Bild: Slobodan Milošević und Radovan Karadžić bei den Bosnien-Friedensverhandlungen in Genf, 24.1.1994 (IMAGO / Allstar)
Es herrschte keine Freude bei der bosnisch-herzegowinischen Regierungsdelegation am 22. November 1995 auf dem Wright-Patterson-Luftwaffenstützpunkt in Dayton. Eben hatte sie dem Friedensabkommen mit der Bundesrepublik Jugoslawien, die noch aus Serbien und Montenegro bestand, und Kroatien zugestimmt, doch sie fühlte sich betrogen. Kurz nach der Unterzeichnung des Abkommens sagte der bosnische Präsident Alija Izetbegović: „Meinem Volk sage ich, das ist womöglich kein gerechter Frieden. Aber er ist gerechter als die Fortsetzung des Krieges. In der derzeitigen Situation und der aktuellen Weltlage konnte kein besserer Frieden erreicht werden.“
Westliche Beobachter empfanden diese Sätze als undankbar. Hatte man doch auf dem Balkan nach einem vier Jahre dauernden Blutvergießen dem Schlachten ein Ende bereitet. Besonders die US-Regierung unter Präsident Bill Clinton zeigte sich stolz auf das Ergebnis. Wozu die Europäer nicht in der Lage gewesen waren, vollbrachte die einzig verbliebene Weltmacht jener Tage. Doch das Schweigen der Waffen war gleichzeitig eine Abkehr von liberalen Werten, von international vereinbarten Menschenrechten. Der Dayton-Vertrag, als Provisorium gedacht, läutete damit das Ende des kurzen Aufschwungs des internationalen Rechts ein, der gerade erst mit dem Jugoslawientribunal von 1993 gefeiert worden war und 1998 noch zur Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs geführt hatte.
Heute ist wenig von den damaligen Hoffnungen auf eine menschenrechtsbasierte internationale Ordnung geblieben, stattdessen lässt sich eine direkte Verbindung zwischen dem bosnischen Schrecken der 1990er Jahre und dem Niedergang der liberalen Demokratien ziehen. Zwar mag das Erstarken der extremen Rechten in Europa und den USA viele Ursachen haben, aber deren ideologische Grundlagen und politische Methoden wurden damals eingeübt: Auf der Seite Serbiens und Kroatiens kamen in den 1990er Jahren faschistoide Kräfte zusammen, um für die Blut-und-Boden-Ideologie der kommenden Zeit einzustehen, und der Vertrag von Dayton beendete zwar den Krieg, legitimierte aber zugleich viele Aspekte dieser Ideologie.
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien sind vielen nur vage als regionaler Konflikt im Gedächtnis geblieben. Daher lohnt ein kleiner Rückblick: Der nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Partisanenführer Josip Broz Tito gegründete Vielvölkerstaat Jugoslawien zerfiel im Juni 1991. Bereits seit seiner (Neu-)Gründung 1945 hatte der Staat unter der Einparteienherrschaft der Kommunistischen Partei Jugoslawiens (KPJ) gelitten, die jegliche Demokratisierungsprozesse erstickte und sich den sozialen Frieden im Lande mit Hilfe von Krediten in Ost und West erkaufte. Kurz nach Titos Tod 1980 brachen die lange unterdrückten Konflikte zwischen den verschiedenen Flügeln innerhalb der KPJ auf, auch weil es dem Staat an Geld mangelte.
Schnell stellte sich die Frage nach den Schuldigen für die Misere. Allen voran fand die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste die Antwort darauf: Es sei der Multikulturalismus, der angeblich Serbiens Entwicklung hemmte. Ein Topos, der damals auch in den USA über die eigene wirtschaftliche Schwäche zu hören war. Dort hieß es, dass die ethnisch homogenen Staaten Japan und Deutschland ökonomisch reüssierten, während die Vereinigten Staaten aufgrund ihrer ethnisch starken Durchmischung zurückfielen. Ihre Vollendung fand die These Jahre später in Samuel P. Huntingtons Buch „Kampf der Kulturen“, in dem er die Meinung vertritt, dass ein multikulturelles Land politisch nicht gut organisiert sein könne.[1]
Der Plan des Slobodan Milošević
In der Endphase Jugoslawiens tauchte ein Politiker auf, der diese Ideen benutzte, um das Land entweder zu beherrschen oder zu zerstören. Dieser Mann hieß Slobodan Milošević. Er hebelte die auf Konsens ausgerichteten Institutionen aus und besiegelte damit schließlich das Ende des gemeinsamen Staates.
