeit darin, eine gemeinsame Außenwährung einzuführen, die innerhalb der EU neben den nationalen Währungen zirkuliert, für Geschäfte von Mitgliedsstaaten mit Drittländern allerdings das einzige Reservemedium wäre. In jedem Fall sollte die EU unserer Ansicht nach aktiv die Reform des internationalen Währungssystems unterstützen und betreiben, mit dem Ziel, einen stabilen globalen Rahmen für Geld- und Währungstransaktionen zu schaffen und solche Geldflüsse zu beschränken, die primär aus spekulativen oder Arbitragegründen erfolgen. Eine derartige Reform sollte mit einem stärkeren und anhaltenden Engagement bei der internationalen monetären Koordination beginnen und bis zu einer umfassenden Reform der internationalen Währungsinstitutionen weitergehen.

Fiskalpolitik

Als d r i n g e n d s t e fiskalpolitische Maßnahme schlagen wir die Auflage eines großen Beschäftigungsprogrammes vor, das auf einer erheblichen Ausweitung der öffentlichen Ausgaben beruht. Es sollte aus zwei eng miteinander verzahnten Teilen bestehen: erstens einer eigenen Investitionsinitiative der EU in einigen wesentlichen Bereichen, z.B. ökologisch verträglichen europäischen Infrastrukturprojekten wie Eisenbahnverbindungen und dezentrale Energieversorgung. Weil der Haushalt der EU gegenwärtig sehr klein ist, sollten solche EU-Projekte durch Euro-Anleihen finanziert werden, die durch die Europäische Investitionsbank ausgegeben werden. Der zweite Teil der Beschäfügungsinitiative sollte aus gemeinsam entwickelten und gut koordinierten Projekten auf nationaler oder regionaler Basis der Mitgliedsländer bestehen. Die spezifischen Bereiche wären dabei unterschiedlich je nach nationalen und regionalen Bedürfnissen und Prioritäten, In den meisten Ländern erfordert die Finanzierung solcher Programme eine befristete aber erhebliche Zunahme der öffentlichen Neuverschuldung.

Dies sollte angesichts des hohen Vorrangs des Beschäftigungszieles und angesichts der Tatsache hingenommen werden, daß es keinen Inflationsdruck gibt. Eine fiskalische Beschäftigungsinitiative heißt nicht, zusätzliches Geld ohne Rücksicht auf die spezifischen Verwendungszwecke auszugeben. Sie sollte nicht im Widerspruch zum Ziel der ökologischen Verträglichkeit stehen. Es gibt eine große Zahl vernünftiger Projekte, die diese Anforderungen erfüllen: Umweltsanierung in hoch belasteten Gebieten, Errichtung ökologisch akzeptabler Verkehrssysteme in unterentwickelten Gegenden usw. Auch die Ausweitung des öffentlichen Sektors, z.B. in der Bildung und in neuen sozialen Diensten, gehört zu den nützlichen Investitionen, die Beschäftigung und sozialen Wohlstand schaffen. In der m i t t l e r e n u n d l ä n g e r f r i s t i g e n P e r s p e k t i v e braucht die EU eine gewisse fiskalische Zentralisierung und eine größere Eigenmittelbasis. In dieser Hinsicht greifen wir die Ergebnisse des MacDougall Berichtes von 1977 auf, der einen EU-Haushalt in Höhe von 5%-7% des Bruttoinlandsproduktes der EU empfohlen hatte - immer noch weit unter der Größenordnung der nationalen Haushalte. Als Wege dorthin empfehlen wir: - die Einführung einer CO2-Emmissionsteuer, die bereits seit Jahren in der EU beraten wird; - die Einführung einer Devisenumsatzsteuer um spekulative Geldströme einzuschränken; - die Möglichkeit auszuloten, einen Teil der Steuern auf Zinsen und andere Kapitaleinkommen an die EU abzuführen, als einen Schritt zur Harmonisierung der Steuersysteme und zur Dämpfung der Steuerkonkurrenz zwischen den Mitgliedsländern. In allen drei Fällen würden die neuen Steuern zwei Zwecke erfüllen:

Erstens würden sie die Eigenmittelbasis der EU stärken.

