Ausgabe November 2003

Nationalbewusstsein als schwache Identität

Politisch unverdächtig lässt sich in Deutschland über nationale Identität sprechen, indem man ideologiekritisch die divergierenden Interessen hinter dem Anschein des Gemeinsamen entlarvt oder im Hinblick auf den Holocaust das Bewusstsein einer negativen Täter-Identität wachhält. Sich auf eine nicht negative Identität anders als ideologiekritisch besinnen zu wollen, zieht folglich einen Irrationalismusverdacht auf sich. Trotzdem mehren sich Bemühungen, einen mit der Wiedervereinigung zurückgewonnenen Spielraum des "Normalen" öffentlich auszuloten, zu dem auch eine zumindest nicht nur negative Identität gerechnet wird. So verbanden sich mit den Stichworten der "deutschen Leitkultur" oder des "Nationalstolzes" (wenig geglückte) Versuche, einer positiven nationalen Identität eine größere Rolle im politischen Bewusstsein zu verschaffen, wie dies schon mit der Suche nach "zustimmungsfähigen Inhalten" zur Zeit des Historikerstreites der Fall gewesen war. Außer auf positive Selbstverständnisse zielt der Normalitätsanspruch auch darauf, den Zweiten Weltkrieg stärker als zuvor aus der Perspektive selbst erlittenen Unrechts zu vergegenwärtigen.

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In der November-Ausgabe ergründen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey die Anziehungskraft des demokratischen Faschismus. Frank Biess legt die historischen Vorläufer von Trumps autoritärer Wende offen – ebenso wie die Lebenslügen der Bundesrepublik. Daniel Ziblatt zieht Lehren aus der Weimarer Republik für den Umgang mit den Autokraten von heute. Annette Dittert zeigt, wie Elon Musk und Nigel Farage die britische Demokratie aus den Angeln zu heben versuchen. Olga Bubich analysiert, wie Putin mit einer manipulierten Version der russischen Geschichte seinen Krieg in der Ukraine legitimiert. Ute Scheub plädiert für die Umverteilung von Wohlstand – gegen die Diktatur der Superreichen. Sonja Peteranderl erörtert, inwiefern sich Femizide und Gewalt gegen Frauen mit KI bekämpfen lassen. Und Benjamin von Brackel und Toralf Staud fragen, ob sich der Klimakollaps durch das Erreichen positiver Kipppunkte verhindern lässt.

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