Die Jugoslawische Föderation bestand aus den sechs Republiken Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Montenegro, Mazedonien und Serbien sowie den autonomen Provinzen Vojvodina und Kosovo. Jede Republik und Provinz verfügte über eine Stimme im Bundespräsidium, dem höchsten Staatsorgan, in dem mit Mehrheit abgestimmt wurde. Miloševićs Plan war einfach: Er würde in den einzelnen Republiken und Provinzen eigene Gefolgsleute installieren und so die Stimmenmehrheit im Bundespräsidium erzielen. Dabei bediente er sich sogenannter Volksmeetings: Kundgebungen, bei denen – angeblich spontan – empörte Bürger gegen die „unpatriotischen Bürokraten“ der Provinzen protestierten. Tatsächlich handelte es sich um professionell geplante Massenveranstaltungen. Das International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia (ICTY) dokumentierte im Verfahren gegen Milošević, wie Busse organisiert, Transparente verteilt und Reden koordiniert wurden.[2] Diese inszenierten Proteste sollten die Republikführungen zum Rücktritt zwingen, damit Milošević anschließend seine Getreuen einsetzen konnte. So geschehen in der Vojvodina und dem Kosovo (1988) und Montenegro (1989). Mit der Stimme Serbiens besaß er im Jahre 1990 im Bundespräsidium bereits vier Stimmen. Somit fehlte ihm nur noch eine, um unumschränkt herrschen zu können. Dass diese Aussichten die anderen Republiken in Schrecken versetzten und sie über die Loslösung vom jugoslawischen Bund nachdenken ließen, ist verständlich.
Die fünfte Stimme wollte Serbiens neuer starker Mann von Bosnien-Herzegowina erhalten, weil mit Bogić Bogičević ein Serbe das Land im Bundespräsidium vertrat. Am 12. März 1991 ließ Milošević die Republikführungen in einem Militärbunker in der Nähe Belgrads zusammenkommen, um darüber abzustimmen, den Ausnahmezustand auszurufen. Es war klar, dass Milošević, der die jugoslawische Volksarmee an seiner Seite gehabt hätte, mit Hilfe des Ausnahmezustands zum Diktator geworden wäre. Doch Bogičević widersetzte sich und verhinderte eine Mehrheit für Milošević.
Der doppelte Angriff auf Bosnien
Nach dem gescheiterten Coup entschied sich Milošević, ein neues großserbisches Reich mit Gewalt aufzubauen. Dass Slowenien, Kroatien, Mazedonien (1991) und Bosnien-Herzegowina (1992) ihre Unabhängigkeit erklärt hatten und schnell international anerkannt wurden, focht ihn nicht an. Er begründete seine Idee eines Großserbiens mit dem vermeintlichen historischen Anspruch des serbischen Volkes, in einem Staat zu leben. Er leitete daraus das Recht ab, alle Gebiete, die von Serben bewohnt waren – allen voran die entsprechenden Regionen in Kroatien und Bosnien-Herzegowina – an das serbische Mutterland auch mit Gewalt anschließen zu dürfen.
Im ersten Zug ließ Milošević fast ein Drittel Kroatiens besetzen, das später trotzdem zu seinem Verbündeten wurde. Im April 1992 wandte er seine Armee gegen Bosnien-Herzegowina. Mit dem kroatischen Präsidenten und bekennenden Nationalisten Franjo Tudjman einigte er sich, Bosnien zu teilen.[3] Somit sah sich Bosnien einer doppelten Aggression ausgesetzt.
Laut verschiedenen Gerichtsurteilen des Den Haager Jugoslawientribunals griff Serbien (zu jenem Zeitpunkt noch als Bundesrepublik Jugoslawien) mit einer Streitmacht von 100 000 Soldaten, 700 Panzern, 1000 gepanzerten Fahrzeugen, 800 Artilleriegeschützen sowie mehreren hundert Flugzeugen und Hubschraubern das praktisch unbewaffnete Bosnien an.[4] Das Land hatte zu dem Zeitpunkt keine Armee. Was folgte, war kein Krieg, denn Miloševićs Soldaten stießen kaum auf Gegenwehr. Innerhalb weniger Wochen kontrollierte Milošević fast zwei Drittel des Landes. Dabei übte er eine Schreckensherrschaft über die nichtserbischen Bewohner aus. Morde, Vergewaltigungen, Plünderungen waren an der Tagesordnung. Die paramilitärischen Einheiten, die allesamt aus Belgrad nach Bosnien geschickt und vom serbischen Geheimdienstchef Jovica Stanišić befehligt wurden, gingen besonders grausam vor. Sie errichteten hunderte Lager, in denen die nichtserbische Bevölkerung gefoltert, vergewaltigt und zu Tausenden ermordet wurde. Die Serbische Demokratische Partei (SDS) in Bosnien, die Miloševićs Handlanger Radovan Karadžić führte, etablierte eine Art Apartheidregime.
