Der amerikanische Wahlkampf geht seinem Höhepunkt entgegen. Nur noch wenige Tage liegen vor uns, bis am 2. November tatsächlich abgestimmt wird. Wie die Erfahrung der letzten Wahl lehrt, kann noch immer viel geschehen. So könnte es bei einem knappen Wahlergebnis wieder zu Anfechtungsklagen vor den Gerichten verschiedener Bundesstaaten kommen, was uns erneut mit der Chaotisierung der verfassungsmäßigen Ordnung konfrontieren würde.
Doch bereits jetzt stellt sich die Frage, was bislang aus diesem US-Wahlkampf in Sachen Demokratie zu lernen ist. Was heute schon feststeht, sind die folgenden Punkte.
Unser politisches System entstand im 18. Jahrhundert als ein antimajoritärer Entwurf. Die junge Republik wurde von ihren Bürgern - Bauern, Handwerkern, Händlern und Bankiers - als Freihandelszone verstanden. Selbst die Verfechter eines starken Staates - stark in Fragen der Expansion und Kriegführung, der nationalen Handelsmacht - wünschten keinen Nationalstaat, der einheitliche soziale Verhältnisse schaffen würde. Diese blieben den Einzelstaaten überlassen, zumal es vor allem anderen galt, eine Debatte über die Sklaverei zu vermeiden.
In dieser Situation schufen wir das Wahlmännerkollegium für die Präsidentschaftswahlen. In fast allen Bundesstaaten fallen dem Gewinner sämtliche Wahlmännerstimmen zu - egal wie knapp sein Vorsprung ist. In großen Staaten, in denen es heute demokratische Mehrheiten gibt (Kalifornien und New York beispielsweise), entwertet dieses Verfahren Wählerstimmen in beträchtlicher Zahl: Unter einem Verhältniswahlrecht würden sie zählen. Reformen, die dies ändern sollen, kommen nur langsam voran (wie die Wählerstimmen gerechnet werden, entscheiden die Einzelstaaten). Der nächste Präsident könnte also die eigentliche Wahl verlieren, aber im Wahlmännerkollegium dennoch gewinnen - genau wie George Bush im Jahr 2000.
Hinzu kommt, dass die Verteilung der Wahlmänner auf die Einzelstaaten den kleinen (zumeist republikanischen) Staaten ein stärkeres Gewicht verleiht als den größeren. Das gleiche Prinzip kommt im Falle des Senats zum Tragen, wo Kalifornien mit einer vierzigmal größeren Bevölkerung als South Dakota über die gleiche Anzahl an Senatoren verfügt wie letzteres, nämlich zwei. Darüber hinaus sind im Senat 60 von 100 Stimmen erforderlich, damit ein Gesetz überhaupt zur Abstimmung gestellt werden kann. Weit weniger als die Hälfte der Bürgerschaft kann auf diese Weise die Gesetzgebung dauerhaft blockieren.
Dies mag zu jener Entfremdung beigetragen haben, jener Enthaltung von politischer Partizipation, die zu einer Wahlbeteiligung von gerade mal 50 Prozent führt. Mit Sicherheit führt es dazu, dass Präsidentschaftswahlkämpfe sich kaum an den allgemeinen Interessen des Landes orientieren. In Staaten, die auf der Kippe stehen, sehen sich die Kandidaten regelrechter Erpressung durch gut organisierte Lobbies ausgesetzt. Gore verlor den normalerweise demokratisch wählenden Staat West Virginia (und damit die Mehrheit im Wahlmännerkollegium), weil er den uneingeschränkten Verkauf von Feuerwaffen kritisierte. Dergleichen passiert sogar dann, wenn landesweit Mehrheiten eine Politik unterstützen (etwa im Hinblick auf das Recht von Frauen, über Abtreibung selbst zu entscheiden), die von Minderheiten bekämpft wird. Wenn Lobbies in bestimmten Staaten ihre Hochburgen haben (wie die Israel-Lobby in Kalifornien und New York, die protestantischen Fundamentalisten im Süden und Westen, die kubanischen Castro-Gegner in Florida), können sie diese Staaten zum Ausgangspunkt bundesweiter Kampagnen machen, bei denen sie die Kandidaten nicht nur in diesen Hochburgen erpressen, sondern auch in solchen Staaten, wo die Entscheidung aus anderen Gründen knapp ausfällt. In ihrer Mehrheit vertritt die amerikanische Bevölkerung ziemlich offene, sogar moderne und säkulare Auffassungen über kulturelle und soziale Fragen wie Frauenrechte, sexuelle Selbstbestimmung und das Recht, anders zu sein. Dennoch bestimmen Themen wie Abtreibung, gesetzliche Gleichstellung von Homosexuellen oder christliches Schulgebet Wahlkämpfe nicht minder massiv als wirtschaftliche Ungleichheit, Umweltzerstörung und die Kosten imperialer Machtentfaltung.
