Ausgabe Juli 2002

Breslauer Initiative

Wer in der Breslauer Altstadt auf dem Markt spaziert, wundert sich zunächst über das Denkmal des polnischen Dramatikers Aleksander Fredro, das vor dem historischen Rathaus steht. Der Romantiker hatte mit der Stadt an der Oder nie etwas zu tun. Um so mehr dafür mit der heute ukrainischen Stadt Lwów (Lemberg), in deren Nähe er geboren wurde und wo er im 19. Jahrhundert wirkte. Ohne Hitler und Stalin hätte es Fredro wohl kaum nach Breslau geschafft. Flüchtlinge aus den polnischen Ostgebieten setzten ihm, dem Dichter aus ihrer Heimat, nach dem Zweiten Weltkrieg ein Denkmal. Aus Lwów kamen besonders viele. Sie kamen als Vertriebene und fanden ihr Zuhause in Wohnungen und Häusern, in denen eben noch Deutsche wohnten. Innerhalb weniger Jahre ist die Bevölkerung Breslaus fast vollständig ausgetauscht worden.

Einige Tage bevor der Bundestag im Mai diesen Jahres die Initiative des Bundes der Vertrieben debattierte, in Berlin ein Zentrum gegen Vertreibung aufzubauen, machte die größte polnische Zeitung "Gazeta Wyborcza" mit einem offenen Brief zweier polnischer Publizisten an den deutschen Bundeskanzler und den polnischen Premierminister auf. Nicht Berlin, sondern Breslau solle das angedachte Zentrum beheimaten, lautete die Headline.

Sie haben etwa 12% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 88% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.