
Bild: Ein Aktivist mit Putin-Maske in Lingen, 27.6.2024 (IMAGO / diebildwerft)
Seit fast zwei Jahren ist die deutsche Atomstromproduktion Geschichte. Am 15. April 2023 wurden die letzten AKW heruntergefahren und damit der Ausstieg besiegelt. Dennoch schalteten insbesondere CDU/CSU beim Thema Atomkraft bereits im Sommer 2024 in den Vorwahlkampfmodus. Die Entscheidung der Ampelkoalition, nach dem sogenannten Streckbetrieb 2023 am Ausstiegsplan festzuhalten, sei rein ideologisch begründet, hieß es. Die FDP wiederum hatte zwar auf ihrem Bundesparteitag im April 2024 einen Wiedereinstieg abgelehnt, setzte vor der Bundestagswahl aber doch auf Atomkraftwerke „neuer Generation“. Auch die AfD versprach sich von einem Pro-Atom-Kurs Wählerstimmen.
Diesen Bekenntnissen ist gemein, dass sie sich mit den realen Hindernissen eines Wiedereinstiegs nicht auseinandersetzen. Selbst die Betreiber winken aus betriebswirtschaftlichen Erwägungen ab: Die ehemaligen Atomkonzerne sind seit dem Zeitpunkt der Stilllegung gesetzlich verpflichtet, unverzüglich mit dem Rückbau zu beginnen, und haben schon aus finanziellen Gründen kein Interesse daran, den teuren Abriss ihrer Altanlagen zu verzögern, geschweige denn, sie wieder in Betrieb zu nehmen. Es ist also auch unter den neuen Mehrheitsverhältnissen im Bundestag nicht zu erwarten, dass diese Ankündigungen zu einem Wiederanfahren der letzten deutschen AKW führen werden oder auch nur könnten.
Und dennoch gibt es atompolitisch in Deutschland, mit Blick auf unsere Nachbarn und auf die EU viel zu klären. Der deutsche Atomausstieg muss so lange als unvollendet angesehen werden, wie im emsländischen Lingen Brennelemente für den Export produziert werden und in Gronau weiterhin Uran für den Einsatz in Atomkraftwerken angereichert wird. Ein Rechtsgutachten des Verwaltungsrechtlers Wolfgang Ewer stellte schon 2017 fest, „dass ein Gesetz zur Beendigung der Urananreicherung und der Brennelementefertigung mit hoher Wahrscheinlichkeit vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hätte, wenn Übergangsfristen und unter bestimmten Umständen auch nachrangig Entschädigungen vorgesehen würden“.[1] Die Regierung Merkel lehnte es damals jedoch ab, einen entsprechenden Vorschlag des Umweltministeriums umzusetzen. Den deutschen Atomausstieg in diesem Sinne zu vollenden, diese Anlagen stillzulegen und mit Nachdruck am Ausbau der erneuerbaren Energien zu arbeiten, wäre ein starkes Signal an die europäischen Nachbarn: Ein Europa ohne fossile Energieträger und ohne Atomkraft ist möglich.
Enorme Sicherheitsrisiken
Doch zeigt ein Blick in die EU: Die 27 Mitgliedstaaten sind sich in der Frage des Atomausstiegs alles andere als einig. So setzen mehrere direkte Nachbarn Deutschlands wie Frankreich, Tschechien, Belgien und die Schweiz derzeit auf Laufzeitverlängerungen oder lassen ihre Altanlagen in den Langzeitbetrieb übergehen. Damit sind die AKW teilweise deutlich länger als jene 40 Jahre in Betrieb, für die die meisten Anlagen ursprünglich ausgelegt waren.
Die damit verbundenen Sicherheitsrisiken sind enorm. Laut einer Analyse des Genfer Instituts Biosphère zu den Risiken eines schweren Atomunfalls ist das Schweizer AKW Leibstadt „das für Deutschland gefährlichste Atomkraftwerk“.[2] In Tschechien läuft der Planungsprozess für den Bau eines bisher völlig unerprobten Small-Modular-Reactor-Kraftwerks, die sogenannten SMR, am Standort Temelín.[3] Die deutsche Politik hat also auch nach dem Ausstieg aus der heimischen Atomstromproduktion im Austausch mit den Nachbarstaaten noch viel zu tun, um die Bevölkerung vor atomaren Gefahren zu schützen.
