Umfassende Wechsel innerhalb der Regierung sind in Rußland, wie übrigens auch in westlichen Demokratien, nichts ungewöhnliches an sich. So wurden erst im Februar die Minister für Atomenergie, Transport und Bildung ausgetauscht. Wesentlich umfangreicher und einschneidender verlief dagegen die Kabinettsumbildung im März 1997. Damals sollten Anatolij Tschubais, ehemaliger Vorsitzender der Privatisierungsbürokratie sowie einstiger Erster Stellvertretender Premierminister, und Boris Nemzow, ehemals Gouverneur in der Musterregion Nischnij Nowgorod, dem Technokraten Tschemomyrdin schwungvoll und unorthodox unter die Arme greifen. Die nun, ein Jahr später, verfügte Entlassung Tschernomyrdins sowie die komplette Auswechslung der Administration verlangen hingegen tiefe Beweggründe und eine gründliche Erklärung. Jelzin jedoch teilte der Öffentlichkeit nichts dergleichen mit. So verbleiben im Endeffekt zwei Deutungsmöglichkeiten: Nach Variante A wollte der Präsident den von einem Mißtrauensvotum bedrohten Premier aus der Schußlinie der Kritiker entfernen und dessen Absetzung durch die Deputierten zuvorkommen. Gedanklicher Hintergrund ist dabei, daß der von der Duma geforderte Rechenschaftsbericht der Regierung anstand: Am 9. April sollte Tschernomyrdin vorstellen, was er zur Begleichung der Lohnschulden unternommen hatte, die mittlerweile auf 54 000 Mrd.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.