Zweitens würden sie administrative Barrieren gegen schädliches wirtschaftliches Verhalten errichten, und damit auch Orientierungshilfen für gesellschaftlich wünschenswertes Verhalten der Wirtschaftssubjekte und in Marktprozessen leisten.

Schließlich empfehlen wir, in das Fiskalsystem der EU eine Art automatischen Stabilisator einzuführen. Dadurch solle der politische Mechanismus zur Herstellung von sozialem Zusammenhalt und von Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten gestärkt und gleichzeitig die gesamtwirtschaftliche Stabilität erhöht werden.

Arbeitszeitverkürzung

Unter den gegenwärtigen Bedingungen stellt die Verkürzung der Arbeitszeit ein erhebliches Potential zur Schaffung von Arbeitsplätzen dar. Es muß genutzt werden, um in absehbarer Zeit Vollbeschäftigung herzustellen. Je nach der Größe der Arbeitszeitverkürzung und nach den Reaktionen auf der Ebene der Geschäftsleitungen, ist die Schaffung von zwischen fünf und zehn Mio. Arbeitsplätzen eine realistische Vorstellung. Arbeitszeitverkürzungen sollten in unterschiedlichen Formen erfolgen, vom sofortigen Überstundenabbau über eine ganze Reihe von Maßnahmen wie tägliche oder wöchentliche Arbeitszeitverkürzung, Elternurlaub und Sabbaticals, Weiterbildung und verschiedene Formen der Teilzeitarbeit. Regierungen und die EU können viel zur Förderung von Arbeitszeitverkürzungen zu sozial akzeptablen Bedingungen beitragen. Als große Arbeitgeber können Regierungen eine Vorreiterrolle spielen und dabei Spielraum für die Ausweitung öffentlich finanzierter Arbeit in Bereichen schaffen, wo dies besonders nötig und dringend ist. Es gehört auch zu den politischen Aufgaben, dafür zu sorgen, daß Arbeitszeitverkürzungen nicht einfach eine Art Flexibilisierung im Unternehmensinteresse wird, bei der die Interessen der Arbeitnehmer hinsichtlich ihrer Arbeitszeiten, der Entlohnung und der sozialen Sicherheit unberücksichtigt bleiben. Andernfalls würde Arbeitszeitverkürzung nur zur Arbeitsverdichtung bei weniger Lohn und weniger Arbeitsplätzen führen. Hinsichtlich der wichtigen Frage des Lohnausgleichs sollte die Gemeinschaft einen gesetzlichen Rahmen anstreben, der vollen Lohnausgleich für die niedrigen Lohngruppen sicherstellt (und wo erforderlich auch subventioniert). Die EU sollte sich verstärkt darum bemühen, daß Arbeitsbedingungen und soziale Sicherheit durch Arbeitszeitverkürzungen nicht negativ beeinflußt werden. Das sollte auch den Kampf gegen Unsicherheit in allen Formen umfassen, Mindeststandards sollten durchgesetzt und schrittweise erhöht werden, ebenso die Bestimmungen im Sozialprotokoll des VM. Um Teilzeitarbeit attraktiver zu machen, ist es besonders wichtig, daß der volle Umfang der Sozialversicherung und der Renten erhalten bleiben. Auch hierbei kann die EU eine führende Rolle spielen.

Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtspolitik

Wir weisen alle Versuche zurück, Arbeitsmarkt- und Wohlfahrtspobliik unter dem Druck von fiskalischen Beschränkungen und der Konvergenzkriterien abzuschaffen. Aktive Arbeitsmarktpolitik kann den Zustand relativ geringer Arbeitslosigkeit nicht wiederherstellen, in dem sie ursprünglich entwickelt worden war um Engpässe auf dem Arbeitsmarkt zu überwinden.

