Ziele und Erfolge der Anti-AKW-Bewegung
Wer aus den Geburtsjahrgängen ab etwa 1975 kennt heute noch Ernst Albrecht? Wer weiß, dass dieser niedersächsische CDU-Ministerpräsident nicht nur erst für die absurde Standortbenennung von Gorleben als Ort für ein Atommüll-Endlager im Februar 1977 verantwortlich war, sondern dann auch, auf dem Höhepunkt einer massiven Protestwelle 1980, den für einen Regierenden seltenen Satz gesagt hat: „Die atomare Wiederaufarbeitungsanlage ist in Gorleben politisch nicht durchsetzbar“? Heute muss man immer erläutern, dass dieser Herr Albrecht der Vater von Ursula von der Leyen ist. Dann sagen auch manch Jüngere: „Ach der!“
Das schrittweise Verschwinden von Ernst Albrecht aus dem kollektiven Gedächtnis illustriert, welche Dimensionen allein in zeitlicher Hinsicht der anhaltende gesellschaftliche Großkonflikt um die Atomkraft allgemein und konkret jener um den Standort Gorleben inzwischen erlangt hat. Wesentliche Akteurinnen und Akteure der Anfangsjahre – egal von welcher Seite des Konflikts – sind inzwischen von der Bildfläche verschwunden. Ministerpräsidenten, Bundeskanzler und Umweltminister sind gekommen und gegangen, doch um Gorleben und die Atomkraft wird noch immer heftig gestritten.
Während die ursprünglich geplante Wiederaufarbeitungsanlage tatsächlich beerdigt werden musste, währt die Auseinandersetzung um das Atommüll-Endlager Gorleben jetzt schon bald 34 Jahre. Gorleben war von Anfang an mehr als ein Standort für diverse Atomanlagen. Gorleben war und ist der Ort, an dem sich das Verhältnis von Bevölkerung und Staat, von Regierten und Regierenden immer wieder verändert und neu definiert hat. Die Ereignisse im Wendland waren und sind daher immer auch Gradmesser dafür, wo die gesellschaftliche Debatte um die Atomenergie insgesamt gerade steht.
Widerstand im Aufwind
Die größte Demonstration im Wendland gegen die Gorlebener Atomanlagen fand 1977 statt. Wenige Wochen nach der Standortbenennung trafen sich 20 000 Menschen, um gegen die Pläne für ein „Nukleares Entsorgungszentrum“ zu protestieren. Die größte Demo gegen Castor-Transporte nach Gorleben gab es 1997 in Lüneburg. Damals kamen 25 000 Menschen zusammen.
Diese „Rekorde“ hatten bis zum 6. November 2010 Bestand. An diesem Tag demonstrierten zwischen den kleinen wendländischen Dörfern Nebenstedt und Splietau 50 000 Menschen gegen den Castor-Transport, gegen den weiteren Ausbau des ungeeigneten Salzstocks in Gorleben zu einem Atommüll-Endlager und gegen die Atompolitik der schwarz-gelben Bundesregierung. 400 Busse aus dem ganzen Bundesgebiet waren nach Dannenberg gerollt, 600 Trecker fuhren auf das Kundgebungsgelände – auch das einsame Rekorde in der bisherigen Gorleben-Geschichte. In den Tagen danach beteiligten sich zudem X-tausende an Blockadeaktionen auf Schienen und Straßen: Schon an der französisch-deutschen Grenze sorgten über 1000 Sitzblockierer auf den Gleisen dafür, dass der Zug mit den elf Castor-Behältern aus der Plutoniumfabrik La Hague umdrehen und eine andere Strecke nehmen musste, nur um dort von einigen Greenpeace-Aktivisten erneut stundenlang aufgehalten zu werden. Mit weiteren Kletter- und Ankettaktionen wurde der Zug auf seinem Weg durch die Republik immer wieder gestoppt. Unter dem Motto „Castor schottern“ versuchten etwa 4000 Menschen, Steine aus dem Gleisbett der für den normalen Verkehr gesperrten Bahnstrecke zwischen Lüneburg und Dannenberg zu entfernen. Zwar gelang dies aufgrund massiver Polizeigewalt mit Schlagstöcken und Reizgas nur an wenigen Stellen. Doch die Propaganda von den Chaoten, die beim „Schottern“ die Polizei angreifen, hat sich als falsch erwiesen. Etwa 60 von 4000 zelebrierten kurze militante Rituale, alle anderen hielten sich an das vorher vereinbarte Aktionskonzept.
