Es ist lange her, daß Schweden das Ausland mit seinem "Volksheim" beeindruckte. Vom Wunderland Schweden spricht keiner mehr. Und Olof Palme, der als international geschätzter Friedensmittler dem kleinen Land zu großem Ansehen und ein bißchen Glamour verhalf, ist auch schon seit zwölf Jahren tot. Kein Zweifel, die Glanzzeit der schwedischen Sozialdemokraten (SAP) gehört der Vergangenheit an. Und dennoch stellen sie immer noch die erfolgreichste und mit Abstand größte Partei des Landes, auch nach der jüngsten Wahl. Dabei hat die SAP in der abgelaufenen Legislaturperiode den Sparkurs der bürgerlichen Vorgängerregierung weitgehend fortgesetzt, obwohl viele SAP-Wähler 1994 darauf setzten, daß ihre Partei die Politik des Rotstifts beenden würde. Gemessen daran mutet erstaunlich an, wie klaglos die Schweden die Politik der letzten vier Jahre akzeptiert haben. Solche Nachsicht war der kurzlebigen bürgerlichen Koalition von 1991 bis 1994 nicht beschieden. Noch immer profitieren die Sozialdemokraten von dem Ruf, die nationale Problemlöserpartei zu sein und das Land aus jeder Krise retten zu können. Der Bürger urteilt oder wählt frei nach der Devise: Die Politik mag uns schmerzen, aber eine SAP-Regierung wird schon wissen, was richtig für uns ist.
Es sind historische Erfahrungen, aber auch Mythen, aus denen sich dieser Ruf nährt. Eine sozialdemokratisch dominierte Regierung hatte die Wirtschaftskrise der 30er Jahre einst überwunden. Die Sozialdemokraten schufen die Fundamente des modernen Schwedens, sie prägten die Identität der Nation wie keine andere Partei. 1) In gewisser Weise ist die SAP vergleichbar mit der bundesdeutschen CDU. Genauso wie es dieser gelang, sich als Partei des Wirtschaftswunders aufzubauen, so erschuf die SAP sich mit ihrem Konzept vom Volksheim, dem schwedischen Wohlfahrtsstaat, als die staatstragende Partei, die die nationalen Paradigmen bestimmt (Zur Illustration: das Wort "Sozi" besitzt in Deutschland bekanntlich eine abschätzig-verachtliche Konnotation; die schwedische Entsprechung "Sosse" wird im Volksmund zwar auch meist negativ gebraucht, jedoch drückt sie zugleich Respekt vor den institutionell verankerten, professionell agierenden und machtbewußten Sozialdemokraten aus). Eine solche Stellung zu erlangen, einen solchen Ruf zu begründen, dafür bedurfte es einer zentralen Voraussetzung, die die SAP (wie die CDU) erfüllt: Sie handelt pragmatisch. Die Partei pflegt zwar ihr Image als "linke", gesellschaftsverändernde Kraft, sie definiert sich aber auch immer als betont pragmatische Partei.
Programmatische Dogmen, die bei der Machtausübung stören könnten, handhabt sie eher lax. Anders als etwa bei der deutschen SPD ist das Prinzip Pragmatismus nicht Resultat später Erkenntnis oder gar verordnetes Rezept modischer Marketingstrategien. Es gehört vielmehr seit den Anfängen zur Partei selbst, ist Teil der Ur-Seele der SAP, weshalb dieses Prinzip von allen Strömungen und Gruppierungen der Partei auf allen Ebenen - Unterorganisationen, Mitgliederbasis, mittlere Funktionärsebene, Parteiführung - mitgetragen wird. Der unorthodoxe Umgang mit - in der Rhetorik durchaus pointiert linker - Programmatik verhilft der Partei zu einer Flexibilität, die in der Regierungspolitik naturgemäß von großem Nutzen ist. Gern hat der Schweden-Urlauber früher von der vorbildlichen Umweltpolitik, von der weltweit höchsten Frauenbeschäftigungsquote, vom engmaschigen Netz der ganztägigen staatlichen Kinderbetreuung geschwärmt. Was er aber nicht sah oder nicht sehen wollte, waren das ebenso engmaschige Netz von zwölf Atomkraftwerken (bei acht Millionen Einwohnern), eine moderne Rüstungsindustrie, eine üppig ausgestattete, schlagkräftige Armee. Auch in der Wirtschaftspolitik haben die Sozialdemokraten die Erwartungen ihrer, zum Teil sozialromantischen, Verehrer aus dem Ausland enttäuscht. Verstaatlichungsversuchungen fielen sie nie anheim, im Gegenteil, man förderte bewußt eine moderne, hochprofitable Exportindustrie, beherrscht von einflußreichen Familiendynastien.
