Ausgabe September 2004

Der Nationalsozialismus in transnationaler Perspektive

2004 hat sich in Deutschland und in Europa eine Tendenz fortgesetzt, die bereits seit einiger Zeit zu beobachten war: der Trend zur Europäisierung des öffentlichen Gedenkens an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts und damit an eine Vergangenheit, für die radikale Ideologien, zwei Weltkriege, Massenmord und Vertreibung die Leitmotive bilden. Die Erklärung zur Bildung eines europäischen Netzwerkes zu Flucht und Vertreibung, Gerhard Schröders Teilnahme an den Gedenkfeiern in der Normandie im Juni und in Warschau im August sowie die Fortentwicklung der Erinnerung an den Holocaust zum Bestandteil einer europäischen Identität verdeutlichen diese Entwicklung.

Auf den ersten Blick scheint sich Europa so im gemeinsamen Erinnern an sein trennendes Erbe zu vereinigen. Gleichzeitig hat das Gedenken an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts viel spaltende Kraft, sowohl innerhalb europäischer Staaten als auch zwischen ihnen: Litauen ringt mit dem doppelten Erbe von Nationalsozialismus und Stalinismus und der Frage der Vergleichbarkeit; in Frankreich, Norwegen und anderswo blitzt die Debatte über das Verhältnis von Widerstand und Kollaboration immer wieder auf; der Streit um Flucht und Vertreibung belastet bis heute das Verhältnis zwischen Tschechen, Polen und Deutschen. Alte Konfliktlinien werden so offensichtlich, und häufig ist es die europäische Erfahrung mit der NS-Zeit, an der sich die Auseinandersetzungen entzünden.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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