Mit einer zwanzigstündigen Sitzblockade auf der Schiene, an der sich bei Minusgraden bis zu 5000 Menschen beteiligten, gelang es der wendländischen Initiative „WiderSetzen“, den Atommüll-Zug für eine Nacht zu stoppen. Nachschub und Verpflegung für die Polizei konnte nicht herangeschafft werden, da zentrale Verkehrsknotenpunkte durch die „Bäuerliche Notgemeinschaft“ blockiert waren. Die wendländischen Bauern hatten ihre Traktoren so geschickt abgestellt, dass normale Pkw gerade noch passieren konnten, die Kolonnen der Polizei aber aufgehalten wurden.
Nach einem Aufruf im „Radio Freies Wendland“ wurden mitten in der Nacht binnen einer Stunde Hunderte von Decken und riesige Mengen Lebensmittel für die Blockierer gespendet. So waren die Atomkraftgegnerinnen und -gegner deutlich besser versorgt als die Polizei. Als dann schließlich doch genug Beamte am Gleis waren, wurde stundenlang geräumt, teilweise auch unverhältnismäßig, unter Anwendung sogenannter Schmerzgriffe.
Bei einer weiteren Sitzblockade wurde die Straßenzufahrt des Zwischenlagers in Gorleben, dem Ziel der Atommüll-Fuhre, von etwa 4000 Menschen sogar 45 Stunden lang blockiert. An dem einen Ende der über etwa einen Kilometer reichenden Menschenmenge spielte eine Gruppe mit akustischen Gitarren und Akkordeon, am anderen wummerten die Bässe aus einem Lkw mit dem gigantischen Soundsystem der Gruppe „Party and Activism“, dazwischen sorgte eine Sambagruppe für Bewegung in der Kälte, und ein kirchlicher Posaunenchor spielte auf. Auch hier konnte die Polizei stundenlang nicht räumen, da der Konvoi mit den Einatzkräften zwei Dörfer vor Gorleben von riesigen Landmaschinen aufgehalten wurde. Außerdem wurde die Straßenstrecke zwischen Dannenberg und Gorleben stundenlang blockiert – von einem als Bierlaster getarnten Greenpeace-Lkw und von einigen Landwirten, die sich in einer Betonpyramide angekettet hatten.
Die neue Qualität des Protests: Sternstunden zivilen Ungehorsams
Es hat sich etwas verändert in diesen kalten wendländischen Novembertagen: Mehr als die Hälfte der Beteiligten war vorher noch nie in Gorleben, hat sich noch nie an einer solchen Blockadeaktion beteiligt – das ergab eine Umfrage während der Sitzblockade vor dem Zwischenlager. Ähnliches berichten die „Schotterer“. Und es sind keineswegs nur Jüngere, die neu dabei sind. Die Bürgerinitiativen bekamen in den Wochen vor dem Transport immer wieder Briefe und E-Mails von Leuten über 50 mit der Aussage: „Ich war noch nie in meinem Leben auf einer Demonstration, aber diesmal bin ich dabei, weil es mich so empört, wie die Bundesregierung mit den Stromkonzernen kungelt.“
Ein Bauunternehmen aus Dannenberg, vor 25 Jahren noch am Bau der Atomanlagen in Gorleben beteiligt und damals entsprechend heftig angefeindet, spendete diesmal die Dieselgeneratoren für die große Kundgebungsbühne. Die neue Vielfalt ist auch optisch zu erkennen: Unter den Demonstrantinnen und Demonstranten gibt es keinen einheitlichen Dresscode mehr wie noch in der Zeit der Brokdorfer „Friesennerze“ und Parkas. Heute läuft auch mancher Demonstrant mit Schlips und Anzug mit, wenn das auch bei den Wetterverhältnissen seltsam anmutete. Diese Beteiligung unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus fiel schon bei den vorherigen Anti-Atom-Großdemonstrationen des vergangenen Jahres auf: als im April 2010 120 000 Menschen eine Menschenkette zwischen Brunsbüttel und Krümmel bildeten und 20 000 Biblis umzingelten oder als im September 100 000 in Berlin und im Oktober 50 000 in München demonstrierten. Das sind Zahlen, die nicht alleine von den langjährig aktiven Atomkraftgegnerinnen und -gegnern zu erreichen sind.
