Die nationale Reifeprüfung. Rede von Günter Grass anläßlich des Bundestagswahlkampfes (Auszug)
Wie immer die Bundestagswahlen diesmal ausgehen werden, soviel sei jetzt schon Gerhard Schröder ins Stammbuch geschrieben: Der nächste Bundeskanzler wird daran gemessen werden, ob es ihm gelingt, das bisherige Vakuum aufzufüllen, das heißt, den Bund Deutscher Länder auf der Grundlage einer vom Volk bestätigten Verfassung als neue Bundesrepublik zu festigen und zugleich dem mehrfach gebrochenen Sozialvertrag zwischen den Schichten der Gesellschaft wieder Geltung zu verschaffen. Beides schließt die Aufgabe ein, den festgefahrenen Prozeß der deutschen Einheit wieder in Bewegung zu bringen, diesmal jedoch mit mehr wechselseitiger Achtung vor östlichen und westlichen Biographien. Die Altlast Kohl wird dem neuen Bundeskanzler Anstrengungen und Leistungen abverlangen, die nicht allein seine Sache sein können.
Regierung und Gesellschaft werden gleichermaßen gefordert sein. Es gab und gibt keinen "Kanzler der deutschen Einheit", wie es ja auch, laut Regierungsbeschluß, allenfalls eine Einheit gegeben hat, die nur auf einem nach wie vor fragwürdigen Papier steht. Somit stellt sich uns allen eine nationale Aufgabe, wobei der Begriff Nation im Sinn der europäischen Aufklärung und ohne nationalistische Kraftakte zu definieren wäre. Nur wenn wir als Gesellschaft diese nationale Reifeprüfung bestehen, werden wir uns auch als Europäer begreifen können. Sollte sich allerdings auch die nächste und - wie ich hoffe - rotgrüne Regierung dieser Aufgabe, etwa aus Angst vor der zu erwartenden Mühsal einer Verfassungsdebette, entziehen, werden wir unseren innerdeutschen Streit als unerledigte Hausarbeit ins nächste Jahrhundert verschleppen und damit Europa zur Last fallen. Ich weiß, daß sich in Ost und West die drückendste Sorge aus der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit ergibt.
Dennoch wird meine erste These vordringlich einen anderen Akzent setzen: Die Rundesrepliblik Deutschland benötigt keine Ersatzbezeichnung, etwa "Berliner Republik", vielmehr fehlt ihr eine vom Volk gebilligte Verfassung. Zwingend hatte im alten Grundgesetz, das sich als Provisorium verstand und das nur bis 1990 gültig blieb, der Schlußartikel 146 diesen gesetzgebenden Akt im Fall der möglich werdenden Einheit gefordert. So stand es geschrieben. Und dennoch ist die Regierung Kohl/Kinkel annährend ein Jahrzehnt lang dieser Forderung ausgewichen. Aber auch die Opposition hat sich diesen Auftrag nicht zwingend genug zu eigen gemacht. Man glaubte, sich irgendwie durchmogeln zu können. Man riskierte den Verfassungsbruch. Deshalb steht an erster Stelle meiner Erwartungen an die zukünftige Regierung die Einberufung einer verfassunggebenden Versammlung. Sie sollte und könnte ein zeitgemäßes Staatsbürgerrecht formulieren, das sich den Bürgern ausländischer Herkunft öffnet; sie sollte und könnte den Föderalismus stärken und zugleich ohne dabei die Kulturhoheit der Länder zu verletzen der Bundesregierung einen besonderen kulturellen Auftrag erteilen, nicht zuletzt im Hinblick auf ein europäisches Kulturverständnis; und weiterhin sollte und konnte eine solch verfassungsgebende Versammlung endlich das Recht auf Arbeit zum Grundsatz erheben, denn so - und nur so - werden die Interessen aller Verbande dem Nutzen der Gesellschaft verpflichtet werden können. Gewiß ist es richtig, daß bei zunehmender Automation der herkömmliche Begriff von Arbeit in Frage gestellt ist. Aber die Antwort auf diese Frage darf gleichfalls nicht herkömmlicher Art sein, etwa indem sie die Arbeitslosigkeit als gegebenen Zustand akzeptiert.
Zu meiner ersten These und Forderung nach einer verfassunggebenden Versammlung will ich noch diesen Zusatz vortragen: Ich weiß, daß meine Erwartung nicht gerade populär ist. Weder sind von solch einer Debatte Steuererleichterungen noch Subventionen oder gar Arbeitsplätze im Schnellverfahren zu erwarten, jedoch würde die fortgesetzte Mißachtung des Grundgesetzartikels 146 den Verfassungsbruch sanktionieren und das Fundament der Bundesrepublik Deutschland folgenreich erschüttern. Am Ende hätten wir dann ein Staatswesen beliebiger Art, das leichtfertig "Berliner Republik" oder getrost auch anders heißen könnte. Auf jeden Fall wären wir weiterhin in schlechter Verfassung.