So verlautbarte die SDS in der Gemeinde Prijedor im Radio, dass alle Nichtserben weiße Armbänder zu tragen und ihre Häuser mit einem weißen Laken zu markieren hätten. Tausende Muslime, Kroaten und Roma wurden dort erschossen und in Massengräbern verscharrt. Moscheen, Islamschulen und katholische Kirchen ließ der SDS in den von ihm beherrschten Gebieten ausnahmslos zerstören. Wie das Den Haager Gericht feststellte, waren die massenhaften Zerstörungen, die Millionen Geflüchteten, das Lagersystem sowie die zahlreichen zivilen Opfer nicht eine Folge des Krieges. Sie waren vielmehr Mittel, das beabsichtigte Ziel des Krieges – ethnisch reine Territorien – zu erreichen.[5]
Vom Produkt der Unvernunft zum Vorbild
Damals galt Milošević im Westen vielen als ein Produkt der Unvernunft des jugoslawischen Vielvölkerstaates. Doch heute erscheint Milošević mehr als der frühe Vertreter einer Ära, die jetzt in Budapest, Rom und Washington angekommen ist. Seine Methoden werden von rechtsextremen oder faschistischen Bewegungen überall in der Welt angewandt und sind hochmodern. Das Recht wird durch Willkür ersetzt. Anführer, die behaupten, im Namen des Volkes zu handeln, ersetzen Tatsachen durch alternative Fakten.
In jenen 1990er Jahren schien sich der Westen dagegen noch in einem Siegesrausch zu befinden, und viele träumten von einem Ende der Geschichte, wie es Francis Fukuyama populär gemacht hatte. Sie glaubten, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit über den gesamten Erdball ausbreiten würden. Die Völker Jugoslawiens dagegen verrannten sich anscheinend in einem Krieg, der sich aus einem unerklärlichen archaischen Hass nährte, der im aufgeklärten Westen nur schockiertes Kopfschütteln hervorrief. Nur wenige erkannten, dass die Werte des Westens in Bosnien zentral angegriffen wurden.
Bosnien stellte in Jugoslawien einen besonderen Fall dar und war keineswegs ein Jugoslawien im Kleinen. Im Großteil des Landes lebten verschiedene Gesellschaften in ihren jeweiligen Republiken nebeneinander her. Sie wussten nicht viel übereinander und es war ihnen auch kaum bewusst, dass in Bosnien eine gänzlich eigene Kultur des Zusammenlebens bestand. So verstanden weder Milošević noch Tudjman, warum es in Bosnien nicht schnell möglich sein sollte, Kroaten, Bosniaken und Serben voneinander zu trennen und so das Land unter Serbien und Kroatien aufzuteilen. In Bosnien gab es eine Kultur der Verschiedenheit, die täglich gelebt wurde.
Die bosnische Kultur der Vielfalt
Man muss die Verhältnisse in diesem Land nicht romantisieren oder idealisieren, doch es bestand eine besondere bosnische Art, die in Jahrhunderten gewachsen war und auch durch zwei Weltkriege nicht vernichtet werden konnte. Deshalb gab es immer noch eine Gesellschaft aus Bosniaken (wie sich die Muslime Bosniens seit 1993 nennen), Serben, Kroaten, Roma, Juden und anderen „Bosniern“, die gemeinsam ihre Kultur der Vielfalt verteidigten. So wie es Bogicević im Staatspräsidium getan hatte. Darin sahen viele in Bosnien eine Verwirklichung „westlicher“ individueller Rechte, die unabhängig von kulturellem oder religiösem Hintergrund gleichermaßen für alle Menschen gelten sollten. Doch der reale Westen entschied sich anders. Denn er unterstützte de facto die Aggressoren. Etwa indem er ein Waffenembargo aufrechterhielt, das einseitig die hoffnungslos unterlegenen Bosnier benachteiligte. Das in der UN-Charta verbriefte Recht auf Selbstverteidigung eines Staates mit Sitz in den Vereinten Nationen verwehrte man mit der Begründung, dass Waffenlieferungen den Konflikt nur eskalieren würden. Wie der bosnische Außenminister Haris Silajdžić sagte, sollte das Feuer des Krieges mit dem Blut der Opfer gelöscht werden.