An den entsprechenden oligarchischen Besitzstrukturen versuchte man gar nicht erst ernsthaft zu rütteln. Diese differenzierte, teilweise auch widersprüchliche Politik verhalf der SAP nicht nur zu einem dauerhaften Frieden mit der Industrie, sie sorgte auch für die Verankerung der Partei innerhalb verschiedenster Klientele und damit zur Eroberung der strukturellen Mehrheit im Lande. Die SAP ist eben nicht nur die Partei der ambitioniert-linken Gesellschaftsumgestalter, sondern immer auch politische Heimat für eher Konservative aus dem kleinbürgerlichen Milieu der Mitte gewesen. Dafür sorgte jenes Konzept vom Volksheim: ein starker, gewissermaßen väterlich-autoritärer Staat samt ausgeprägter Gleichheitsethik, konkret ausgeformt durch den universalistischen Sozialstaat mit seinen im internationalen Vergleich extrem hohen Spitzensteuersätzen und dem jedem Bürger zustehenden Basissockel an Sozialleistungen. Das Volksheim verbindet insofern auf einfache, aber erfolgreiche Weise urschwedische, volkstümliche Mentalitäten mit sozialdemokratischer Programmatik. Starker Staat, Gleichheit, Solidarität - das sind keine reinen sozialdemokratischen Implantate, sondern Traditionslinien, die in einer Zeit wurzeln, in der Schweden noch das egalitäre Land der Kleinbauern mit einer starken zentralistischen Obrigkeit war. 2) Auch dies ist ein Grund dafür, daß es die Sozialdemokratie in Schweden bisher einfacher hatte als anderswo.
Unterhöhltes Volksheim
Inzwischen haben sich die Rahmenbedingungen allerdings dramatisch verändert. Die Arbeitslosigkeit pendelte sich seit der Wirtschaftskrise Anfang der 90er Jahre auf mitteleuropäische Normalwerte ein. 3) Zwar sehen die Bilanzen der Privatindustrie seit einigen Jahren wieder glänzend aus. Dies wurde jedoch nicht ohne massive Entlassungen erreicht. 4) Ebenso werden im öffentliche Sektor, ehemals so etwas wie die ewig sprudelnde Jobquelle der Nation, Stellen eingespart. Gewiß ist das soziale Netz immer noch enger gestrickt als anderswo; der Nachbar Dänemark beispielsweise ging beim Umbau noch radikaler vor. Aber das sozialdemokratische Volksheim wurde unterhöhlt - und damit auch das Fundament sozialdemokratischer Hegemonie. Jetzt wachsen die ersten Generationen heran, die keinen ganzheitlichen, funktionierenden Wohlfahrtsstaat mehr kennenlernen: stärker von Arbeitslosigkeit betroffen als die Älteren und wenig oder gar nicht sozialdemokratisch geimpft.
Die Wahlen 1991 und 1994 haben es angedeutet: Die Wählerstruktur der SAP hat eine zwar leichte, aber konstante Schlagseite hin zu den mittleren und älteren Generationen. 5) Entscheidend wird sein, daß das sozialdemokratische Jungwählerproblem erstmals kein vorübergehendes, sondern ein strukturelles Problem ist. Die SAP hat in ihrer Geschichte schon einmal, Mitte der 70er Jahre, einen Einbruch bei den Jungwählern erlebt, der aber im Unterschied zu heute vorübergehender Natur war. Sie galt als technokratische, arrogante und machtverliebte Partei. Damals brach sie überdies das erste und einzige Mal den Kodex des vorsichtigen Pragmatismus: Die berühmt-berüchtigen Arbeitnehmerfonds, durch die, von den Gewerkschaften verwaltet, ein bestimmter Anteil der Unternehmergewinne abgeschöpft werden sollte, wurden von sozialdemokratischen Vordenkern konzipiert, waren aber bei der Mehrheit der Wähler, auch der Stammwähler, nie populär. Wählerwanderungen von links nach rechts, auch und gerade unter den Jüngeren, führten zur ersten bürgerlichen Regierung nach Jahren. Doch diese stand auf tönernen Füßen, eben weil ihre Existenz nur auf einer gezielten Abstrafung der Sozialdemokraten durch die Wähler basierte. Man wählte die Bürgerlichen, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Die strukturelle Mehrheit der SAP war noch nicht gefährdet. Sechs Jahre später, 1982, war die sozialdemokratische Welt wieder in Ordnung. Es war wieder schick, sozialdemokratisch zu wählen, gerade unter den Jungwählern.