Kerry hat sich im Wahlkampf gewiss alle Mühe gegeben, die Florida-Kubaner milde zu stimmen (indem er Härte im Umgang mit Castro versprach), desgleichen die Israel-Lobby (durch seine undifferenzierte Unterstützung Scharons). Gleichzeitig kränkte er die Frauenbewegung - die ihm angesichts des republikanischen Patriarchalismus beträchtliche Wählerpotenziale erschließen könnte -, indem er demonstrativ Abstand von ihr hielt, auf dass nur ja keine antifeministischen Männer Anstoß nehmen möchten. Sicher, ein von seiner Sache überzeugter Kandidat würde derartige Konzessionen nicht machen, aber der letzte demokratische Kandidat dieses Formats war George McGovern, 1972 - und der verlor gegen Richard Nixon haushoch. Die wichtigste Lektion, die Bill Clinton als Gouverneur und Präsident lernte, war seiner Autobiographie zufolge, dass man Veränderungen, die die Öffentlichkeit beunruhigen, streng rationieren muss. Das Argument hat einiges für sich; es fragt sich allerdings, ob Clinton unter dem Strich überhaupt irgendwelche größeren Veränderungen bewirkt hat.
Wer wählt - und wen?
Vor diesem Hintergrund lässt sich die Tatsache erklären, dass nur 50 Prozent an Wahlen teilnehmen. Sehr viele Bürgerinnen und Bürger betrachten sich als nicht vertreten, als ihrer Bürgerrechte dauerhaft beraubt. Man findet sie in unverhältnismäßig großer Zahl unter Schwarzen und Latinos, in den unteren Einkommensgruppen, unter den Jungen. Gebildete und wohlhabende Wähler machen einen überproportional großen Anteil des Elektorats aus - wobei die Faktoren Bildung und Wohlstand in einander entgegengesetzte Richtungen drängen: Höhere Bildung lässt Wähler einem offeneren, säkularen Weltbild zuneigen, aber höheres Einkommen veranlasst sie, eher republikanisch zu wählen. In den letzten Jahren haben die ohnehin schon schwächer als in Europa ausgebildeten Parteiloyalitäten noch weiter an Bindekraft verloren, entsprechend groß ist die Zahl der "unabhängigen" Wähler. Doch erfasst dieser Begriff häufig Bürger, die unfähig sind, politisch zu denken - gläubige Opfer der Pseudo-Neutralität unserer Medien.
Die Parteien verlassen sich hauptsächlich auf ihre eigenen Wählerklientele: Schwarze, Latinos, arbeitende Frauen, Gewerkschafter auf Seiten der Demokraten; protestantische Fundamentalisten, traditionalistische Hausfrauen, Antifeministen, Leute, die Steuern mit Konfiskation gleichsetzen, gedankenlose Chauvinisten und Waffenbesitzer bei den Republikanern. Die niedrige Wahlbeteiligung verstärkt diese Tendenz natürlich noch. Extreme Anstrengungen zur Mobilisierung von Stammwählergruppen bewirken eine systematische Verdünnung aller die Nation als Ganze betreffenden Inhalte der Wahlauseinandersetzung.
