Im Bereich der Humanwissenschaften beherrscht ein Buch den literarischen Spätsommer in Frankreich: La mémoire, l’histoire, l’oubli – Erinnerung, Geschichte, Vergessen – von Paul Ricoeur.[1] Der 87jährige Philosoph hat auf knapp siebenhundert Seiten noch einmal ein weitausholendes Werk vorgelegt. Von einer Phänomenologie der Erinnerung führt ein langer Weg über eine Erkenntnistheorie der Geschichtswissenschaft, eine Betrachtung über die condition historique des Menschen und über das Vergessen zu den abschließenden, religionsphilosophischen Überlegungen zur Vergebung. Die Zeitschriften „Esprit“ und „Magazine littéraire“ haben das Ereignis mit Sondernummern begleitet, und mehrere andere („Le Monde des débats“, „Philosophie“) brachten „Dossiers“ mit Vorabdrucken und Kommentaren; Alain Finkielkrauts Rundfunkreihe „Répliques“ widmete ihre erste Sendung nach der Sommerpause Paul Ricoeur. Der Auslieferung des Buches Anfang September gingen am 13. Juni ein stark applaudierter, zusammenfassender Vortrag im großen Auditorium der Sorbonne (in der Reihe der von der École des hautes études en sciences sociales veranstalteten Marc Bloch-Vorlesungen) und eine leicht gekürzte Veröffentlichung des Vortragstextes in „Le Monde“ (15. Juni) voraus.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.