Meine zweite These spricht sich für eine Reform der Bundeswehr aus und erwartet vom nächsten Verteidigungsminister, daß er all jene Rüstungsaufträge storniert, die Herr Rühe kurz vor Ladenschluß den allzeit interessierten Waffenschmieden zugeschustert hat. Die Bundesrepublik befindet sich nicht in Gefahr. Sie benötigt keine Eurofighter, die Milliarden verschlingen, ein Steueraufkommen, das besser und zukunftsträchtiger im Bereich der Hochschulen und der Berufsausbildung investiert werden sollte. Das gleiche gilt für neue Panzer und sonstiges Kampfgerät, das, ich weiß nicht, welchen Feind abschrecken soll. Aber vielleicht meint der Verteidigungsminister Rühe, er könne durch solch forsches Draufsatteln von jenen Mißständen in der Bundeswehr ablenken, die dem Rechtsradikalismus das Kasernentor geöffnet und das Ansehen der Wehrpflichtigen geschädigt haben. Hätte er doch als oberster und verantwortlicher Dienstherr das Format gehabt, zurückzutreten, als die Skandale sich häuften. Ihm wäre gewiß Respekt erwiesen worden, und der gesamten Gesellschaft hätte er die jüngsten Exzesse seines galoppierenden Rüstungswahns erspart. So bleibt nur zu hoffen, daß uns die Bundestagswahl keine große Koalition und mit ihr als Wunderwaffe einen Vizekanzler Rühe beschert. Das zu verhindern ist Grund genug, mit dem Stimmzettel Bündnis 90/Die Grünen zu stärken, doch darüber später mehr. Noch ist mir mit meiner zweiten These die Bundeswehr wichtiger als die politische Zukunft von Herrn Rühe. Was ist gemeint, wenn ich mich für eine Reform ausspreche?
Weder ist ein Berufsheer noch der Austritt aus der NATO vonnöten. Wohl aber käme es darauf an, die Bundeswehr zu zivilisieren. Die alte, inzwischen vergessene Forderung nach dem "Bürger in Uniform" gilt es zu erneuern und den jungen Wehrpflichtigen und Ersatzdienstleistenden eine Tradition zu vermitteln, die sich weder auf Preußens angebliche Tugenden beruft noch die Erblast der Wehrmacht im Marschgepäck mitschleppt; wohl aber sollte der von deutschen Soldaten geleistete Widerstand gegen das verbrecherische System des Nationalsozialismus der Bundeswehr vorbildlich sein. Dazu gehört auch die Achtung vor all jenen, die, als Mord befohlen wurde, sich verweigert haben. Erst wenn dieser erwiesene Mut einer nicht geringen Zahl von deutschen Offizieren und Soldaten auch in der Bundeswehr als beispielhaft gilt, werden wir aus der Geschichte gelernt haben, wird den Neonazis in den Kasernen kein Gastrecht mehr eingeräumt werden und kann der Bürger in Uniform auch ohne Großen Zapfenstreich seinen Dienst leisten. Als Konrad Adenauer die Wünsche der westlichen Alliierten erfüllte und listig am Parlament vorbei die Wiederbewaffnung vorbereitete, standen sich bald und mit wachsendem Potential die Bundeswehr und die Volksarmee gegenüber. In beiden Armeen haben ehemalige Wehrmachtsgenerale den Ton bestimmt. Diese so feindselige wie gesamtdeutsche Geschichte liegt hinter uns.
Der neuen Regierung - und auch das sei Gerhard Schröder als Denkzettel ins Stammbuch geschrieben stellt sich die Aufgabe, jenseits von Rühe die Bundeswehr von den letzten Relikten der immer noch lastenden Vergangenheit zu befreien und sie auf Tugenden zu verpflichten, die zugleich demokratisch und zivil sind.