In den westeuropäischen politischen Eliten hegten offenbar einige klammheimlich Sympathien für die euphemistisch so benannten „ethnischen Säuberungen“. Bill Clinton berichtete dem Historiker Taylor Branch: „Während sie ihre Friedenstruppen als Zeichen ihres Engagements vorhielten, setzten sie sie tatsächlich als Schutzwall ein, damit die stetige Zerstückelung Bosniens durch serbische Streitkräfte weitergehen konnte.“ Als Branch seinen Schock über einen solchen Zynismus zum Ausdruck brachte, der ihn an die blinde Diplomatie gegenüber der Notlage der europäischen Juden während des Zweiten Weltkriegs erinnerte, „zuckte Präsident Clinton mit den Schultern. Er sagte, der französische Präsident François Mitterrand habe besonders unverblümt gesagt, dass Bosnien nicht dazugehöre, und britische Beamte hätten auch von einer schmerzhaften, aber realistischen Wiederherstellung des christlichen Europas gesprochen.“[6]
Welch sinistre Rolle die britische Regierung bei der Zerstörung Bosniens spielte, hat Brendan Simms analysiert und dabei gezeigt, dass man sich bewusst war, dass es sich in Bosnien nicht um einen undurchschaubaren Konflikt handelte.[7] Die westlichen Vermittler boten wiederholt ausgeklügelte Teilungspläne an, um den Krieg zu beenden: den Carrington-Cutileiro-Teilungsplan, der Vance-Owen-Teilungsplan, den Kontaktgruppen-Teilungsplan und andere. Aber es gab keine Vorschläge, wie die verfassungsrechtliche Ordnung des Landes wiederhergestellt oder das Land von seinem Aggressor befreit werden könnte.
Dabei hätten die Diplomaten aus der Geschichte lernen können, dass Bosnien für die internationale Ordnung von enormer Bedeutung war. Hier kreuzten sich seit Jahrhunderten große Mächte, und der Balkan kann als Versuchsanordnung für die Zukunft globaler Verhältnisse angesehen werden. Nach 1990 war ein Teil der Welt zerbrochen. Eine neue Ordnung musste entstehen. Der Umgang des Westens mit dem Krieg auf dem Balkan konnte die Richtung weisen. So blickten etwa die Staaten mit muslimischer Bevölkerung ganz genau auf die Vorgänge in Bosnien, in dem fast die Hälfte der 4,5 Millionen Einwohner Muslime waren.
Es gibt eindrucksvolle Aufnahmen von der türkischen Ministerpräsidentin Tansu Çiller, wie sie gemeinsam mit Pakistans Präsidentin Benazir Bhutto im Februar 1994 durch Sarajevos Straßen geht, während die Stadt mit Granaten beschossen wird. Clinton erklärte, dass Bosnien für diese Politikerinnen ein enormes Problem darstellte, denn die Fundamentalisten in ihren Heimatländern bekämpften ihre liberalen Reformen mit Verweis auf die westlichen Staaten, deren Werte nicht für Muslime galten. Auf der anderen Seite stand Boris Jelzin in Russland unter enormem Druck, weil die nationalistische Opposition sich uneingeschränkt mit der serbischen Sache solidarisierte. Der Schlüssel zur neuen Weltordnung musste in Bosnien gefunden werden. Doch er wurde nicht gefunden und damit deutete sich die Richtung an, die die Weltpolitik heute unverkennbar einschlägt: Hin zu ethnisch definierten Nationalstaaten, die von menschenrechtlichen und völkerrechtlichen Schranken nichts wissen wollen.[8]
Das faschistische Netzwerk
Schon zu Beginn des Krieges sortierten sich die verschiedenen politischen und intellektuellen Kräfte aus Ost und West entweder aufseiten der bosnischen Idee eines gemeinsamen multikulturellen Staates oder aufseiten rein ethnisch definierter Nationen ein. Die bosnische Seite erhielt Unterstützung vom jüdischen Weltkongress unter Henry Siegmann und Simon Wiesenthal. Elie Wiesel und Marek Edelman erhoben lautstark ihre Stimme wie auch Ignaz Bubis, der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Deutschland. Bernard-Henri Lévy, Václav Havel und George Soros setzten sich für Bosnien ein, ebenso die US-amerikanische Essayistin Susan Sontag, um nur einige zu nennen, für die der Erhalt eines multikulturellen Staates selbstverständlich war. Auf der Seite der serbischen Nationalisten fand sich zur gleichen Zeit zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ein internationales rechtes Netzwerk zusammen, das bis heute fortwirkt. Hier trafen sich Antiglobalisten (ein Codewort für Antisemiten), völkische Nationalsozialisten, Neofaschisten und orthodox-christliche Fundamentalisten. Sie alle einte der Traum von ethnisch reinen Nationen, von Lissabon bis Wladiwostok. So gehörte unter anderem der Gründer des Front National, Jean-Marie Le Pen zu den Besuchern bei Radovan Karadžić.[9]