Diese enorme Ausweitung des Protests hat viel damit zu tun, dass inzwischen in jeder Alterskohorte der Bevölkerung ein relevanter Anteil über Protesterfahrung verfügt, also irgendwann im Leben schon einmal demonstriert hat. Viele dieser Menschen führen aber inzwischen ein zutiefst bürgerliches Leben und verfügen über enge Kontakte in ihrem persönlichen Umfeld zu den vielen, die noch immer größere Schwellenängste gegenüber Protest jeglicher Art haben, weil sie es noch nie ausprobiert haben. Wenn dann gemeinsam im Freundeskreis, im Betrieb, Verein oder in der Nachbarschaft festgestellt wird, dass die Regierung eine Politik gegen die Interessen der Bevölkerung macht, dann ist der Schritt nicht mehr so groß, bis der/die Protesterfahrene sagt: „Dann komm doch mit auf die Straße.“ So eine persönliche Empfehlung wirkt tausendmal mehr als jeder Flyer.
Der zwölfte Castor-Transport nach Gorleben brauchte 92 Stunden, so lange wie nie zuvor. Dass er schließlich doch noch angekommen ist, war für die meisten Demonstrantinnen und Demonstranten dann allerdings herzlich irrelevant. Oft genug war vorher betont worden: Es geht letztendlich nicht darum, dass der Castor umdreht; das Ziel der Proteste ist eine Umkehr der Bundesregierung in der Atompolitik. So gesehen ist die Euphorie, mit der viele Aktive trotz aller Erschöpfung nach Tagen des Widerstandes das Wendland wieder verlassen haben, etwas zweischneidig. Schließlich hat die Bundeskanzlerin angesichts der Ereignisse rund um den Castor keineswegs erklärt, dass das neue Atomgesetz ein Fehler ist, sie den Deal mit den Stromkonzernen bitter bereut und alles wieder rückgängig machen wird. Doch so funktionieren politische Prozesse auch gar nicht. Gesellschaftlicher Druck entwickelt nur langsam seine Wirkung, muss sich seinen Weg durch die Institutionen erst suchen. Trotzdem ist die Bewegung ihrem Ziel, der Stilllegung aller Atomkraftwerke und den Verzicht auf den maroden Gorlebener Salzstock, in diesen wendländischen Tagen entscheidende Schritte näher gekommen.
Der erste Faktor sind die Demonstrantinnen und Demonstranten selbst: Es war anstrengend, es war kalt, viele haben kaum Schlaf gefunden, manche wurden mit Polizeigewalt konfrontiert. Und trotzdem nehmen fast alle neue Energie und Motivation mit nach Hause. Trotz der Bundestagsentscheidung für Laufzeitverlängerungen und trotz der Ankunft des Castor-Transports in Gorleben sind Resignation oder Ohnmachtsgefühl am Ende des bewegten Jahres 2010 Fremdworte für die Anti-AKW-Bewegung. Nein, diese Bewegung ist selbstbewusst wie nie, und das lässt für die nächsten Monate Großes erwarten. Auf einem selbst gemalten Plakat in Gorleben stand denn auch treffenderweise: „Ihr werdet Euch noch wünschen, wir wären politikverdrossen!“
Auch das ist neu: War die westdeutsche Friedensbewegung 1983 noch in sich zusammengebrochen, als der Bundestag die Stationierung neuer Atomraketen beschlossen hatte, gegen die man jahrelang demonstriert hatte, so ist das in der Anti-AKW-Bewegung heute anders: Weil so viele nicht einverstanden sind mit den Beschlüssen von Regierung und Parlament, darunter auch Millionen von Menschen, die diese Regierung gewählt haben, wollen sie nun dafür sorgen, dass diese Entscheidungen nicht umgesetzt werden.
