Schlußwort des vorletzten Staatsratsvorsitzenden der DDR Egon Krenz (Auszüge)
Meine Damen und Herren,
alle Verteidiger haben auf Freispruch plädiert. Meine Verteidiger haben darüber hinaus formuliert: Alle in unserem Zusammenhang bislang und künftig Angeklagten sind freizusprechen. Ich vermute: Nachdem uns keine individuelle Schuld nachgewiesen werden konnte, würden auch Sie freisprechen wollen, wären Sie unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen. Sie aber müssen verurteilen. Dies ist nicht zuerst eine Kritik an Sie, meine Damen und Herren Richter. Sie haben diese Prozesse nicht erfunden. Sie sind aber nicht frei in Ihrer Entscheidung. Sie sind gebunden an Urteile des Bundesverfassungsgerichtes und des Bundesgerichtshofes. In diesen Dokumenten triumphiert leider nicht das Recht über die Macht. Nein, die siegreiche Macht rächt sich an den Vertretern der besiegten Macht. Deshalb stand das Urteil fest und hätte am ersten Tag des Prozesses verkündet werden können. Verantwortlich dafür sind die politischen Wortführer der Bundesrepublik. Sie haben die Prozesse gegen die DDR und ihre Politiker gewollt. Sie sind es auch, die die Justiz für politische Zwecke mißbrauchen. Der staatliche Vorsatz zur Verurteilung bestand vor Klageerhebung. Der Auftrag des damaligen Justizministers Kinkel zur Delegitimierung der DDR war auf dem 15. Deutschen Richtertag am 23. September 1991 erteilt worden. 1) [...]
Offensichtlich geht es darum, ein selbstgefälliges Propagandabild vom "DDR-Unrechtsstaat" zum Geschichtsbild zu erheben. Mögen andere es anders sehen. Ich empfinde die Prozeßwelle gegen die DDR und ihre Politiker als neudeutsche Variante McCarthyistischer Verfolgung. Die Bundesregierung fühlt sich dabei selbst an internationale Zusagen nicht mehr gebunden. Michail Gorbatschow hatte gemahnt, sich an den Konsens mit Bundeskanzler Kohl zu halten, DDR-Bürger wegen der Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Pflichten nicht zu verfolgen. Diese Mahnung wurde ausgeschlagen. Mein Antrag, den in den Kaukasus-Gesprächen zum wichtigen Zeugen gewordenen Dr. Kohl vor diesem Gericht um Aufklärung zu bitten, wurde abgelehnt.
Schließlich wurde das jahrhundertealte Rückwirkungsverbot von Strafgesetzen entgegen dem Völkerrecht der Vereinten Nationen und des Europarates sowie dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für Deutsche-Ost außer Kraft gesetzt. Ein seltener Vorgang in der Welt: Ein Bevölkerungsteil wird faktisch aus der Verfassung seines neuen Landes ausgegrenzt. Eine kurze Zusammenfassung meiner Prozeßerfahrungen könnte so lauten: DDR-Recht wurde entstellt, Völkerrecht mißachtet, der 2-plus-4-Vertrag blieb unbeachtet, der Einigungsvertrag wurde ausgehebelt, das Rückwirkungsverbot und das Gleichheitsgebot des Grundgesetzes verletzt, selbst das bundesdeutsche Verfahrensrecht wurde mißachtet. Ich sehe mich außerstande, diesem Verfahren Fairneß oder pflichtbewußte Feststellung der Wahrheit zuzusprechen. Zu solchen Mitteln der juristischen Verweigerung wurde gegriffen, seit klar war, daß die Vorwürfe der Anklage nicht treffen konnten. Keiner von uns ist - wie unterstellt wird - mit Täterwillen zum Töten ins Politbüro getreten. Keiner von uns hat je einen Beschluß gefaßt, der zum Töten aufgefordert hätte. Kein Dokument, das in das Verfahren eingeführt wurde, beweist, daß das Grenzgesetz durch Beschlüsse oder Befehle überlagert gewesen wäre. Keiner von uns hat einen Menschen umgebracht.