Was die Wahlbeteiligung noch weiter drückt, sind die unterschiedlichen Wahlgesetze und -bestimmungen der Einzelstaaten, von denen es abhängt, wie einfach der Zugang zu den Wahlen und der Wahlvorgang selbst sind. Die Diskriminierung von Vorbestraften ist weit verbreitet und hat erhebliche Auswirkungen auf die schwarze Bevölkerung. Bei den Wahlen in Florida im Jahr 2000 verweigerte die republikanische Verwaltung schwarzen Bürgern unter beliebigen technischen Vorwänden das Wahlrecht. Die Wahlen des Jahres 2004 werden durch erhebliche Probleme mit der Zuverlässigkeit elektronischer Wahlmaschinen belastet sein - deren verbreiteter Einsatz systematischem Betrug in großem Maßstab Tür und Tor öffnet. Da die Stimmzettel aus Papier, wie sie bei den vorigen Wahlen in Florida benutzt wurden, ihrerseits Probleme aufwerfen, wird es bei knappem Wahlausgang unmöglich sein zu sagen, ob die angegebenen Ergebnisse stimmen - und für die Gerichte unmöglich, eine unparteiische Kontrollfunktion auszuüben, selbst wenn sie das wollen, was beim Obersten Gerichtshof im Jahr 2000 nicht der Fall war.
Monetarisierung der Politik
Wenn die Präsidentschafts- und Kongresswahlen hinter uns liegen, wird eine Milliarde Dollar für sie ausgegeben worden sein. Es gibt Bundesgesetze zur Begrenzung der Wahlkampfaufwendungen nach Art und Umfang, aber es gibt auch eine Vielzahl strukturbedingter Gelegenheiten, diese zu umgehen. Angeblich überparteiliche Anzeigen und Plakate von Interessengruppen müssen Kandidaten oder Parteien nicht ausdrücklich erwähnen, um wirksame Wahlpropaganda zu betreiben (beispielsweise gegen strengere Regeln für die pharmazeutische Industrie). Ein Großteil der offenen oder verdeckten Kandidatenfinanzierung fließt in die Fernsehwerbung - ein Medium, das zu Simplifizierungen, Verfälschungen, ja sogar offenen Lügen geradezu einlädt. Die in solchen Anzeigen lancierten Themen (wie in der republikanischen Kampagne zur Herabsetzung des Kriegseinsatzes von Kerry in Vietnam) werden dann von Journalisten aufgegriffen und als "Nachrichten" behandelt.
Als Partei der unregulierten Marktwirtschaft ziehen die Republikaner erhebliche Mittel an, sowohl von großen wie kleinen Firmen. Besonders die großen, und ihre Lobby-Organisationen, können damit rechnen, auf sehr direkte Weise belohnt zu werden. Ihren Vertretern (oder kongenialen Wissenschaftlern und Technokraten) winken Posten in den Ministerien und Bundesbehörden, denen die Regulierung der betreffenden Wirtschaftssektoren obliegt. Regierungsämter und Kongressausschüsse lassen üblicherweise, wenn sie Gesetze ausarbeiten, die Firmen und ihre Verbände an diesem Prozess teilhaben - hinter verschlossenen Türen.
Auf diese Weise achten in der Gesundheitspolitik die Pharmakonzerne entschieden darauf, dass ihr Oligopol erhalten bleibt. Ein weiteres Schlüsselthema ist die gänzliche oder teilweise Privatisierung des staatlichen Rentensystems Social Security. Hier versuchen treue Diener der Wall Street wie der grotesk überschätzte Bundesbank-Vorsitzende Alan Greenspan seit Jahrzehnten, das Vertrauen der Öffentlichkeit ins Rentensystem zu zerstören. Sollten sie Erfolg haben, wären Billionen zu verdienen - und künftige Generationen von Amerikanern wären im Alter wieder arm.