Generationenbruch
Den 18- bis 30jährigen Wählern von heute dagegen fehlt jene sozialdemokratische Grundneigung, die die Vorgängergenerationen kennzeichnete und bei den darauffolgenden Wahlen stets wieder sozialdemokratisch stimmen ließ. Sie stehen den neoliberalen Konzepten der größten Oppositionspartei, der konservativen Moderaten Partei, unbefangener gegenüber als die Älteren. Das heißt nicht, daß die Sozialdemokraten heute in dieser Wählergruppe völlig abgeschrieben sind; es bedeutet lediglich, daß hier keine 45- oder 50%-Ergebnisse mehr zu holen sind. Noch wird die strukturelle Schwäche der SAP bei den jüngeren Wählern durch die geburtenstarken älteren Generationen, die vom Volksheim geprägt worden sind, verdeckt. Sie sind in den Boomjahren des Wohlfahrtsstaats sozialisiert worden, stehen nun den rapiden Veränderungen mißtrauisch gegenüber und hoffen, daß eine sozialdemokratische Regierung den Wandel abfedert. Es sind diejenigen, die in Schweden die Mitte ausmachen, generationell wie soziologisch: typischerweise die 45jährigen Arbeiter der Kommunalverwaltungen und die Verwaltungsangestellten im mittleren Öffentlichen Dienst. 1994 stimmten 73% der Industriearbeiter, 57% der übrigen Arbeiter und knapp 50% der einfachen und mittleren Angestellten sozialdemokratisch. Daß diese Wählersegmente quantitativ noch sehr bedeutend sind, zeigt, daß sie stolze 81% der SAP-Stimmen ausmachten. 6) Hinzu kommt, daß die Sozialdemokraten die Opfer der Rationalisierungswellen der 90er Jahre nicht als Unterstützer verloren haben.
Die Modernisierungsverlierer wählen noch sozialdemokratisch, weil sie weiterhin in das Organisationsnetz der Partei eingebunden sind. Meistens bleiben sie ihrer Gewerkschaft treu, nicht zuletzt deshalb, weil die Arbeitslosenkasse in Schweden von den Gewerkschaften verwaltet wird. Der hohe Organisationsgrad - 85% der Arbeiter sind im Arbeitergewerkschaftsbund LO, dem mit 2,1 Millionen Mitgliedern größten nationalen Interessenverband - spricht für sich. Und da die LO mit der SAP verbunden ist, besitzt die Partei mit dieser Gewerkschaft ein wichtiges Scharnier zu den, wenn man so will, neuen Unterschichten. 7) Auch diejenigen Modernisierungsverlierer, die letztlich doch ihren Protest per Wahlstimme artikulieren, bleiben innerhalb des Koordinatensystems der etablierten Linken. Sie wählen die Linkspartei, die seit 75 Jahren Bestandteil des schwedischen Parteiensystems ist und die für Wähler, die sich von der zu "kapitalismusfreundlichen" SAP abgrenzen wollen, als Heimat fungiert. Im Zweifelsfall aber pflegt sich die Linkspartei im Parlament immer wieder auf die Seite der Sozialdemokraten zu schlagen, um eine etwaige bürgerliche Regierung zu verhindern. Überdies bietet sie mit einer phantasielosen, ja biederen Bewahrungsrhetorik keine echten Alternativen für enttäuschte sozialdemokratische Wähler. Rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Formationen wie in Österreich oder Frankreich haben vorerst keine Chance, weil sie keinen Zugang zu ihrer potentiellen Klientel finden.
Deshalb steht die SAP in der Gesamtrechnung recht gut da. Sie profitiert noch von ihrer Dominanz in den wahlentscheidenden Wählerschichten. Das wird ihr auch bei den nächsten zwei, drei Wahlen die führende Stellung im Parteiensystem sichern. Aber die nachwachsenden Generationen werden kein Garant mehr für Siege sein. Die Jungwähler werden sich unabhängiger in der Parteienlandschaft bewegen. Hier zeigen sich erneut Parallelen zur CDU: Diese hat jahrzehntelang davon gezehrt, daß sie die "Mitte" des Landes, die bürgerlichen Kernschichten besetzen konnte. Solange diese Kernschichten von den Erfahrungen der Wirtschaftswunderzeit geprägt waren, blieb der Mythos der CDU von der "Wirtschaftswunderpartei" immer noch lebendig, und so war dieser Partei ihre Stellung (bis auf 1972) als größte Volkspartei sicher. Der Abtritt dieser vormals wahlentscheidenden Wählerschichten, unter dem die CDU heute leidet, könnte vorzeichnen, was Schwedens dominierender Volkspartei noch bevorsteht. Gewiß, verloren sind die nachwachsenden Generationen für die SAP noch nicht. Aber die Sozialdemokraten müssen die verbleibende "garantierte" Zeit als Regierungspartei auch nutzen, um über langfristig geeignete Wählerstrategien nachzudenken.