So wie ich meinerseits nicht behaupten werde, daß ein Regierender Bürgermeister von Berlin den Studenten Benno Ohnesorg getötet hat oder ein Bundeskanzler den FDJler Philipp Müller aus Essen oder der Bundessicherheitsrat Grenzgänger an der West- und Südgrenze der alten Bundesrepublik oder das CDU-Präsidium einen jungen Kurden in Hannover. Ich werde es nicht behaupten, obwohl ich weiß, daß diese Politiker in eine programmatische antikommunistische Militanz eingebunden waren, in der die Ermordung der Rosenbergs, Salvador Allendes oder Che Guevaras halt das Lebensrisiko "von Roten" und die Napalmisierung des vietnamesischen Volkes eben nur ein Kavaliersdelikt der USA war. Sollten aber meine Ankläger wissen wollen, was Vietnam mit der Mauer zu tun hätte, so gibt es tatsächlich nur einen einzigen Punkt: Die Großmächte steckten in beiden Fällen ihre Einflußsphären ab, und die Deutschen waren darin politisch eingebunden, ohne in das Geschehen bestimmend eingreifen zu können. Und wer mich dann fragt, wie die Führung der DDR das Grenzregime zwischen NATO und Warschauer Vertrag grundlegend hätte verändern sollen, der stelle gleich die Frage mit, wie die Bundesregierung im Falle ihrer überseeischen Großmacht in Bezug auf die Abenteuer in Vietnam, der kubanischen Schweinebucht oder auf Grenada einen verhindernden Einfluß hätte ausüben können, um den mörderischen Überfällen, die Millionen Menschenleben kosteten, Einhalt zu gebieten.
Ich bleibe bei dem, was ich hier vor Gericht gesagt habe: Es ist die größte Niederlage in meinem Leben, daß ich den Tod von Menschen an der Grenze nicht verhindern konnte. Jemand hat gesagt, die Hoffnung dieses Prozesses könnte nur in der Verhinderung von Bedingungen liegen, die - wo auch immer - erneut eine Mauer zwischen den Menschen aufrichten. Das setzt voraus, daß man diese deutsche Lektion vorurteilsfrei lernt. Deshalb macht es auf beiden Seiten keinen Sinn, die tragischste Ausuferung des Kalten Krieges, den Tod von Menschen in den Verstrickungen dieser Eiszeit, für einen moralischen Endsieg zu instrumentalisieren, Nur wer das nicht tut, wird ehrliche Trauer über alle Opfer des Kalten Krieges empfinden können. Mir wird unterstellt, ich mache die Umstände für mein Tun verantwortlich. Indem ich Phänomene wie den "Kalten Krieg" oder die "Systemauseinandersetzung" benenne, würde ich eigene Verantwortung ablehnen, heißt es. Wer dies sagt, hat mir nie zugehört oder versteht mich absichtlich falsch. Zunächst: niemand handelt jenseits von Umständen. In der Geschichte handeln immer Menschen mit Namen und Gesicht.
Aber sie treffen ihre Entscheidungen unter konkreten, von ihnen vorgefundenen Bedingungen. Die Qualität des Handelns kann sehr verschiedener Natur sein. Ich habe bewußt gehandelt. Ich war kein Trittbrettfahrer. Ich stand mit am Steuer. Ich mache mich auch rückwirkend nicht zum kleinen Licht. Die DDR war meine Sache. Der sozialistische Versuch auf deutschem Boden war meine Sache. Vom Bündnis mit der Sowjetunion war ich überzeugt. Ich war weder Fatalist noch war ich eine Marionette. Ich war und bin Sozialist. Gerade weil ich zu meinem Leben in der DDR stehe, lasse ich mich von niemandem als Monster erklären, welches um abgehobener Machtgelüste willen Tote verursacht oder billigend in Kauf genommen haben soll. Wenn ich die Härte der Systemauseinandersetzung beim Namen nenne, heißt dies nicht, Verantwortung zu verdrängen, sondern Motive zu erhellen, warum ich meine Verantwortung wahrnahm. Den Kalten Krieg, den beide Seiten gegeneinander führten, die Militärbündnisse, denen beide deutschen Staaten angehörten, das Besatzungsrecht, das zum Teil bis 1990 in beiden deutschen Staaten bestand - habe nicht ich erfunden. Die Tatsachen erlauben keine einseitige Verantwortungszuweisung an die DDR und ihre Politiker.