Frankreich: Der nukleare Rollback
Vor allem Frankreich forciert den nuklearen Rollback in Europa und hält an der Atomkraft fest – auch weil es die zivile Atomenergie für Bau, Unterhaltung und Modernisierung seines Atomwaffenprogramms benötigt.[4] Die französische Atomflotte ist jedoch zunehmend überaltert und der einzige AKW-Neubau, der als Prestigeprojekt geplante EPR-Reaktor in Flamanville, erweist sich als technisches und finanzielles Desaster.[5] Erst im Dezember 2024 ist das neue AKW ans Netz gegangen. Doch schon jetzt weist der eingebaute Reaktordruckbehälter gravierende Sicherheitsmängel auf und muss bald ausgetauscht werden. Unter Volllast kann das Kraftwerk unterdessen nicht betrieben werden. Statt der ursprünglich geplanten Baukosten von 3,3 Mrd. Euro kostete der Neubau nach 17 Jahren Bauzeit 23,7 Mrd. Euro.[6] Der französische Rechnungshof zog daraus die Konsequenz, die Neubaupläne für sechs weitere Atomkraftwerke vorerst zu stoppen, bis die Ertragszahlen von Flamanville vorliegen. Schon heute wird der vermeintlich billige Atomstrom in Frankreich zu einem großen Teil aus Steuergeldern finanziert.[7] Hinzu kommt die zunehmende Trockenheit im Sommer, die an einigen der 18 französischen Reaktorstandorte die Kühlung erschwert. Der Klimawandel dürfte sich daher auch in Zukunft negativ auf die Auslastungsentwicklung des französischen Reaktorparks auswirken.
Die verfehlte Energiepolitik Frankreichs betrifft Deutschland aber nicht nur aufgrund der Risiken durch grenznahe Anlagen. So betreibt ANF, eine Tochter des mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen französischen Atomkonzerns Framatome, im emsländischen Lingen eine Brennelementefabrik, die ausgebaut werden soll. Dafür hat Framatome den russischen Staatskonzern Rosatom ins Boot geholt. Rosatom ist führend im internationalen Uran- und Nukleargeschäft und plant weltweit den Bau neuer Atomkraftwerke.[8] Im Dezember 2021, nur zweieinhalb Monate vor dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine, bekräftigten Rosatom-Generaldirektor Alexej Lichatschow und Framatome-Chef Bernhard Fontana ihre Zusammenarbeit mit einer neuen strategischen Vereinbarung.
Für die Erweiterung der Brennelementeproduktion in Lingen hatte Framatome zunächst gemeinsam mit der Rosatom-Tochter TVEL ein Joint Venture in Lingen beim Bundeskartellamt und beim Bundeswirtschaftsministerium beantragt. Mit Beginn des Krieges in der Ukraine wurde der Antrag jedoch zurückgezogen, nachdem Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck deutliche Zweifel an der Genehmigungsfähigkeit geäußert hatte. Stattdessen wurde 2023 das russisch-französische Joint Venture unter dem Namen „European Hexagonal Fuels S.A.S.“ in Lyon gegründet.[9] Frankreich will mit dem Ausbau der Brennelementeproduktion den osteuropäischen Markt erobern und verkauft das Projekt als Weg zur Unabhängigkeit vom russischen Einfluss.
In Lingen sollen spezielle sechseckige Brennelemente für Atomkraftwerke des russischen Reaktortyps WWER-440 hergestellt werden. Derzeit betreiben noch fünf EU-Staaten Reaktoren der WWER-Linie: Bulgarien, Finnland, Ungarn, die Slowakei und Tschechien. Die Brennelemente für diese Reaktoren wurden bisher ausschließlich aus Russland geliefert.[10] Um diesen Markt mit bedienen zu können, benötigt Fram-atome entsprechende Maschinen und das Know-how von Rosatom. Die russische Seite hat unterdessen ein Interesse, die europäische Abhängigkeit von Russland zu vertiefen.