Heute hält die Partei unter ihrem neuen Namen Rassemblement National enge Kontakte zu dem ultranationalistischen Präsidenten der Serbischen Teilrepublik (Republika Srpska), Milorad Dodik, und dem autokratischen Herrscher Serbiens,Aleksandar Vučić. Die engen Verbindungen nach Russland sind bekannt. Auch der Vordenker des neuen russischen Imperialismus, Alexander Dugin, zählte zu den Verbündeten der serbischen Extremisten. Unverhohlen stellte er 1992 die russisch-eurasische Ideologie in eine Reihe mit dem deutschen Nationalsozialismus, dem italienischen und dem spanischen Faschismus und der rumänisch-antisemitischen Eisernen Garde, da sie alle der Kampf um eine soziale sowie kulturelle Erneuerung auszeichne.[10] Aus seiner Sicht hätten „die Serben“ als erstes Volk ihren Kopf gegen die neue Weltordnung erhoben und seien daher von besonderer historischer Bedeutung. In den ultranationalistischen Zirkeln Russlands galt es ohnehin als erwiesen, dass die USA ihre neue Weltordnung auf dem Balkan errichten wollten.[11]
Ethnonationalistische Strategieentwicklung in Serbien
Einige gingen noch weiter: Mitglieder der inzwischen verbotenen neofaschistischen Bewegung „Goldene Morgenröte“ stellten die Griechische Freiwilligen Garde.[12] Igor Wsewolodowitsch Girkin, Kampfname Strelkov, kämpfte für die Armee der Serbischen Republik. Er wurde später militärischer Führer der separatistischen Volksrepublik Donezk und soll für den Abschuss des Malaysia-Airlines-Fluges 17 verantwortlich sein. Im bosnischen Višegrad soll er an einem Massenmord an Muslimen teilgenommen haben. Seine bosnischen Kriegsmemoiren erschienen in Russland.[13]
Heute verfügt das internationale faschistische Netzwerk über enge Verbindungen. Serbien und die Republika Srpska spielen dabei eine wichtige Rolle. So knüpfte Donald Trumps ideologischer Vordenker Steve Bannon Bande mit dem Präsidenten der Republika Srpska Dodik wie auch zu Viktor Orbán, der als Bewunderer Miloševićs und Freund Wladimir Putins gilt.[14] Heute treffen sich die antiliberalen Kräfte regelmäßig, um sich über ihre Strategien auszutauschen und gegenseitig zu stützen, so wie 2023 in Serbien.[15] Darüber hinaus stützen sich die Regime gegenseitig auf vielfältige Weise bei kriminellen Geschäften wie der Geldwäsche.[16] Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Autoren des „Project 2025“ (eine Blaupause für Trumps Umbau der USA in eine Diktatur) sich ausgerechnet ein Beispiel an Orbáns Transformation Ungarns nahmen, der wiederum selbst bei Miloševic´ Anleihen holte und heute zu den engsten Verbündeten von Putin, Vučić und Dodik in der EU zählt.[17] Orbán bediente sich nicht nur Miloševićs Machttechnik, sich staatliche Institutionen dienstbar zu machen, indem er sie mit ihm treu ergebenen Gefolgsleuten besetzte und dabei gegen die Bürokratie wetterte, sondern übernahm sogar dessen Storytelling in seinen Reden.[18]
Die ideologischen Verbindungen sind augenfällig. Die MAGA-Bewegung, die auf der „White Supremacy“-Ideologie fußt, fürchtet, dass sie innerhalb der USA zu einer Minderheit wird und auf Dauer die Macht in den politischen Institutionen verliert. Die gleichen Ängste nutzen Orbán für seine Politik, wenn er vor der angeblichen Überfremdung durch muslimische Flüchtlinge warnt, oder Dodik, der behauptet, dass die Muslime in Bosnien-Herzegowina einen islamischen Staat erschaffen wollten. Von MAGA bis Putin teilen diese Bewegungen die gleichen Werte und arbeiten an dem gleichen Ziel: der Vorherrschaft einer christlich-nationalistischen Elite – alle anderen müssen sich unterordnen oder verschwinden.
