Zbigniew Brzezinski, der frühere Sicherheitsberater des US-Präsidenten Carter, sieht in dem bereits von Bundeskanzler Kohl nach seinem Besuch bei Boris Jelzin angekündigten Dreiertreffen mit dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac nächstes Jahr in Jekatarinenburg eine "entweder verhängnisvolle oder lächerliche Pose". Deren Ergebnis werde es sein, die Briten auszugrenzen, die Feindseligkeit der Polen hervorzurufen und die Amerikaner zu der Frage zu veranlassen, ob sie es lieber ignorieren oder sich darüber amüsieren sollen. 1) Initiator der so aus der Taufe gehobenen Troika war Boris Jelzin, der beim Gipfeltreffen des Europarats Anfang Oktober in Straßburg seine Pläne bekanntgab. Der Vorschlag wurde von Jacques Chirac unverzüglich aufgegriffen, der Bundeskanzler entschloß sich schließlich zur Mitwirkung, um - so die deutsche Presse - das Schlimmste zu verhindern. 2) Und wie das Schlimmste aussehen könnte, läßt sich gewiß aus der Interessenlage der Protagonisten erschließen.
Es fragt sich nun: Kehren wir in die frühen 60er Jahre zurück? Strebt Paris danach, an den unter den Prämissen des Ost-West-Konflikts gescheiterten Plan anzuknüpfen und auf das besondere Verhältnis zu Moskau gestützt ein Europa vom Atlantik zum Ural zu schaffen, um die amerikanische Vormachtstellung abzubauen? Nach dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung feierte in der Tat in Paris der Neo-Gaullismus fröhliche Urstände. Fran?ois Mitterrand setzte sich für die Herausbildung einer europäischen Verteidigungsidentität außerhalb des Bündnisses ein, scheiterte jedoch am Widerstand der europäischen Partner; sein Nachfolger Chirac versuchte später, nach dem Motto des "Wandels durch Annäherung", die amerikanische Vormachtstellung von innen auszuhöhlen. Auch wenn sich Chirac auf den wiederhergestellten Konsens mit den europäischen Partnern stützen konnte - zumindest solange das Stichwort der "Europäisierung" mehrere Lesarten zuläßt - er scheiterte aber im neu entfachten Konflikt mit Washington um die Besetzung des Süd-Kommandos der NATO am erbitterten Widerstand der Amerikaner. Dies nahm sein sozialistischer Premierminister zum Anlaß, die Politik des "Wandels durch Annäherung" für gescheitert zu erklären und den ohnehin nach der vorgezogenen Parlamentswahl geschwächten Staatspräsidenten von seinen Prärogativen in der Definition der Außenpolitik gleichsam zu entmachten. Durch die "russische Allianz" könnte der so in die Bredouille geratene Staatspräsident die Initiative in der Außenpolitik zurückgewinnen. Die Allianz könnte aber auch - in der pragmatischen Tradition des Gaullismus - die neue Schiene sein, auf der man versucht, die USA zurückzudrängen. Frankreich und Rußland haben objektiv konvergierende Interessen.
Zwar war Jacques Chirac auch in der Frage der Ost-Erweiterung von der Linie seines Vorgängers abgerückt, die sich von einer offenen Ablehnung der als Verfestigung der US-Hegemonie gedeuteten Erweiterung zu einer eher attentistischen Zurückhaltung entwickelt hatte. Sie blieb jedoch vom unterschwelligen Mißtrauen gegenüber den amerikanischen Bestrebungen und von der Mißbilligung gegenüber den atlantischen Präferenzen der osteuropäischen Länder geprägt.
