Ausgabe September 2006

Labile Ruhe im Libanon

Abschlussresolution Naher Osten des G8-Gipfels in St. Petersburg vom 16. Juli 2006 (Wortlaut)

Am Montag, den 14. August, ging der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah durch einen Waffenstillstand (vorläufig) zu Ende. Die Nachrichtenagentur AFP bilanzierte die Verluste und Schäden des Krieges seit Beginn der Kämpfe am 12. Juli wie folgt: Im Libanon wurden mindestens 1200 Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten.

Am Montag, den 14. August, ging der Krieg zwischen Israel und der Hisbollah durch einen Waffenstillstand (vorläufig) zu Ende. Die Nachrichtenagentur AFP bilanzierte die Verluste und Schäden des Krieges seit Beginn der Kämpfe am 12. Juli wie folgt: Im Libanon wurden mindestens 1200 Menschen getötet, die meisten davon Zivilisten. Auch rund 40 Soldaten der libanesischen Armee und Polizisten kamen ums Leben. Die Hisbollah-Miliz gibt an, dass 61 ihrer Kämpfer gestorben seien; bei der verbündeten Amal-Miliz sollen es sieben Mitglieder gewesen sein. (Israel spricht dagegen von 500 getöteten Hisbollah-Kämpfern.) Bei einem israelischen Bombenangriff wurden vier UNSoldaten getötet. Auf israelischer Seite wurden 41 Zivilisten und 117 Soldaten getötet. Fast eine Million Menschen sind im Libanon vor den israelischen Angriffen geflohen, vor allem Menschen aus dem stark betroffenen Südlibanon und aus dem Süden Beiruts. Tausende Raketen der Hisbollah schlugen im Norden Israels ein, unter anderem in den Städten Haifa, Nazareth,Tiberias und Karmiel. Über 300 000 Israelis suchten deshalb weiter südlich im Land Zuflucht. Die Zerstörungen durch die israelische Offensive im Libanon werden auf sechs Milliarden Dollar (etwa 4,7 Milliarden Euro) geschätzt. Nach libanesischen Angaben wurden neben Tausenden von Wohnhäusern und ganzen Vierteln 29 „lebenswichtige“ Einrichtungen zerstört oder beschädigt, darunter der Flughafen von Beirut, Häfen,Wasserreservoirs und Elektrizitätswerke. Zudem flossen seit dem Angriff auf das Kraftwerk in Dschije am 14. Juli schätzungsweise 30000 Tonnen Öl ins Mittelmeer und lösten damit eine Umweltkatastrophe aus. Im Verlauf der Kämpfe (vgl. auch die „Chronik des Monats“ in diesem Heft) hatten zunächst die G8 auf ihrer Jahrestagung in St. Petersburg über Möglichkeiten der Kriegsbeendigung debattiert; wir dokumentieren im Folgenden die einschlägige Abschlussresolution. Zur eigentlichen Grundlage des Waffenstillstands wurde die UN-Resolution 1701 vom 11.August. Desweiteren dokumentieren wir die Rede des israelischen Ministerpräsidenten Ehud Olmert vor der Knesset, mit der dieser am 17. Juli d.J. die israelische Bombardierung zu rechtfertigen versuchte, und abschließend eine Erklärung von Tariq Ali und anderen vom 3. August d.J. mit dem Titel „Kriegsverbrechen und Libanon“. – D. Red.

Abschlussresolution „Naher Osten“ des G8-Gipfels in St. Petersburg vom 16. Juli 2006 (Wortlaut)

Wir, die Staats- und Regierungschefs der G8, verleihen heute unserer wachsenden Sorge über die Lage im Nahen Osten Ausdruck, insbesondere über die steigende Zahl ziviler Opfer auf allen Seiten und die Schäden an der Infrastruktur. Uns eint die Entschlossenheit, auf Bemühungen zur Wiederherstellung des Friedens hinzuwirken. Wir bieten der aktuellen Mission des VN-Generalsekretärs in die Region unsere uneingeschränkte Unterstützung an.

Die Grundursache für die Probleme in der Region ist das Fehlen eines umfassenden Friedens im Nahen Osten.

Die aktuelle Krise ist auf die Anstrengungen extremistischer Kräfte zurückzuführen, die Region zu destabilisieren und die Hoffnung der palästinensischen, israelischen und libanesischen Bürger auf Demokratie und Frieden zunichte zu machen. Im Gazastreifen führten Anhänger der Hamas Raketenangriffe auf israelisches Hoheitsgebiet aus und entführten einen israelischen Soldaten. Im Libanon griff die Hisbollah Israel von libanesischem Gebiet aus an, wobei die Waffenstillstandslinie („Blue Line“) verletzt wurde, tötete und verschleppte israelische Soldaten und kehrte somit die positive Entwicklung, die mit dem Abzug Syriens 2005 begonnen hatte, in das Gegenteil um und untergräbt damit die demokratisch gewählte Regierung von Premierminister Fuad Siniora.

Diesen extremistischen Elementen sowie denen, die sie unterstützen, darf nicht gestattet werden, den Nahen Osten ins Chaos zu stürzen und einen noch weiter reichenden Konflikt zu provozieren. Die Extremisten müssen ihre Angriffe umgehend einstellen.