Es stimmt, dass die Gewerkschaften, die gesellschaftlichen Interessengruppen und sozialen Bewegungen (auf Gebieten wie Verbraucherschutz, Erziehung und Gesundheitsvorsorge oder Umwelt) fast unterschiedslos auf Seiten der Demokraten stehen, sie durch Spenden und Mobilisierungsanstrengungen vor Ort unterstützen. Doch sind die Demokraten ebenso sehr die Partei des Kapitals - sei es auch seiner international orientierten Segmente - wie die Republikaner. Kerrys Wahlkampfberater sind größtenteils politische Lobbyisten aus Washington, die für notorische Umweltverschmutzer gearbeitet haben, für zutiefst ausbeuterische Pharmakonzerne, und für "Freihandel" agitierten, selbst wenn dies auf die Vernichtung gut bezahlter Inlandsjobs hinauslief. Die babylonische Bindung der Demokraten an die Israel-Lobby basiert nicht nur auf dem Bedürfnis, die jüdischen Stimmen in Kalifornien und New York zu gewinnen. Sie beruht auch auf der Tatsache, dass die - sehr wohlhabende - jüdische Gemeinschaft der USA, die im Finanzwesen, in Handel und Technologie gut vertreten ist, die Parteiausgaben in hohem Umfang finanziert.
Gelegentlich gibt es sehr reiche Spender wie gegenwärtig George Soros, die die Demokraten aus Gewissensgründen unterstützen: Sie möchten in einer anständigeren und gerechteren Gesellschaft leben. Das gilt für Senator Jon Corzine aus New Jersey und Clintons früheren Finanzminister Robert Rubin, beide ehemalige Chefs der Investmentbank Goldman Sachs, sowie hunderte weniger bekannter Millionäre. James Galbraith hat die Demokraten als die Partei der Armen und der Reichen beschrieben und ihre Führer aufgerufen, nicht länger so zu tun, als seien sie die Mittelschicht, hermetisch abgeschlossen vom Existenzkampf ihrer weniger wohlhabenden Landsleute. Andererseits sind selbst bescheidene Sozialreformen (oder die Verteidigung der bestehenden Programme zur Krankenversicherung von Senioren und der staatlichen Altersrenten für jedermann) kaum vorstellbar, wenn die Mittelschicht ihre Einstellung gegenüber öffentlichen Aufgaben nicht ändert. Die Monetarisierung der Politik hat, unter anderem, den öffentlichen Sektor ins Zwielicht gerückt. Nicht ohne Grund glauben die Angehörigen der Mittelschicht heute, Parteien seien, wie die meisten Dinge in ihrem Leben, käuflich.
Die Rolle der Medien
Es genügt, sich einige Stunden lang das amerikanische Fernsehen oder unsere Zeitungen, selbst die besten, zu Gemüte zu führen. Kaum ein amerikanischer Journalist wird je von Adorno gehört haben, aber alle bemühen sich eifrig, die vulgärste aller Philosophien zu verbreiten: Die Welt, so wie sie ist, ist die einzig mögliche. Wobei die Formulierung "die Welt, so wie sie ist" irreführt, denn es wird nicht das reale System aus Zwang und Korruption wiedergegeben, sondern die Fassade der Normalität, die es zur Schau stellt. Was die Franzosen "la pensée unique" nennen, trifft den Punkt: Es gibt keinen Platz für alternative Auffassungen über unsere Wirtschaft, unsere gesellschaftlichen Einrichtungen oder unsere Rolle in der Welt. Die Debatte bewegt sich, wenn überhaupt, in äußerst engen Bahnen.
Dies alles ist großenteils den Besitzverhältnissen und der Konzentration der Medien, der totalen Marktorientierung ihrer Eigentümer und deren unablässigem Gewinnstreben geschuldet. Es erscheint natürlich nicht sonderlich profitabel, die Öffentlichkeit mit komplizierten, kritischen Darstellungen der amerikanischen Macht- und Reichtumsverteilung zu (über)fordern. Dies umso weniger, als solche Darstellungen mit Sicherheit Sanktionen von Seiten derer auf sich ziehen, denen an einem freundlichen Bild vom Funktionieren des amerikanischen Kapitalismus liegt. Ebenso wenig Gewinn verspricht es, die Grundannahme der herrschenden Außenpolitik Amerikas in Frage zu stellen: dass unser Land weiß, was für den Rest der Welt gut ist - selbst wenn große Teile dieser Welt das beharrlich anders sehen.