Aber sie spielt nach wie vor eine wichtige Rolle und wir empfehlen, daß die EU sich energisch darum kümmern sollte sie zu erhalten und auszuweiten. Ihre Hauptorientierung sollte ein ehrgeiziger Angriff auf die zunehmenden Differenzierungen auf dem Arbeitsmarkt und die daraus folgenden Prozesse sozialer Ausschließung sein. Das erfordert eine energische rechtliche Verteidigung der grundlegenden sozialen Rechte, die gegenwärtig attackiert werden. Auch das bislang mehr verbale Bekenntnis zu Weiterbildung und Qualifizierung sollte wirksamer umgesetzt werden, ebenso wie die Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt für benachteiligte Gruppen wie arbeitslose Jugendliche und Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Wenn die EU diese Probleme erfolgreich angeht, würde sie damit einen beträchtlichen Beitrag zur Erhaltung, Erneuerung und fortschrittlichen Reform des europäischen Modells des Sozialstaates leisten, das in den meisten Ländern der EU nach dem 2. Weltkrieg eingeführt wurde und seit 15 Jahren unter Dauerangriff steht. In diesem Sinne sind die meisten Bestimmumgen der Sozialcharta von 1989 nach wie vor unerfüllt. Ihre Verwirklichung erfordert nicht nur eine Rückkehr zu mehr und schließlich Vollbeschäftigung. Sie erfordert auch, daß die dramatische Verteilung zugunsten der Gewinne, Zinsen und hohen Einkommen, die während der letzten beiden Jahrzehnte stattgefunden hat, beendet und dann umgedreht wird.

Theoretische und politische Probleme eine alternativen wirtschaftspolitischen Strategie

Wir haben die vorherrschende Wirtschaftspolitik in der EU kritisiert: sie ist theoretisch unbegründet und falsch, praktisch ist sie schädlich für die Mehrheit der Menschen, und sie polarisiert die Gesellschaft. Wir haben Vorschläge für eine alternative wirtschaftspolitische Strategie gemacht, die wir für sehr viel besser begründet halten. Wenn sie durchgeführt würde, würde das die EU auf den Weg zu Vollbeschäftigung, mehr sozialen Zusammenhalt und Gerechtigkeit bringen und damit den Übergang zu einem anderen Typ der wirtschaftlichen Entwicklung voranbringen. Das würde die Grundlage für eine engere Integration und Einheit zwischen den Ländern und Völkern Europas stärken. Natürlich ist es schwierig einen derartigen Wechsel des wirtschaftspolitischen Kurses zu erreichen. Weil wir uns dem simplizistischen Ansatz, daß der Markt alles ist, verweigern, sehen wir diese Schwierigkeiten. Sie bestehen erstens in der Tatsache, daß eine alternative Wirtschaftspolitik auf vielen Ebenen ansetzt und viele verschiedene Akteure hat.

Zweitens erkennen wir an, daß es aufgrund des komplexen Charakters vieler Probleme oh keine völlig zufriedenstellende Lösungen gibt, und daher haben unsere Vorschläge gelegentlich mehr tastenden Charakter.

Schließlich ist es eine Tatsache, daß eine andere wirtschaftspolitische Strategie nicht - ebensowenig wie die vorherrschende - eine Angelegenheit theoretischer Einsichten und Forschungen ist, sondern auch auf materiellen Interessen, sozialer Mobilisierung und politischen Kräfteverhältnissen beruht. Aus diesem Grunde arbeiten wir einerseits weiter an der technischen Verbesserung unserer Vorschläge; gleichzeitig aber bringen wir unsere unterstützenden Argumente in die sozialen Bewegungen ein. Sie haben begonnen, der Politik der andauernden Arbeitsplatzvernichtung und des Sozialabbaus Widerstand entgegenzusetzen und fordern eine gut begründete alternative wirtschaftliche und wirtschaftspolitische Vision für Europa.

Kontaktadresse in der Bundesrepublik Deutschland: Prof. Dr. Jörg Huffschmid, Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, Fachbereich 7 (BEGO), Universität Bremen, D-28359 Bremen, Tel. (49)(0) 421218 3072; Fax (49)(0) 421 218 4597 e-mail: Huffschmid@ewig. uni-bremen.de

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