Des Weiteren ist entscheidend, dass Israel sich bei Ausübung seines Rechts auf Selbstverteidigung der strategischen und humanitären Konsequenzen seines Handelns bewusst ist. Wir rufen Israel auf, größtmögliche Zurückhaltung zu üben, um zu vermeiden, dass es unter der unschuldigen Zivilbevölkerung zu Opfern kommt und dass die zivile Infrastruktur Schaden nimmt, und von Handlungen abzusehen, welche die libanesische Regierung destabilisieren würden.

Höchste Priorität hat nun die Schaffung von Voraussetzungen für eine dauerhafte Einstellung der Gewaltanwendung als Grundlage für eine längerfristige Lösung. Dies erfordert unserer Ansicht nach:

>– die Rückführung der unversehrten israelischen Soldaten aus dem Gazastreifen und Libanon;

 

– die Einstellung des Beschusses israelischen Hoheitsgebiets;

– die Einstellung israelischer Militäroperationen sowie den baldigen Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gazastreifen;

– die Freilassung der inhaftierten palästinensischen Minister und Abgeordneten.

Der Rahmen für eine Beilegung dieser Streitpunkte wurde durch internationalen Konsens bereits geschaffen.

Durch die Resolutionen 1559 und 1680 des VN-Sicherheitsrats werden die tiefer liegenden Ursachen angesprochen, die der Krise im Libanon zugrunde liegen. Wir rufen den VNSicherheitsrat nachdrücklich auf, einen Plan für die vollständige Umsetzung dieser Resolutionen auszuarbeiten.

Wir bieten der Regierung Libanons unsere volle Unterstützung bei der Aufrechterhaltung ihrer staatlichen Autorität über ihr gesamtes Hoheitsgebiet in Erfüllung der VN-Resolution 1559 an. Dies schließt den Einsatz der libanesischen Streitkräfte in allen Teilen des Landes, vor allem jedoch im Süden, sowie die Entwaffnung von Milizen ein. Wir würden es begrüßen, wenn der VN-Sicherheitsrat die Möglichkeit einer internationalen Sicherheits-/Überwachungspräsenz prüfte.

Wir unterstützen ferner die Aufnahme eines politischen Dialogs zwischen libanesischen und israelischen Amtsträgern über alle für beide Seiten zu Sorge Anlass gebenden Fragen. Zusätzlich werden wir uns für die wirtschaftlichen und humanitären Bedürfnisse der libanesischen Bevölkerung einsetzen, auch durch Einberufung einer Geberkonferenz zu einem adäquaten Zeitpunkt.

Im Gazastreifen bot der Abzug Israels die Möglichkeit, einen weiteren Schritt in Richtung einer Zweistaatenlösung im Sinne der Roadmap zu gehen. Alle palästinensischen Parteien sollten die Existenz Israels akzeptieren, Gewalt ablehnen und alle früheren Vereinbarungen und Verpflichtungen einhalten, einschließlich der Roadmap. Israel muss seinerseits von einseitigen Maßnahmen absehen, die eine endgültige Lösung vereiteln könnten, und sich bereit erklären, in gutem Glauben Verhandlungen zu führen.

Unser Ziel ist ein umgehendes Ende der gegenwärtigen Gewaltanwendung sowie eine Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit und eines politischen Engagements sowohl der Palästinenser untereinander als auch mit Israel. Dies erfordert:

– die Einstellung terroristischer Anschläge auf Israel;

– eine Wiederaufnahme der Bemühungen von Präsident Abbas, eine Einhaltung der Grundsätze des Quartetts durch die palästinensische Regierung sicherzustellen;

– die sofortige Erweiterung des unter der Führung des Quartetts eingerichteten vorläufigen internationalen Geber-Mechanismus;

– die Einhaltung des Abkommens über die Bewegungsfreiheit und den Zugang vom November 2005 durch Israel sowie Maßnahmen betreffend andere Schritte, um die humanitäre Notlage der Menschen im Gazastreifen und im Westjordanland zu mildern;

– eine Wiederaufnahme der Sicherheitszusammenarbeit zwischen Palästinensern und Israelis;

– Maßnahmen um sicherzustellen, dass sich die palästinensischen Sicherheitskräfte an das palästinensische Recht und an die Roadmap halten, so dass sie vereint und wirkungsvoll für die Sicherheit der palästinensischen Bürger sorgen können;

– eine Wiederaufnahme des Dialogs zwischen palästinensischen und israelischen Politikern.

Diese Vorschläge sind unser Beitrag zu den laufenden internationalen Bemühungen, die Ruhe im Nahen Osten wiederherzustellen und im Einklang mit den einschlägigen Resolutio- nen des VN-Sicherheitsrats eine Voraussetzung für Fortschritte auf dem Weg zu dauerhaftem Frieden zu schaffen. Das Quartett wird auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen. Die G8 begrüßen die positiven Bemühungen von Seiten Ägyptens, Saudi-Arabiens und Jordaniens sowie anderer verantwortungsbewusster regionaler Akteure, den Frieden in der Region wiederherzustellen. Wir sehen dem Bericht über die Mission des Generalsekretärs der noch in dieser Woche dem Sicherheitsrat vorgelegt wird und von dem wir glauben, dass er einen Rahmen für das Erreichen unserer gemeinsamen Ziele darstellen könnte, erwartungsvoll entgegen.

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In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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