Meine dritte These gilt dem inneren Frieden. Er ist gefährdet. Aber nicht die hier Zuflucht, Arbeit, wenn möglich eine neue Heimat suchenden Ausländer sind die Gefahr, vielmehr ist es die Bundesregierung, die der latenten Feindseligkeit gegenüber Fremden mit immer neuen Erlassen Auftrieb gibt. Sie manipuliert statistische Erhebungen, sie malt Schrecknisse an die Wand, indem sie die Haßtiraden der Rechtsradikalen abkupfert, sie hält Flüchtlinge in Abschiebelagern hinter Schloß und Riegel, als seien sie Kriminelle, sie liefert Verfolgte nachweislich ihren Henkern in Nigeria, Algerien und in der Türkei aus, sie zwingt Familien, die mit Mühen den Massakern in Bosnien entkommen sind, zur Rückkehr in diese Gebiete, sie leistet sich einen Innenminister, der auszog, die Bürger das Fürchten zu lehren. Unter seiner Fuchtel ist Deutschland zu einem ungastlichen Land geworden. Weder die Ausländer noch die Bundesbürger sind vor ihm sicher. Was nach Orwells Sprachgebrauch "der große Lauschangriff" heißt, mag dem Demokratieverständnis eines Erich Mielke entsprochen haben, aber nun ist Herr Kanther der Meinung, daß all seine Anstrengungen nur der liebevolle Ausdruck einer allumfassenden Für- und Vorsorge sei.
Doch diese fürsorgliche Liebe ist erbarmungslos. Als jüngst im Bundesland Bayern ein Plakat der Grünen die traurige Erkenntnis verbreitete, daß Jesus Christus im heutigen Deutschland kein Recht auf Asyl bekäme, trat die Heuchelei in Chorstärke auf. Nur der Minister Kanther schwieg. Weiß er doch, daß, gegebenenfalls, die heilige Familie hierzulande in Abschiebehaft säße und er demnächst einen gewissen Jesus aus Nazareth irgendeinem Pontius Pilatus dieser Welt gesetzestreu ausliefern würde; dieser Mann weiß, was er will. Kürzlich hat er den Austausch von Beamten, die beim Bundeskriminalamt oder beim Bundesnachrichtendienst tätig sind, ohne gesetzliche Grundlage angeordnet. Wer so mutwillig die aus guten Gründen begrenzten Verantwortlichkeiten dieser beiden Behörden aufhebt, hat sich von allen rechtsstaatlichen Prinzipien losgesagt. Was aber hatte die sozialdemokratische Fraktion bewogen, ihre Prinzipien wie lästigen Ballast abzuwerfen und mit kleinem Wenn und Aber, zudem mit obligat schlechtem Gewissen, das Asylrecht zu verunstalten, dem großen Lauschangriff zuzustimmen und mitverantwortlich zu werden für die beschämenden Zustände in den Abschiebelagern?
Die SPD, deren beispielhafte Genossen, wie Willy Brandt und Ernst Reuter, den Naziterror nur überlebt haben, weil der eine in Norwegen, der andere in der Türkei Asyl fand, hat sich offenbar von diesem Teil ihrer Tradition verabschiedet, es sei denn, der Wählerwille zwingt sie demnächst, den abgeworfenen Ballast wieder einzusammein. Deshalb ist meine dritte These als Denkzettel an die Adresse von Oskar Lafontaine und Gerhard Schröder gerichtet: Deutschland muß wieder ein gastliches Land werden. Ein Land ohne Abschiebelager. Ein Land mit Bleiberecht. Ein Land, dessen innere Sicherheit nicht weiterhin durch regierungsamtliche Fremdenfeindlichkeit gefährdet werden darf. Ein Land, auf das wir in Grenzen stolz sein dürfen, weil es den Mühseligen und Beladenen Asyl gewährt. Drei Thesen. Manch einer mag sich fragen: Nur drei? Wie hält es der Redner mit der Steuerreform? Was fällt ihm zum Euro ein? Was hat er zum Ladenschlußgesetz zu sagen oder zum Benzinpreis und zur Atomenergie? Warum diese Abmagerung auf nur drei, zudem sperrige Themen? Ich habe mich auf sie konzentriert, weil ihre Thematik, soweit meine Kenntnis reicht, im Wahlkampf ausgespart ist oder allenfalls - was die innere Sicherheit betrifft - den Demagogen dienlich wird. Hinzu kommt die Dringlichkeit meiner ersten These, der ich noch einmal Nachdruck geben mochte, denn die bis heutzutage verhinderte Debatte über eine neue Verfassung wäre die geeignete Möglichkeit, zwischen Ost und West jene Einigungen zu erstreiten, die der angestrebten Einheit vorausgesetzt sein müßten. Niemand möge glauben, daß die neuerliche Spaltung Deutschlands einzig durch Geld oder ersatzweise Gutzureden zu überbrücken ist. Der von den Herren Schäuble und Krause dazumal ausgehandelte Einheitsvertrag hat sich als unzureichend erwiesen und allenfalls die Besitznahme des Ostens durch den Westen gefördert.