Die traditionelle Grundhaltung weiter Teile der Gesellschaft – „Wir kleinen Leute können ja sowieso nichts ändern, die da oben machen ja doch was sie wollen“ – weicht nach und nach auf. Daraus entsteht eine weitere Besonderheit der neuen Bewegung gegen Atomenergie: Sie hat sich am Scheideweg, der irgendwann auf jede Protestbewegung zukommt, nämlich der Frage, ob nun eine Intensivierung der Aktionsformen oder eine weitere Verbreiterung ansteht, einfach für beide Wege entschieden. Soziologen würden das Phänomen dieser Tage wahrscheinlich als Pyramide voller Menschen darstellen, die plötzlich einige neue, breitere Stockwerke an der Basis dazugewonnen hat und bei der sich viele Menschen aufgemacht haben, ein oder zwei oder mehr Stockwerke nach oben zu klettern. Will heißen: Einerseits ist die gesellschaftliche Breite der Bewegung in den letzten Monaten nochmals deutlich gewachsen, andererseits sind aber auch immer mehr Menschen zu weiter gehenden Aktionen bereit. Viele, denen das Thema bisher egal war, haben jetzt verstanden, worum es geht und sympathisieren mit der Anti-AKW-Bewegung. Diejenigen Atomkraftgegnerinnen und -gegner, die nicht mit im Wendland waren, sind durch das, was sie in den Medien miterleben konnten, angestoßen worden, in Zukunft selbst stärker aktiv zu werden. Und alle, die dabei waren, ob „nur“ bei der Großdemo oder bei den unzähligen Aktionen rund um den Transport, wissen nun, was sich bewegen lässt, wenn man erst einmal damit anfängt. Viele machen sich jetzt also auf der Aktivitätspyramide auf den Weg nach oben (was ganz wertfrei gemeint ist), auf zu weiter gehendem Engagement: Wer bisher nur dagegen war, beginnt nun zu demonstrieren. Wer schon mal auf einer Demo war, beteiligt sich jetzt an Sitzblockaden. Und viele der Blockierer vom letzten Castor-Transport waren diesmal schottern. Dazu kommen dann noch diejenigen, die gleich etliche Stufen auf einmal überspringen.
Ziviler Ungehorsam ist damit nicht mehr nur etwas für die üblichen Verdächtigen, sondern wird bis weit ins Bürgertum als legitime Form der politischen Partizipation anerkannt. Aus meiner Sicht ist deshalb nicht allein das in den Medien heiß diskutierte „Schottern“ die entscheidende Neuerung rund um den jüngsten Castor-Protest. Mindestens genauso bedeutend ist die einer breiteren Öffentlichkeit bisher verborgen gebliebene Tatsache, dass ein großer, altehrwürdiger und fast schon staatstragender Umweltverband wie der BUND offiziell zu Sitzblockaden in Gorleben aufgerufen hat.