Doch wenn er auch in der Erkenntnis der Tatsache, daß Frankreich kaum in der Lage sein würde, den mittel-osteuropäischen Ländern den Beitritt zur NATO zu verweigern, auf die entgegengesetzte Strategie der optimalen Erweiterung umschwenkte, dürfte "seine Haltung zu diesen Grundfragen nicht wesentlich anders als die seines Vorgängers sein". 3) Die von Rußland zum Teil vehement vorgetragenen Bedenken gegen die NATO-Osterweiterung fanden auch deshalb in Paris stets besondere Resonanz. Man war einerseits über die Auswirkungen einer raschen Osterweiterung auf ein politisch noch instabiles, von Einkreisungsängsten erfülltes Rußland besorgt.
So hatte Chirac stets auf die Notwendigkeit insistiert, Moskau an den Debatten über die künftige europäische Sicherheitsarchitektur zu beteiligen. Andererseits kamen die russischen Einwände Paris auch nicht völlig ungelegen. Es geschah sicherlich nicht rein zufällig, daß Jelzin ausgerechnet beim Besuch Chiracs in Moskau im Sommer 1997 sein Konzept der europäischen Sicherheit vorstellte, das sich mit dem Ziel einer Zurückdrängung der Amerikaner aus Europa und der Herausbildung einer in enger Verbindung mit Moskau stehenden autonomen europäischen Sicherheitsstruktur ziemlich nahtlos ins französische Konzept eines "Europas vom Atlantik zum Ural" einfügt. 4) Mit der Stigmatisierung der "US-Hegemonie" ist für einen gemeinsamen Nenner schon gesorgt. Neuauflage des Elysée-Vertrags?
Es mag ja sein, daß der Gedanke einer "Gegenmachtbildung" Paris nicht völlig fremd ist, da man ohnehin in geopolitischen Kategorien zu denken gewöhnt ist. Riskiert Bonn, sich nolens volens mit einer Alt Neuauflage des Elysée-Vertrags konfrontiert zu sehen, dessen sicherheitspolitische Implikationen dem Bundestag seinerzeit so alarmierend erschienen, daß er dem Vertrag prompt eine Präambel verpaßte, die den sicherheitspolitischen Vereinbarungen den Boden entzog und sie de facto in Klammern setzte? Wiederum hängt die Verwirklichung politischer Zielsetzungen weniger von Intentionen als von der Handlungsfähigkeit ab. Hat Frankreich denn die Mittel einer Politik der Stärkung Europas gegen Amerika - wie die deutsche Presse und auch Brzezinski fürchten? Es war Frankreich, daß - durchaus in gaullistischer Tradition - verschiedene Wege probierte, um das Bündnis und die Amerikaner auszubooten. Dies zeigte sich u.a. in der französischen Verweigerung einer "out-of-area"-Kompetenz für die NATO, der Standortbestimmung des europäischen Pfeilers und nicht zuletzt in der Bildung des Eurokorps, mit der Frankreich das Ziel verfolgte, "die WEU als rivalisierende Struktur zur NATO zu nutzen". 5) Später hat Jacques Chirac dann angesichts des Mißerfolgs versucht, im Tauschgeschäft mit Washington die Annäherung Frankreichs an die Militärstruktur des Bündnisses als Gegenleistung zur amerikanischen Selbstbeschränkung auszuhandeln. Auf diese Weise wollte er Frankreich zum Hauptpartner der USA in Europa machen und gleichzeitig seinen Führungsanspruch über den europäischen Pfeiler aufbauen, was sich beides - ebenso wie die früheren Ambitionen - nicht verwirklichen ließ. Vielmehr geriet Frankreich durch den Hegemonialkampf mit Washington, der sich paradigmatisch am Tauziehen um die Besetzung des Süd-Kommandos in Neapel festmachte, erneut in die Isolation und büßte seine Handlungsfreiheit ein. Ohne eine europäische Machtbasis ist aber auch die "russische Schiene" wertlos. Und ohne den deutschen Schulterschluß läßt sich keine europäische Machtbasis gewinnen.
Renaissance eines versunkenen Staatensystems?