Vorboten der autoritären Wende
Die autoritäre Wende, die heute weite Teile der westlichen Politiklandschaft prägt, kam nicht über Nacht. Einen ihrer Ursprünge hat sie im Experimentierfeld in Bosnien, wo die Verwaltung von Ausnahmezuständen unter dem Mantel demokratischer Legitimation erprobt wurde.[19] Der bosnische Politologe Tarik Haverić schrieb angesichts der westlichen Haltung zur Aggression gegen sein Land: „Wenn wir eine Lehre aus den Geschehnissen in Bosnien ziehen wollen, dann könnte sie wie folgt lauten: Sollte jemand auf der Welt die Möglichkeit haben, ein anderes Land anzugreifen, Territorien zu erobern und sie dann als ‚eigene‘ zu bezeichnen und zudem alle ‚anderen‘ zu töten, kann er damit rechnen, dass man mit ihm politische Verhandlungen eingeht. Die verbrecherischen Handlungen werden so im Nachhinein politisch legitimiert und rechtlich legalisiert.“[20] Haverić sollte recht behalten. Denn der Dayton-Vertrag legitimierte die Aggression, indem er die mit ethnischer Säuberung und Völkermord geschaffene Republika Srpska als eigene Entität innerhalb Bosnien-Herzegowinas festschrieb.
Der Vertrag teilte das Land in zwei Entitäten, die Republika Srpska und die Föderation Bosnien-Herzegowina (FBuH), die vorwiegend von Bosniaken und Kroaten bewohnt wird. In der Republika Srpska haben Bosniaken und Kroaten nicht die gleichen Rechte wie Serben. Umgekehrt sind Serben in der FBuH Bosniaken und Kroaten rechtlich nicht gleichgestellt, und die übrigen, die sich keiner der drei Ethnien zugehörig fühlen, stehen ohnehin hinten an. In Bosnien teilen sich die „konstitutiven Völker“ die höchsten staatlichen Institutionen und können in einer eigenen parlamentarischen Kammer, „dem Haus der Völker“, alle Prozesse im Staat blockieren. Die hier etablierte ethnopolitische Logik, die eine direkte Folge der serbischen Lager ist, wurde in ein neues Verfassungsgebäude gegossen. Die in den Lagern und durch Vertreibung geschaffenen Realitäten wurden zur Grundlage einer neuen Ordnung, in der politische Repräsentation an ethnische Zugehörigkeit gebunden wurde. Damit wiederholt sich das Grundproblem: Was als Ausnahme begann, erhob Dayton zur Norm.
Die Menschen, deren Rechte einst in Lagern suspendiert wurden, bleiben in einer Ordnung gefangen, die genau diese Suspendierung nun legalisiert hat. In Bosnien manifestiert sie sich heute in einer „legalen“ Ordnung, die de facto bestimmte Menschen als politische Subjekte entrechtet. Ganz ohne Stacheldraht oder Baracken. Mehrfach hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gegen diese Logik geurteilt. In den berühmten Fällen Sejdić und Finci (2009), im Fall Zornić (2014) und erneut im Fall Kovačević (2025) stellte das Gericht fest, dass das bosnische Wahlsystem diskriminierend sei, da es ethnisch Nichtzugehörige von zentralen politischen Ämtern ausschließe.[21]
Das westliche Versagen: Management statt Recht
Im Umgang mit Bosnien reagierten die westlichen Demokratien nicht mit der Kraft des Rechts, sondern mit dem Instrument des Managements. Ab 1992 kontrollierte die Nato im Auftrag der UNO das militärische Flugverbot über Bosnien. Bis zu einem Friedensvertrag dauerte es noch bis Ende 1995. Er kam erst nach dem Massaker in Srebrenica zustande, das später als Genozid eingestuft wurde. Der Krieg wurde jedoch nicht beendet, indem man die Ordnung der Gewalt delegitimierte, sondern indem man sie kodifizierte: durch den Dayton-Vertrag, der ethnische Trennung zur Verfassungsnorm machte. Auch die ehemalige „UN-Schutzzone“ Srebrenica wurde Teil der Rebublika Srpska.[22] Dies war ein Paradigmenwechsel: Der Ausnahmezustand, der durch ethnische Vertreibungen und Lager geschaffen worden war, verwandelte sich in die juristische Grundlage der neuen bosnischen Ordnung.