Einsame Akkreditierungsrekorde: Das neue mediale Interesse
Der zweite Faktor ist die Öffentlichkeit: Bei den vorherigen Atommüll-Fuhren nach Gorleben war in den Medien oft ein Bild nach dem Motto entstanden: Diese Wendländer spinnen ein bisschen, ketten sich an Beton, fahren Trecker, zünden Strohballen an und sitzen nachts auf Bahnschienen. Teilweise wurde fast mit einer ethnologischen Brille berichtet. Diesmal war es anders, auch, weil die Medien mehr Aufwand betrieben. 650 Journalistinnen und Journalisten waren im Wendland akkreditiert, auch dies ein neuer Rekord. Und sie haben weit mehr rübergebracht als die sonst übliche „Sportberichterstattung“ mit den neuesten Castor-Fahrzeiten oder den mühsam zusammengesuchten Bildern einiger weniger Schwarzvermummter. Diesmal ging es um die neue Qualität des Protests: Fast eine Woche lang waren die ungelöste Atommüllentsorgung, die verantwortungslose Atompolitik der Bundesregierung und der mutige Aufstand der Bevölkerung das Thema Nummer 1 in den Medien. Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte den Tenor weiter Teile der liberalen Öffentlichkeit zum Ausdruck: „Der schwerste Fehler, den Angela Merkel aber je gemacht hat, ist die Verlängerung der Laufzeiten für die Kernkraftwerke. Ohne Not hat sie dem Drängen der Industrie nachgegeben und ein Fass aufgemacht, aus dem Unheil quillt nicht nur für sie und die Union.“[1]
Als am Tag des „Schotterns“ eine kleine Gruppe auf einem Panzerwagen der Polizei ein Feuer entzündete, drohte die Berichterstattung allerdings kurzzeitig zu kippen und die bisher vorherrschende Atom- durch eine Gewaltdebatte ersetzt zu werden. Gesellschaftliche Großkonflikte sind immer auch ein Kampf um die Bilder; man denke nur an den Wasserwerfer-Einsatz in Stuttgart. Das Foto des brennenden Polizeifahrzeugs im Wald bei Dannenberg drohte also, die ganze Bewegung zu diskreditieren. Doch glücklicherweise wurde dieses singuläre Ereignis bald überlagert von neuen Bildern: Die nächtliche Schienenblockade der 5000 bei Harlingen war das stärkere Ereignis. Insgesamt lebt der wendländische Widerstand davon, dass es einen breiten Konsens darüber gibt, keine Aktionen zu starten, die Menschen gefährden. Erstaunlich ist trotzdem immer wieder, wie nach fast 34 Jahren Trickserei von Atomwirtschaft und diversen Bundesregierungen, nach 34 Jahren polizeilicher Gewalt und skandalöser Urteile die Menschen vor Ort ihre mehr als verständliche Empörung in den Griff bekommen und daraus neue Energie für den gewaltfreien Widerstand machen. Also nicht die Gewalt weniger Einzelner ist die eigentliche Sensation, sondern die Gewaltfreiheit vieler. Angesichts der eindrucksvollen Sitzblockaden auf Schienen und Straßen haben die Medien das offenbar anerkannt und entsprechend transportiert.
Ungeahnte Solidarisierungen: Freund und Helfer Polizei
Der dritte neue Faktor ist die Polizei: Deutlich wie nie haben sich Polizeigewerkschaften, aber auch tausende Beamte mit dem Anliegen der Demons-
tranten solidarisiert und einer erstaunten Öffentlichkeit deutlich gemacht, dass die Polizei nicht willens und nicht in der Lage ist, weiter für eine verfehlte Politik der Bundesregierung ihren Kopf hinzuhalten. Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Konrad Freiberg, erklärte beispielsweise in einem Interview mit der wendländischen „Elbe-Jeetzel-Zeitung“: „Wir dürfen nicht irgendwelchen Lobbyinteressen nachkommen, wenn es um die Zukunft unseres Landes geht. Sonst wird ein Spalt in die Gesellschaft getrieben. […] Ich glaube, dass die Dimensionen des Protests zunehmen, wenn die Bundesregierung ihren Kurs nicht ändert. Ich hoffe nicht, dass wir unter diesen Umständen einen weiteren Castor-Transport zu schützen haben. Es wäre ein Einsatz, der, so glaube ich, die Kräfte der Polizei übersteigen würde.“[2]
In der Öffentlichkeit bleibt hängen: Da will die Bundesregierung mit dem Kopf durch die Wand und benutzt dazu noch nicht mal ihren eigenen Kopf, sondern schickt Polizeibeamte vor und versteckt sich dahinter.
