Ausgabe April 2002

Sinn und Missbrauch internationaler Gerichtsbarkeit

Der gegenwärtige Prozess gegen den ehemaligen jugoslawischen Staatspräsidenten Milošević vor dem Tribunal in Den Haag ist ein dringender Anlass, sich grundsätzliche Gedanken über die Wege oder Abwege zu machen, die die internationale Gerichtsbarkeit derzeit einschlägt. Denn es handelt sich um ein noch junges Projekt der Kriegsjustiz vor dem Hintergrund einer Geschichte der Globalisierung militärischer Auseinandersetzungen, die nicht erst mit dem Ersten Weltkrieg 1914 beginnt. Sieger haben immer schon über die Besiegten zu Gericht gesessen. Das Bedürfnis jedoch, eine universelle Verantwortlichkeit und Haftung für Verbrechen im Krieg einzuführen, ist erst mit der Internationalisierung der Schlachtfelder und den zunehmend unkontrollierbar und grausamer werdenden Auswirkungen der modernen Waffentechnologie im 20. Jh. aufgekommen.

1. Kriegsverbrechen und die internationale Rechtsordnung

Als erstes völkerrechtliches Abkommen hat die IV. Haager Konvention im Jahr 1907 eine Individualhaftung für Kriegsverbrechen (Art. 3) formuliert, allerdings noch ohne Strafverfolgung. Diese sollte erstmals im Versailler Vertrag von 1919 gegen die Verantwortlichen des Weltkrieges als internationales Kriegsverbrecherverfahren praktiziert werden. Nach Art. 227 ff. sollten Kaiser Wilhelm II.

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In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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