Die ethnische Logik des Dayton-Systems
Die ethnische Repräsentationslogik des Dayton-Systems, die bis heute vom Verfassungsgericht und internationalen Vermittlern gestützt wird, entspricht einer ethnonationalistischen, faschistoiden Struktur: Die politische Ordnung basiert nicht auf individueller Rechtsgleichheit, sondern auf kollektiver Zugehörigkeit. Die politische Logik, die dort Wirklichkeit wurde, ist keine Besonderheit des Balkans. Sie ist ein strukturelles Produkt einer Ordnung, die ihre universalistischen Ansprüche aufgegeben hat. Dayton wurde zum Regierungsmodell, um später nach ethnischen Kategorien Bevölkerungsmanagement im Kosovo, in Afghanistan, im Irak, in Libyen zu betreiben.
Damit nähern sich die westlichen Rechtsstaaten immer mehr autokratisch geführten Ländern an. Ob es Minderheiten wie die Uiguren in China, die Aleviten in Syrien, die Kurden in der Türkei, die Rohingya in Myanmar, politische Gruppen wie die Aktivisten in Hongkong oder Black-Lives-Matter-Sympathisanten sind, die als „nicht dazugehörend“ kategorisiert werden: Sie alle drohen von den Staaten entrechtet zu werden. Wie schnell der Absturz des Rechtsstaates vor sich geht, zeigt das Vorgehen der Trump-Regierung gegen Ausländer im März 2025. Unter Rückgriff auf den Alien Enemies Act von 1798 schuf der US-Präsident ein beispielloses rechtliches Vakuum, indem er venezolanische Migranten zu „feindlichen Ausländern“ erklärte, ohne dass individuelle Vergehen nachgewiesen werden mussten.
Die Rhetorik eines Trump, der diese Ausnahmen rechtfertigt, scheint direkt dem ethnonationalistischen Handbuch zu entstammen, das mit Dayton internationale Legitimität erlangte. Auch Orbáns Beharren auf einem ethnisch homogenen Ungarn; die Theorie vom Bevölkerungsaustausch, die auch den weißen Nationalismus in den USA durchdringt; Putins Behauptung, Russisch sprechende Menschen jenseits seiner Grenzen schützen zu müssen, all das ähnelt fatal jener Ideologie, die in Bosnien am Werk war. Offen unterstützt der US-Präsident die ethnische Säuberung des Gazastreifens als Lösung des Konflikts, ganz so, wie das auch Radovan Karadžić in Bosnien vorschwebte. Dass nun insbesondere die Europäer angesichts des trumpistischen autokratischen Umbaus der USA in einen Abgrund blicken, haben sie sich zu einem großen Teil selbst zuzuschreiben: Sie verteidigten in den 1990er Jahren ihre Werte nicht, weil sie die Bosniaken als nicht zu Europa gehörig erachteten.
[1] Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. München, Wien 1996.
[2] Vgl. The International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia. Case No. IT-99-37-PT. The Prosecutor of the Tribunal Against Slobodan Milosevic, Milan Milutinovic, Nikola Sainovic, Dragoljub Ojdanic, Vlajko Stojiljkovic, Count 5 Persecutions, Additional Facts.
[3] Während Serbien rasch als Aggressor gebrandmarkt wurde, gelang es Kroatien trotz völkerrechtlich schwerwiegender Verbrechen, sich als Opfer und zugleich als Partner des Westens zu inszenieren. Diese Ambivalenz spiegelt sich auch im Dayton-Abkommen wider: Kroatien war zwar als Signatar präsent, seine Mitverantwortung an der Eskalation und seine territoriale Agenda blieben jedoch politisch folgenlos.
[4] Vgl. Julia Bogoeva, The War in Yugoslavia in ICTY Judgements: The Goals of the Warring Parties and Nature of the Conflict, Brussels 2017.