Unter dem Strich hat sich die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit in diesen Castor-Tagen noch einmal deutlich weiter von der atompolitischen Position der Bundesregierung wegbewegt. Begonnen hatte diese Dynamik ja schon mit den Menschenketten und Großdemonstrationen im April und September 2010. Aber nachdem sich Angela Merkel für den radikalsten Weg entschieden hat, nämlich alle 17 Reaktoren noch mindestens zehn Jahre länger laufen zu lassen, haben sich auch viele abgewandt, die ansonsten von der zumindest rhetorisch moderateren Linie des Bundesumweltministers, Norbert Röttgen, hätten besänftigt werden können – hätte er sich denn in den Verhandlungen mit der Atomwirtschaft durchgesetzt. So sind nun fast alle dagegen, die vom neuen Energiekonzept der Bundesregierung angeblich profitieren sollen: Das Konzept soll Arbeitsplätze bringen, aber die Gewerkschaften lehnen es ab. Es soll die Erneuerbaren Energien stärken, aber die Verbände der Erneuerbaren streiten gegen das Gesetz. Die besonders negativ betroffenen Stadtwerke starten sogar eigene Kampagnen gegen Atomkraft, und die angesehene Präsidentin des Städtetags, Frankfurts CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth, geht als streitbare Kritikerin vorneweg. Für die Anti-Atomkraft-Bewegung birgt die Situation nach der Bundestagsentscheidung allerdings ein Problem: Das neue Atomgesetz tritt zum 1. Januar 2011 in Kraft. Damit ist die Hauptauseinandersetzung um die AKW-Laufzeiten bis auf Weiteres beendet, und es ist nicht davon auszugehen, dass die jetzige Regierung dieses Paket vor der nächsten Wahl im Jahr 2013 noch einmal aufschnürt. Aktuell gibt es also keinen Hebel, um die Frage der Laufzeiten kurzfristig wieder auf die Agenda zu setzen.
Immerhin gehen einige Landesregierungen nun nach Karlsruhe, um überprüfen zu lassen, ob das Atomgesetz durch den Bundesrat muss. Das kann gutgehen oder auch nicht; verlassen kann sich die Bewegung auf das Bundesverfassungsgericht allerdings nicht. Schließlich entscheidet das Richterkollegium über eine knifflige staatsrechtliche Frage und nicht darüber, ob die Nutzung der Atomenergie überhaupt zu verantworten ist. Ja mehr noch: Da das Gericht das Image eines zuverlässigen gesellschaftlichen Schiedsrichters hat, ist der Gang nach Karlsruhe nicht ohne Risiko für die Bewegung. Denn wenn die Richter zu dem Schluss kommen, die Verlängerung der Laufzeiten ist auch ohne Zustimmung des Bundesrats zulässig, wird ein Teil der Öffentlichkeit denken, damit seien auch die AKWs legitimiert.
Die nach wie vor auf Hochtouren laufende Anti-Atom-Bewegung braucht also andere Werkzeuge und Strategien. Möglichweise geht es aber auch ohne viel Strategie: Steht ein Gefäß von innen mehr und mehr unter Druck, wird irgendwann die schwächste Stelle nachgeben, auch wenn vorher nicht klar ist, welche genau das sein wird. Allerdings gibt es dafür konkrete Ansatzpunkte: Die Auseinandersetzung der nächsten Monate wird sich stärker auf einzelne AKW-Standorte und die Stromkonzerne verlagern. Die Landesregierungen müssen dazu gebracht werden, die Sicherheitsauflagen für einzelne Reaktoren zu erhöhen. Vor allem die zukünftige baden-württembergische Regierung muss zu einem Richtungswechsel in Sachen Neckarwestheim und Philippsburg bewegt werden, egal wie die Wahl im März ausgeht. In Norddeutschland besteht die reale Chance, die für 2011 geplante Wiederinbetriebnahme der seit dreieinhalb Jahren stillstehenden Vattenfall-Reaktoren Krümmel und Brunsbüttel zu verhindern. Die Konzerne werden zu diesem Zweck mit regional zugespitzten Stromwechselkampagnen unter Druck gesetzt werden. Wesentliche Termine des Anti-AKW-Kalenders 2011 sind der 12. März mit einer Menschenkette vom AKW Neckarwestheim bis Stuttgart, der 25. April mit großen Protesten an den meisten AKW- und Atommüll-Standorten im Kontext des 25. Jahrestags der Tschernobyl-Katastrophe, und schließlich im November der nächste Castor-Transport nach Gorleben.