Amerikanische Journalisten dienen Markt und Empire mit dem allerbesten Gewissen. Sie sind, wenn man von einigen respektablen Ausnahmen absieht, nicht besonders gebildet. In der Regel handelt es sich um Karrieristen, die einen sicheren Platz im Klassensystem erstreben. Beim Umgang mit Regierungsvertretern oder Finanz- und Industriemanagern bemühen sie sich, "Quellen" nicht zu verstimmen. Verleger und Redakteure, die nicht gern "umstrittene" Journalisten beschäftigen, verstärken diesen Konformismus. In der Regel handelt es sich um Selbstzensur der einzelnen Journalisten und die ideologischen Mechanismen des Herdentriebs.
Amerikas Medien haben die Unwahrheiten des Weißen Hauses über den Irak, über dessen Rüstung und die angebliche Kooperation mit Al Qaida, widerspruchslos akzeptiert. Ebenso unkritisch gingen sie mit dem Pentagon um, seiner Arroganz und seinem übertriebenen Selbstvertrauen. Sie berichteten, wenn überhaupt, nur sehr knapp über Äußerungen der Kritik in den USA und ignorierten die Antikriegsdemonstrationen hier und in aller Welt zunächst völlig. Entschuldigt haben sich für diese Beispiele totaler Abdankung einer demokratischen Presse bislang die "New York Times" (halbherzig) und die "Washington Post" (sehr verhalten). Rupert Murdochs TV-Sender "Fox" fungiert weiterhin unverdrossen als US-Gegenstück eines Reichspropagandaministeriums - und zwischen CNN International (das zunehmend wahrheitsgetreu über die Katastrophe im Irak berichtet) und CNN USA zeigen sich verblüffende Unterschiede. Im Rest der Medienszene finden sich gelegentlich Spuren journalistischer Integrität, doch geschah so gut wie nichts zur Förderung einer landesweiten Irak-Debatte. Stattdessen finden die selbst ernannten "Sachverständigen" in Sachen "Terrorismus" in den Monats- und Wochenzeitschriften, in Tageszeitungen und im Fernsehen unbegrenzte Möglichkeiten, sich zu produzieren. Bei einem Drittel der Nahund Mittelost-"Experten", die wir hören, handelt es sich in Wahrheit um Agenten der Sache Israels, und der Rest ist großenteils durch die Israel-Lobby eingeschüchtert.
Dies fand seinen Niederschlag im Umgang der Medien mit dem Wettbewerb um die Nominierung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Gouverneur Howard Dean wurde als der Kandidat, der gegen den Krieg auftrat, unermüdlich lächerlich gemacht. Die Reporter mochten ihn nicht, weil er ein ausgesprochener Patrizier ist, in dessen Gegenwart sie sich offenkundig wie die unsicheren Parvenüs fühlten, die sie sind. Kerrys immer verzweifeltere Versuche, seine eigenen patrizischen Ursprünge zu verbergen, täuschen sie nicht: Sie konstatieren, dass er ihnen gesellschaftlich überlegen ist, und reagieren mit Ressentiments.
Wir stehen vor einem Rätsel. "Klassenkampf" kommt im amerikanischen Journalismus durchaus vor. Aber der Begriff ist für die Demokraten reserviert, denen man vorwirft, mutwillig den sozialen Frieden zu stören, indem sie angeblich überholte Vorstellungen in die politische Debatte tragen, etwa durch Hinweise auf die Unterschiede bezüglich Einkommen, Reichtum und Lebenschancen. Die Erwähnung solcher Dinge gilt den Medien als untrügliches Indiz für den Rückfall in Amerikas soziale Steinzeit oder, horribile dictu, die Übertragung "europäischer" Ideen auf die USA. Über seriöse Kandidaten wie Edwards und Gephardt, die sich für eine Befassung mit den wirtschaftlichen Schwierigkeiten der großen Bevölkerungsmehrheit einsetzten, berichteten die Medien negativ. Kerry räumen sie Platz für die Erörterung ökonomischer Themen ein - nur um ihm dann zu unterstellen, er tue dies wegen seiner Schwäche in außenpolitischen Fragen.