[5] Ich konzentriere mich hier auf die serbisch betriebenen Lager in Bosnien-Herzegowina aufgrund ihrer dokumentierten Funktion im Rahmen einer gezielten Politik der ethnischen Säuberung. Zwar betrieben auch bosnische Behörden Lager, doch war deren Zweck überwiegend die kurzzeitige Internierung wegen vermeintlicher Sicherheitsrisiken – nicht die ethnisch motivierte Vertreibung oder Vernichtung ganzer Bevölkerungsgruppen.
[6] Vgl. Taylor Branch, The Clinton Tapes. Wrestling History with the American President, New York 2009, S. 10.
[7] Vgl. Brendan Simms, Unfinest Hour. Britain and the Destruction of Bosnia, London 2001.
[8] Vgl. Seyla Benhabib, Gaza und die Ära der Straflosigkeit, in: „Blätter“, 10/2025, S. 51-55.
[9] Vgl. Thierry Legier, Mission Le Pen. Le Garde Du Corps Raconte, Februar 2012.
[10] Vgl. Alexander Dugin, Conservativnaja revolutija: Kratkaya istoria ideologii tretiego puti, in: „Elementii“, 1, S. 15-56.
[11] Vgl. Aleksej Borsenko, Naši dobrovolcy v Serbii (Unsere Freiwilligen in Serbien), in: „Literaturnaja Rossija“, 26.2.1993.
[12] Vgl. Fotiadis Ruža, Freundschaftsbande: Griechisch-serbische Geschichts- und Gegenwartsdeutungen vor dem Hintergrund der Jugoslawienkriege 1991-1999, Göttingen 2021.
[13] Gianluca Mezzofiore, Igor Strelkov's Bosnian Diary: Ukraine Separatist Leader's 1992, ibtimes.co.uk, 29.7.2014.
[14] Vgl. Dodik lässt sich im Wahlkampf von Ex-Wahlberatern Trumps beraten, standard.de, 9.8.2018.
[15] Vgl. Filip Gaspar, Konservatives Treffen in Belgrad: Kleiner Bruder der CPAC, jungefreiheit.de, 7.11.2023.
[16] Vgl. Anne Applebaum, Die Achse der Autokraten, München 2024.
[17] Vgl. beispielsweise die Analyse des European Council on Foreign Affairs: Jeremy Shapiro und Zsuzsanna Végh, The Orbanisation of America: Hungary’s lessons for Donald Trump, ecfr.eu, 9.10.2024.
[18] Vgl. Gordan Duhacek, Here's Orban's full speech reminiscent of Milosevic and Hitler, 12.6.2020. Die Originalrede: Prime Minister Viktor Orbán’s commemoration speech, abouthungary.hu, 6.6.2020.
[19] Ausführlicher dazu: Sead Husic, Die Zeitenwende begann in Jugoslawien, Bern, 2025.
[20] Tarik Haverić, Die bosnische Frage, in: Alida Bremer, Jugoslawische (Sch)erben, Probleme und Perspektiven, Münster 1993.
[21] Slaven Kovačević, bosnischer Staatsbürger, beschwerte sich vor dem EGMR, weil er sich keinem der drei „konstitutiven Völker“ (Bosniaken, Kroaten, Serben) zuordnen kann – und somit automatisch für bestimmte politische Ämter gesperrt ist. In seiner Entscheidung vom 29. August 2023 stellte das Gericht im vierten Senat fest, dass dieses System gegen Artikel 1 des Zusatzprotokolls Nr. 12 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt, da ethnische und territoriale Einschränkungen sein Wahlrecht ungerechtfertigt beschränken. Doch diese Entscheidung wurde angefochten und im Juni 2025 von der Großen Kammer abgewiesen. Die Große Kammer stellte fest, dass Kovačević kein rechtlich schutzwürdiges Opfer im Sinne der EMRK-Zuständigkeit war und innerstaatliche Rechtsmittel nicht vollständig ausgeschöpft worden seien. Damit hob die Kammer das vorherige Urteil auf. Die Hintergründe hierzu sind höchst fragwürdig, denn sowohl der Hohe Repräsentant als auch die Republik Kroatien engagierten sich beim EGMR, um das Urteil von 2023 zu Fall zu bringen.
[22] Vgl. Marion Kraske, Die Aktualität von Srebrenica. Von der Leugnung des Genozids zur „Serbischen Welt“, in: „Blätter“, 8/2024, S. 77-84.