Die Selbstgefälligkeit und Kritiklosigkeit, mit der westdeutsche Politiker mit ihrer und der bundesdeutschen Vergangenheit umgehen, ist charakterlos. Ich bleibe dabei, was ich zu Prozeßbeginn gesagt habe: Es war keine Feigheit, es war keine Angst vor persönlichen Nachteilen, keine Furcht vor dem übermächtigen Generalsekretär, nicht die Dominanz einzelner Politbüromitglieder oder eines "Politbüros im Politbüro", auch nicht die "Zurückhaltung vor einer Palastrevolution". Es war einzig und allein mein Wissen darüber, daß jede Veränderung an der Grenze zwischen NATO und Warschauer Vertrag Kriegsgefahr in sich barg. Dies hat mich davon abgehalten, im Politbüro unrealisierbaren Gedanken nachzuhängen. Es ist wahr, ich stand in besonderer Verantwortung für die Geschicke der DDR. Ich war in meine Ämter nicht auf den Pfaden brauner Wegweiser gelangt. Ich habe aufrichtig eine neue, antifaschistische, sozialistische Gesellschaftsordnung gewollt und das bessere Deutschland stets in der DDR gesehen. Ich trage an meiner Mitverantwortung für den Niedergang unserer Republik im Osten Deutschlands sehr schwer. Ich habe geduldet, daß sozialistische Ideale entstellt wurden, daß persönliche Freiheiten in die Abhängigkeit der ökonomischen und - das hängt zusammen - politischen Beschränkungen gebracht wurden. Ich habe die sozialen Menschenrechte für existenzwichtiger gehalten als die politischen. Die Bundesrepublik handhabt es heute entgegengesetzt und das heißt: nicht weniger falsch. In der DDR lebten wir in einer Gesellschaft, die niemals geduldet hätte, daß Jugendliche von der Schulbank in die Arbeitslosigkeit entlassen werden oder Menschen als "nich-mehr-vermittelbares" Strandgut auf Arbeitsämtern ihre Würde verlieren oder Alte befürchten müssen, früher zu sterben, weil sie arm sind. Die DDR spielte - wie ihrerseits die Bundesrepublik auch - eine nicht selten ohmnächtige Rolle im Kalkül der Großmächte. Die DDR war souverän. Ich habe nie etwas anderes behauptet.
Aber wir konnten es nicht in allen unseren Entscheidungen sein. Das betraf die Grenze zur NATO und auch die Politik der DDR gegenüber der alten Bundesrepublik. Beides war für die Sowjetunion wegen ihrer Erfahrungen lebenswichtig. Es war eine Lehre aus dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion. Die UdSSR verlegte ihre vorderste Verteidigungslinie von der Oder an die Elbe. Sie wollte nie wieder Opfer eines Überraschungsangriffs werden. Ich hatte dafür volles Verständnis. US-Präsident Kennedy hatte es 1961 auf den Punkt gebracht: Die Schließung der Grenze "zeigt eine grundsätzliche sowjetische Entscheidung, die nur Krieg verändern könnte." 7) Keine Bundesregierung von Adenauer bis Kohl hat deshalb jemals in Verhandlungen gefordert, das Grenzregime der DDR abzuschaffen. Im Bewußtsein dieser Realität hat Bonn vielmehr die Verträge mit Moskau, Prag, Warschau und 1972 den Grundlagenvertrag mit der DDR abgeschlossen. Und im Bewußtsein, daß der Status quo durch keinen der deutschen Staaten verändert werden konnte, hatten Kanzler Kohl und Staatsratsvorsitzender Honecker am 12. März 1985 vereinbart, daß die Unverletzlichkeit aller Grenzen in Europa eine grundlegende Bedingung für den Frieden ist. 8) Gleichwohl wurden Signale der Verbesserung an der Grenze anerkannt. Franz-Josef Strauß attestierte Erich Honecker 1983 und 1987 Korrektheit an der gemeinsamen Grenze. Er unterstrich zugleich daß die Grenze zwischen der DDR und der BRD nicht so sein kann wie die zwischen Bayern und Österreich. 9) [...]
Bundeskanzler Kohl widersprach Erich Honecker nicht, als der am 7. September 1987 im kleinen Kreis erklärte, daß es keinen "Schießbefehl" gebe, hingegen "die Regelungen im militärischen Sperrgebiet beachtet werden müßten". Er erwartete auch nicht, hatte Herr Kohl gesagt, "daß sich heute oder morgen etwas verändert". 10) Sollte politische Unterlassung tatsächlich ein strafrechtlich relevantes Delikt sein, so wurde es damals schon gesamtdeutsch begangen.
Aber es war wohl doch einfach nur Realismus.
So wie Realitätssinn und Sicherheitspartnerschaft der Tenor des Telefongesprächs mit Bundeskanzler Kohl waren, als wir während meiner Amtszeit als Staatsratsvorsitzender Deeskalation der Lage an der Grenze vereinbarten und bei Grenzöffnung am 9. November 1989 auch praktizierten Realitätssinn ist es andererseits nicht, wenn die Anklagebehörde behauptet, ich hätte die Rechtspflicht "zur Abschaffung des Grenzregimes" gehabt. Wie schon ausgeführt: In dieser Frage war die DDR eben nicht souverän. Das habe nicht ich in die Welt gesetzt. Das hat der langjährige UdSSR-Botschafter in der DDR Abrassimow dem Gericht mitgeteilt. Das haben die höchsten noch lebenden Militärs der Sowjetunion und zwei Oberkommandierende der Vereinten Streitkräfte des Warschauer Vertrages dem Gericht schriftlich bezeugt. Es ist nicht meine Schuld, wenn diese Zeitdokumente sowjetischer Deutschlandpolitik der Öffentlichkeit unterschlagen werden. Als die Grenze 1961 unter militärische Kontrolle genommen wurde, um diese Zeit wurden die über uns urteilenden Richter geboren. Das setzt ihre Verantwortung für die geschichtliche Aufarbeitung der zu beurteilenden Zeitumstände besonders hoch an. [...]