Zudem verfügen die Medien über eine Technik, die es ihnen erleichtert, jegliche substanzielle Debatte überhaupt zu vermeiden. Die Präsidentschaftswahl ist personalisiert und trivialisiert. Den Familien und Ehefrauen der Kandidaten wurde erheblich mehr Aufmerksamkeit zuteil als Fragen wie der, was der eine oder andere Kandidat denn gegen den Export amerikanischer Arbeitsplätze in Niedriglohnländer zu tun gedenke. Eine Wahl, die die Chance zu einer wirklichen nationalen Debatte geboten hätte, wurde auf diese Weise zum Vehikel der zunehmend vulgären Propagierung eines amerikanischen Konsenses, den es in Wirklichkeit nicht gibt. Viele Bürgerinnen und Bürger spüren dies, beklagen, dass ihre Arbeits- und Alltagsprobleme im Wahlkampf nicht vorkommen, sind aber intellektuell nicht in der Lage, sich selbst zu verteidigen, geschweige denn, sich Alternativen vorzustellen.
Versagen der politischen Eliten
Nicht nur die Medien versagen. Unsere gesamte politische Elite trägt große Verantwortung für die gegenwärtige Situation. Sie beklagt diese in Artikeln, Büchern, Symposien, aber die meisten Mitglieder dieser Gruppe kennzeichnet weder moralische Beunruhigung über den Zustand der Nation noch das sichtbare Bedürfnis, ihn zu verändern. Tatsächlich finden sich die talentiertesten Amerikaner nicht in der Politik, sondern in Wissenschaft, Unternehmerschaft und freien Berufen. Und was die Politik selbst angeht, ist zu konstatieren, dass ihre qualifiziertesten Vertreter es so gut wie nie schaffen, Präsident zu werden.
Sowohl die Präsidentschaft als auch die Kandidatur für das Amt eröffnet Gelegenheiten politischer Pädagogik im nationalen Maßstab, Chancen einer gründlichen Auseinandersetzung mit dem Zustand der Nation und ihrer Institutionen - Chancen, die sowohl Bush als auch Kerry scheuen wie die Pest. Im Falle Bush handelt es sich bei dieser Fluchtreaktion um eine Angelegenheit geistigen und moralischen Ungenügens, im Falle Kerry lediglich um taktisches Kalkül - keine Ausnahme unter den demokratischen Größen der letzten Jahrzehnte, die (wie Carter und zu gegebener Zeit möglicherweise auch Clinton) die beste Figur erst machten, nachdem sie das Gefängnis des Weißen Hauses verlassen hatten. Es ist ein Gefängnis, weil sein Bewohner und dessen Stab unter der permanenten Beobachtung unerbittlicher Wächter stehen, die jeden Wandel für bedrohlich halten. Sie akzeptieren nur Präsidenten, die jegliche Änderung der gegenwärtigen, höchst ungleichen Verteilung von Macht und Reichtum ablehnen, deren Handeln der Ausweitung amerikanischer Macht in der Welt gilt (sogar oder vor allem, wenn diese Macht illusorisch ist) und die, was die Ökonomie betrifft, "Vollbeschäftigung" versprechen - nämlich für die Eliten, die heute diese Gesellschaft kommandieren. Statt der offenen Auseinandersetzung mit den wesentlichen Konflikten dominieren Techniken des politischen Managements, die häufig in zielgerichtete politische Manipulation umschlagen.