Dagegen formierte sich Widerstand aus der Zivilgesellschaft. Mehr als 10 000 Einwendungen von Einzelpersonen und Verbänden gingen beim niedersächsischen Umweltministerium ein. Von Protest begleitet und unter großer Beteiligung durch ein Bündnis von Umweltverbänden und Anti-Atom-Initiativen, wurden die Einwendungen im November 2024 in Lingen erörtert. Noch hat das Landesumweltministerium nicht über den Antrag auf Produktionserweiterung unter Einbeziehung von Rosatom befunden; voraussichtlich wird dies auch eine neue Bundesregierung noch beschäftigen. Denn über den Fortgang der Brennelementefertigung in Lingen entscheidet nicht nur das Land, sondern auch der Bund. Die neue Bundesregierung wird sich dabei in einem Geflecht geopolitischer Interessen wiederfinden, denn die französischen Nachbarn haben offensichtlich ein starkes Interesse, an der Kooperation mit dem russischen Nuklearkomplex festzuhalten.
Strategisches Instrument des Kreml
Wladimir Sliwjak, Co-Vorsitzender der russischen Umweltorganisation Ecodefense, charakterisiert den Atomkonzern als „strategisches Instrument des Kremls“. Durch die weltweite Förderung und den Ausbau der Atomenergie schaffe Rosatom jahrzehntelange geopolitische Abhängigkeiten, auch in Europa.[11] Zudem ist das Firmengeflecht von Rosatom für alle Belange der zivilen und militärischen Nutzung der Atomenergie in Russland zuständig. So unterstützt Rosatom verschiedene russische Rüstungskonzerne, darunter mit Almas-Antei den größten des Landes.[12] Rosatom ist eines von sieben russischen staatseigenen Unternehmen, die 2007 durch ein Dekret von Präsident Wladimir Putin gegründet wurden.
In seinem wichtigsten Entscheidungsgremium, dem Aufsichtsrat, fallen zwei Mitglieder besonders auf: Sergej Kirijenko, stellvertretender Leiter der mächtigen russischen Präsidialadministration, und Sergej Korolew, erster stellvertretender Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB. Gegen beide haben die EU, Großbritannien und die USA bereits Sanktionen verhängt.
Aufgrund dieser zivil-militärischen Verflechtungen und der Rolle von Rosatom bei der Eroberung und Inbesitznahme des ukrainischen AKW Saporischschja nach der russischen Invasion forderte das Europaparlament, die EU solle Sanktionen gegen Rosatom beschließen und jegliche Zusammenarbeit mit dem russischen Nuklearsektor einstellen. Das scheiterte jedoch an der Blockadehaltung Ungarns im Europäischen Rat.
Moskau und Paris an einem Strang?
Das ist auch bei der Frage wichtig, ob die Erweiterung der Brennelementefertigung in Lingen genehmigt werden darf: In einem vom Bundesumweltministerium in Auftrag gegebenen Gutachten kommt der Umwelt- und Atomrechtsexperte Gerhard Roller zu dem Schluss, dass es dabei nicht nur um die technischen Genehmigungsvoraussetzungen nach dem Atomgesetz gehe.[13] Vielmehr müssten die Behörden auch Kriterien der äußeren und inneren Sicherheit berücksichtigen. Mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine lägen Umstände vor, die bei der Erteilung oder Versagung der Genehmigung zu beachten seien. Die Bedenken beziehen sich vor allem auf den Einsatz von Rosatom-Mitarbeiter:innen in der Fertigungsanlage in Lingen. Es bestehe die Gefahr von Sabotage und Spionage.
Aufgrund der finanziellen Schieflage von Framatome hat Frankreich ein großes Interesse daran, dass Deutschland dem Geschäft mit Russland zustimmt. Nicht zu unterschätzen sind dabei auch die zivil-militärischen Verflechtungen in der Nukleartechnologie und die gängige Quersubventionierung. Für Russland wie für Frankreich gilt, dass ihre militärischen und zivilen Nuklearkomplexe untrennbar miteinander verwoben sind.
