Ausgabe Oktober 2000

Abschied vom Westen?

Zur Debatte um die Historisierung der Bonner Republik

Historisierung, recht verstanden, ist nichts anderes als das Geschäft der Geschichtswissenschaft. Ereignisse, Strukturen, Prozesse werden in ihren zeitlichen Kontexten gedeutet, periodisiert, im Verhältnis von Kontinuitäten und Brüchen verortet. Professionelle Zeitgeschichte oder Neueste Geschichte bedarf für ihre analytische und hermeneutische Arbeit eines gewissen zeitlichen Abstands, der in der Regel im generationellen Wechsel zustande kommt und seinen technischen Ausdruck etwa in den meist dreißigjährigen Sperrfristen staatlicher Archive findet. Daraus ergibt sich eine prinzipielle Schwierigkeit der Diskussion über eine Historisierung der "Bonner Republik", denn wir befinden uns bei diesem Thema auf der Nahtstelle von bereits überblickbarer jüngster Geschichte und dem zehn- bis dreißigjährigen Niemandsland zwischen Zeitgeschichte und Gegenwart. Geschichtswissenschaftlich erprobte und diskutierte Deutungsmuster stehen hier kaum schon zur Verfügung (im angelsächsischen Sprachraum kennt man den Unterschied von Contemporary und Current History). Insofern liegt die Vermutung nahe, daß mit der Forderung nach einer Historisierung der "Bonner" oder der "alten" Bundesrepublik etwas anderes gemeint ist als eine professionelle Selbstverständlichkeit.

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Aktuelle Ausgabe November 2025

In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

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