Die Grenze durch Deutschland und Berlin war zur Hauptachse des Kalten Krieges geworden. Sie hatte Ausmaße angenommen, die von den sozialistischen Ländern als nicht hinzunehmende Bedrohung empfunden wurde. Deshalb war der Mauerbau eine Entscheidung der Warschauer Vertragsstaaten und resultierte eindeutig aus dem weltpolitischen Kalkül und der militärischen Strategie der UdSSR. Für die beiden Supermächte war die Mauer nach den verbalen Atomkriegsattacken beim Wiener Treffen ihrer höchsten Repräsentanten das politisch "kleinere Übel". Nachträglich soll nach dem Willen von Geschichtsfälschern das "kleinste Übel" der Supermächte nun das "größte Übel" der DDR sein, für das willkürlich DDR-Bürger auf die Anklagebank gesetzt werden.
Obwohl die Blockgrenze quer durch Deutschland wegen ihrer Gefahr für die Existenz der Menschheit wohl einmalig in der Weltgeschichte war, raubte der Bau der Mauer den Großmächten nicht einmal die Nachtruhe, als er bekannt wurde. Sie war eine deutschdeutsche und eine Ost-West-Realität. Und es galt bis zum Wegfall der Bedingungen, die zu ihrer Entstehung geführt hatten, den Kurs in Richtung Deeskalation zu steuern. Dazu habe ich bis hin zur friedlichen Maueröffnung beigetragen. Die Grenzöffnung verlangte in den entscheidenden Stunden und Minuten des 9. November 1989 entgegen der Besserwisserei von Kommentatoren auf den sicheren Bänken nachträglicher Geschichtsbetrachtung eine sehr komplizierte und sofortige Gewissensentscheidung. Einen "Schießbefehl", den hat es nie gegeben.
Aber einen Befehl zum Nichtschießen auf Demonstranten und auch an der Grenze, den gab es tatsächlich. [...]
Diese Prozeßkaskade hat zweifellos ihre Dramaturgie. Zuerst die rechtsstaatlich nicht hinzunehmende und mich mehr als mein eigener Prozeß belastende Bestrafung der Grenzsoldaten. Um dann, als der gewünschte Ruf erschallte "Die Kleinen hängt man, die Großen läßt man laufen", den Racheengel in Richtung politische und militärische Verantwortungsträger fliegen zu lassen. Da ist er nun angekommen. Ich würde mich über einen Freispruch schämen, solange die Unrechtsurteile gegen die Grenzsoldaten und meine verhafteten Freunde nicht aufgehoben sind. Man kann die wirkliche Einheit in Deutschland vielleicht herbeimoralisieren. Man kann sie - wie sich zeigt - schlecht herbeifinanzieren. Herbeikriminalisieren kann man sie jedenfalls nicht! [...]
An die höchstrichterliche Instanz appelliere ich, im Interesse der Autorität des Grundgesetzes und der Intaktheit des Einigungsvertrages das Rückwirkungsverbot wieder herzustellen und die juristische Verfolgung ehemaliger DDR-Bürger wegen ihrer verfassungsmäßig garantierten politischen Tätigkeit aufzugeben. Was Deutschland im Jahre 7 nach der Vereinigung braucht, wäre eine Magna Charta finitum als Urkunde des Schlußstrichs unter die deutsche Spaltung. Ich rede keinem politischen Schlußstrich das Wort. Ich wende mich gegen den politischen Mißbrauch der Justiz. Erst das wurde einen offnen und ehrlichen Dialog über die Geschichte beider deutscher Staaten ermöglichen. Wie immer das Gericht urteilt: Ich werde mich an jenes Urteil halten, das mir der Stolz auf Lebensleistungen in der DDR und zugleich das Eingeständnis meiner Mitschuld am Scheitern der DDR auferlegen. Ein Krimineller jedenfalls bin ich nicht. Meine politisch-moralische Verantwortung für das Scheitern der DDR steht auf einem anderen Blatt und in einem nichtjuristischen Kapitel, das nicht die Justiz zu schreiben hat. Und um auch das ganz klar zu sagen: Ich bitte nicht um Milde oder Gnade. Zudem ist meine Ansicht bekannt, daß meine Angelegenheit, wenn überhaupt, vor ein internationales Gericht gehört. [...]