Kerry ist von vielen Demokraten vorgeworfen worden, er habe einen miserablen Wahlkampf geführt. Sie haben Recht, aber das Problem besteht nicht in seinem Mangel an poetischem Schwung, sondern darin, dass er Wahrheiten akzeptiert, die vermutlich keine sind. Die eine lautet, wesentliche Veränderungen unserer ökonomischen Einrichtungen seien weder wünschenswert noch möglich (nicht einmal Reparaturen der Art, wie sie zuletzt in großem Maßstab und mit beträchtlichem Erfolg Lyndon B. Johnson mit seiner Great Society unternahm). Die andere dieser vermeintlichen Wahrheiten besagt, es gäbe keine Alternative zu unserer derzeitigen Rolle in der Welt, die zur Stationierung amerikanischer Streitkräfte in 130 Ländern und zum permanenten Einsatz wirtschaftlicher Macht, militärischer Stärke (häufig in der Gestalt verdeckter Operationen, die das Völkerrecht verletzen) und politischer Einschüchterung führt, um andere Länder auf Washingtons Kurs zu bringen. Kerry hat seine Positionen offen dargelegt. "Ich bin kein Umverteiler," sagte er mit Blick auf seine Wirtschafts- und Sozialpolitik. Was die Außen- und Militärpolitik angeht, erklärt sich die anhaltende Widersprüchlichkeit seiner Stellungnahmen zum Irakkrieg aus der Unterstützung von Bushs Unilateralismus, mit der er seinen Wahlkampf begann. Abgesehen davon, dass er viele Schlüsselgruppen der demokratischen Wählerschaft entmutigte, hat er im Grunde genommen auch niemand sonst Anlass zu der Annahme gegeben, seine Politik werde sich wesentlich von derjenigen Bushs unterscheiden. Dabei würde sie in der Tat anders aussehen, weil eine demokratische Präsidentschaft den Interessengruppen innerhalb der Demokratischen Partei eine Vielzahl von Gelegenheiten bieten wird, den Präsidenten zu politischen Veränderungen zu bewegen.
Die Argumente über die Amerikanisierung europäischer Regierungstechniken durch Berlusconi, Blair, Chirac oder Schröder sind uns vertraut, aber jeder dieser Politiker hat aufgrund seiner parlamentarischen Mehrheiten mehr Macht als ein Präsident Kerry, sollte dieser tatsächlich ins Weiße Haus stolpern. Dass er das tun wird, kann man nicht ausschließen - aber dann hätten wir statt eines Präsidenten mit Allmachtsphantasien einen, den Ohnmachtsgefühle umtreiben. Das Repräsentantenhaus wird wahrscheinlich unter republikanischer Kontrolle verbleiben, auch wenn der Senat möglicherweise eine demokratische Mehrheit erhält. Wie auch immer: Ein Präsident Kerry stünde einem geteilten Kongress, einer gespaltenen Demokratischen Partei und einer fragmentierten Nation gegenüber.
Alternativen
Gibt es eine organisierte Opposition, die Wahlkämpfe dafür zu nutzen versucht, Strukturen zu verändern, die immer neue Niederlagen der Linken vorherbestimmen? Innerhalb der Demokratischen Partei gibt es ein ganzes Netzwerk solcher Gruppen, und dank kritischer Wochen- und Monatszeitschriften sowie einer neuen Kultur des Dissens im Internet besteht eine Gegenöffentlichkeit zu jener diskussionslosen Pseudo-Öffentlichkeit, an die sich die Medien und die gewöhnlichen Politiker wenden. Ralph Nader gehörte früher zu diesem Block, aber seit 2000 hat er ihn aufgegeben. Und umgekehrt, denn viele sind - zu Recht - der Auffassung, dass unter den gegenwärtigen Umständen der Kandidatur einer dritten Partei, die es riskiert, Bush die Rückkehr ins Präsidentenamt zu ermöglichen, selbst ein schwacher demokratischer Präsident vorzuziehen ist. Nader hat große Verdienste um unsere Republik. Seine jüngsten Aktivitäten lassen sich zwar als das Ergebnis einer verständlichen Frustration erklären - der ein seriöser Politiker aber nicht nachgeben dürfte. Die interessanteste Führungsfigur, die in den letzten Jahren hervortrat, ist Howard Dean. Und er verspricht auf lange Sicht ein hohes Maß an Öffentlichkeitswirksamkeit. Seine Vorwahlkampagne reaktivierte, gegen alle Erwartungen, eine amerikanische Opposition, die sich in selbstmitleidige Passivität verloren hatte. Ob diese Opposition Millionen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die unzufrieden sind, aber nicht darüber nachdenken, klar zu machen vermag, dass sie nicht Herr im eigenen Hause - Amerika - sind, ist eine durchaus offene Frage. Sollte die Antwort negativ ausfallen, dürfte es schlecht stehen um die Zukunft der amerikanischen Demokratie.