Im spannungsreichen Dreiecks-Verhältnis Paris-Washington-Bonn hat Deutschland sicherlich die Schlüsselposition inne. Eine europäische Machtbasis "gegen Amerika" ist ohnehin nicht zu gewinnen. Auch ist die Einbindung Rußlands in die europäische Sicherheitsarchitektur im höchsten Maße erwünscht. Die NATO-Osterweiterung hat Moskau zweifellos brüskiert, seine Einkreisungsängste verstärkt - wie subjektiv diese auch immer sein mögen. Die diplomatische Niederlage, der vor Augen geführte Verlust des Status der ehemaligen Supermacht, die Angst vor Ausgrenzung müßten durch Vernetzung wieder wettgemacht werden. Nicht erneute Konfrontation, sondern Kooperation ist der Imperativ der europäischen Sicherheit. Rußland an der Schwelle zwischen Europa und Asien darf nicht in die Isolierung getrieben werden. Die Troika - selbst wenn sie sich in rein kosmetischen Gipfeltreffen erschöpfen sollte - vermag einer Ausgrenzung Rußlands entgegenzuwirken.
Seit der deutschen Einheit und der Wiedererlangung der deutschen Souveränität kehrten in Frankreich Befürchtungen eines deutsch-russischen Zusammengehens wieder, die in der Vorstellung eines ewigen deutschen "Drangs nach Osten" gewiß manchmal abstrus anmuten, jedoch die Renaissance der geopolitischen Kategorien des versunkenen Staatensystems begünstigen. Die Balkan-Krise hat dies trotz aller GASP - demonstriert. Die Troika könnte auch in dieser Richtung relativierend wirken. Seit der Wiedervereinigung fürchtet Paris außerdem die Rückgewinnumg der früheren deutschen Einflußzonen in Mitteleuropa und daß auch Rußland bald in die deutsche Einflußsphäre gerät. Deutsches Engagement löst nicht nur die alten, in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts erworbenen Reflexe aus, sondern tangiert französische Ambitionen auf die Führungsrolle in der GASP unmittelbar. Und es war schließlich die französische Angst vor einem zunehmenden deutschen Gewicht hinsichtlich der Definition der Gemeinsamen Außenpolitik, die die Amsterdamer Konferenz über die Stimmgewichtung bei den Abstimmungsverfahren stolpern ließ.
So wie die regelmäßigen deutsch-französisch-polnischen Treffen ("Weimarer Dreieck") dazu beitragen, die Unsicherheiten, gar Unterstellungen in Bezug auf Mitteleuropa ins rechte Licht zu rücken, könnte die Troika auch Paris dazu verhelfen, sich von seinem Mißtrauen gegenüber den deutsch-russischen Beziehungen zu verabschieden. Auch aus deutscher Sicht - vor dem Hintergrund der Emanzipation der deutschen Außenpolitik von den Fesseln der Nachkriegsära erscheint es sinnvoll, dem von Paris ohnehin angestrebten Dialog mit Moskau jede Spur der Neuauflage einer Rückversicherungsallianz zu nehmen. Mit dem Zusammenbruch der Nachkriegsordnung und der Rückkehr Deutschlands als handlungsfähige Macht auf die internationale Bühne - trotz aller europäischen Einbindungsmechanismen - drohen die unter den Prämissen der bipolaren Weltordnung und des Kalten Krieges zurückgedrängten geopolitischen Kategorien wie ein altes Sediment wieder aufzutauchen. Deshalb ist die Integration der ehemaligen Hauptakteure der europäischen Politik sei es auch in einem vor allem symbolischen Bündnis - so wichtig.
Gewiß geht es nicht darum, die Spiele der europäischen Kabinettspolitik nachzustellen. Europa ist nicht mehr das Zentrum der Welt, und vor dem Hintergrund der Globalisierung erscheinen die alten europäischen Schemata von Gleichgewichtspolitik einfach obsolet. Einbinden, Vernetzen sind dagegen die Zauberworte der Zeit nach 1989/90. Je vielschichtiger, desto besser.