Im Hinblick auf die weitere Atomstromproduktion haben beide Länder als Atomwaffenstaaten daher ein gemeinsames Motiv: den Erhalt ihrer Nuklearstreitkräfte. Präsident Emmanuel Macron hat dies selbst unmissverständlich erklärt: Frankreichs „strategische Zukunft, unser Status als Großmacht, liegt in der Nuklearindustrie“. Dabei geht es sowohl um den militärischen als auch um den zivilen Aspekt. Ohne zivile Atomkraft gebe es „keine militärische Atomkraft, ohne militärische Atomkraft keine zivile“.[14] Die geopolitischen Implikationen des Atom-
deals zwischen den beiden Atommächten Frankreich und Russland und ihren Staatskonzernen bedeuten damit eine politische Festlegung auf das Mantra: Atomkraft und Atomwaffen bis in alle Ewigkeit.
Schon aus strategischen und sicherheitspolitischen Gründen sollte sich die nächste Bundesregierung daher klar gegen dieses Geschäft positionieren. Das deutsche Interesse an einer nachhaltigen Energiewirtschaft und das Ziel, eine vertiefte Abhängigkeit von Rosatom auf dem europäischen Markt zu verhindern, überwiegen bei weitem die Rücksichtnahme auf die Interessen einer kriselnden Atomindustrie im Nachbarland. Konsequent wäre es, den Atomausstieg hierzulande zu vollenden, die Brennelementefertigung und die Urananreicherung zu beenden und sich auf die Energiewende hier und jetzt zu konzentrieren, statt Scheindebatten um die Atomkraft zu führen.
[1] Vgl. Rechtsgutachten zur Möglichkeit einer Beendigung der Urananreicherung und der Brennelementefertigung durch den Bundesgesetzgeber, bmuv.de, 30.10.2017.
[2] Vgl. Modeling of a Major Accident in Five Nuclear Power Plants From 365 Meteorological Situations in Western Europe and Analysis of the Potential Impacts on Populations, Soils and Affected Countries, institutbiosphere.ch, 27.8.2019, S. 32.
[3] Vgl. Grenzüberschreitende Umweltverträglichkeitsprüfung zu dem Vorhaben „Neue SMR-Kernkraftanlage am Standort Temelín“, bmuv.de, 28.11.2024.
[4] Angelika Claußen, Mit „grünen“ AKWs zu neuen Atomwaffen, in: „Blätter“, 2/2022, S. 97-99.
[5] Vgl. Teure Atomkraft. Französischer Rechnungshof kritisiert Kernkraftausbau, energiezukunft.eu, 21.1.2025.
[6] Cour des comptes, La filière EPR: une dynamique nouvelle, des risques persistants, Paris 2025, S. 9.
[7] Felix Maise, EPR Flamanville – vom Vorzeigeprodukt zum Albtraum Frankreichs, energiestiftung.ch.
[8] Dagmar Röhrlich, Wie die Fliege im Netz: Europa und die russische Atomindustrie, in: „Blätter“, 7/2022, S. 25-28.
[9] Vgl. European Hexagonal Fuel SAS, Lyon, Frankreich, northdata.de.
[10] Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine baut der US-Konkurrent Westinghouse sein Angebot in diesem Bereich für Europa aus. Vgl. The World Nuclear Industry, a.a.O., S. 88, und S. 323 ff.
[11] Wladimir Sliwjak, Rosatom und Russlands Krieg in der Ukraine, ausgestrahlt.de, 3.11.2023.
[12] Catherine Belton, Russia’s state nuclear company aids war effort, leading to calls for sanctions, washingtonpost.com, 20.1.2023.
[13] Vgl. Berücksichtigung der Belange der inneren und äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland im Rahmen des Versagungsermessens nach § 7 Abs. 2 AtG, bmuv.de, Juni 2023.
[14] Vgl. Discours du Président de la République au Creusot sur l‘avenir du nucléaire, elysee.fr, 8.12.2020.