Ausgabe Juli 2022

Wie die Fliege im Netz: Europa und die russische Atomindustrie

Wladimir Putin mit Alexej Lichatschow, Generaldirektor der staatlichen Atomenergiegesellschaft Rosatom, 19.5.2022 (IMAGO/ZUMA Wire)

Bild: Wladimir Putin mit Alexej Lichatschow, Generaldirektor der staatlichen Atomenergiegesellschaft Rosatom, 19.5.2022 (IMAGO/ZUMA Wire)

Inzwischen weiß jeder, wie abhängig Deutschland und Europa von russischem Gas sind – oder auch von russischem Öl oder russischer Kohle. Doch bei Uran denkt kaum jemand über die Herkunft nach. Das allerdings ist ein gravierender Fehler. Denn die Europäische Union bezieht rund 40 Prozent ihres Kernbrennstoffs von Russland und dem eng mit ihm verbündeten Kasachstan, wie Analysen der Nuclear Free Future Foundation und des Bundes für Naturschutz Deutschland sowie des österreichischen Umweltbundesamts darlegen.[1] Obwohl Russland selbst in der Liste der größten Produzenten von Rohuran nur unter „ferner liefen“ auftaucht, kontrolliert es neben den eigenen Minen auch rund ein Fünftel der – weltweit größten – kasachischen Uranproduktion, was das Land auf Platz zwei der Liste katapultiert, stellen die Autoren einer Studie des Columbia University Center on Global Energy Policy fest.[2] Europa, so zeigt sich, ist bei der Atomenergie stark auf Russland und dessen engste Verbündete angewiesen.

„Wir sind bei den Kernkraftwerken und bei der Nukleartechnologie eigentlich noch stärker abhängig von Russland als bei Gas oder bei Öl“, urteilt Anke Herold, wissenschaftliche Geschäftsführerin des Öko-Instituts.[3] Das ist auch der Grund, weshalb dieser Sektor bei den EU-Sanktionen gegen Russlands Energiewirtschaft ausgenommen wurde. „Das Ausmaß der Abhängigkeit zeigt sich darin, dass es fünf Tage nach Beginn der Invasion eine Sondergenehmigung für ein russisches Flugzeug gab, das Atombrennstoff in die Slowakei brachte“, erklärt der in Paris ansässige unabhängige Energie- und Atompolitikanalyst Mycle Schneider.[4] Und so fehlte die Atomsparte selbst im sechsten Sanktionspaket – obwohl das Europaparlament in seiner Resolution zu Sanktionsforderungen eindeutig den Atomsektor mit eingeschlossen hat und trotz eines Vorstoßes des deutschen EU-Botschafters, der allerdings nur von Österreich unterstützt wurde.[5]

Es geht dabei nicht nur um Rohuran, das sich relativ leicht aus anderen Lieferländern beziehen ließe. Viel gravierender ist, dass Russland auch bei der Aufbereitung und Anreicherung von Uran und der Fertigung von Brennelementen führend ist – und hinzu kommen etliche andere Verflechtungen und Abhängigkeiten. So hat niemand mehr Reaktoren errichtet: Von den insgesamt 439 Kernkraftreaktoren, die bei Abschluss der Columbia-Studie in Betrieb waren, stammen 80 aus russischer Produktion, 38 davon liefen in Russland selbst und 42 in anderen Ländern. Allein in der Ukraine gibt es aus Sowjetzeiten noch 15 russische WWER-Anlagen.[6] Solche Reaktoren liefern auch Strom in Indien, Armenien, Bulgarien, der Tschechischen Republik, Finnland, Ungarn und der Slowakei. Und dann sind da vor allem die geplanten oder noch im Bau befindlichen Anlagen in Bangladesch und Indien, in Ungarn, der Slowakei, der Türkei, China, dem Iran und Ägypten.[7] Mit 18 Projekten realisierte Russland vor der Invasion in die Ukraine mehr als ein Drittel aller Neubauten weltweit. Man ist führend beim Bau von AKW in Schwellen- und Entwicklungsländern und der größte Nuklearlieferant für China.[8]

Die Übermacht des Staatskonzerns Rosatom

Es ist ein dichtes Netzwerk, das da über die vergangenen Jahre entstanden ist. Im Zentrum steht der russische Staatskonzern Rosatom, der im internationalen Uran- und Nukleargeschäft eine Spitzenposition innehat. Er ist 2007 vom damaligen und heutigen Präsidenten Wladimir Putin per Gesetz gegründet worden. Derzeit gehören ihm mehr als 350 Unternehmen an, einige sind im Bereich erneuerbarer Energien, die meisten aber im zivilen und militärischen Nuklearsektor tätig: vom Uranbergbau über die Brennstoffproduktion bis hin zu Bau und Betrieb von Kernkraftwerken ist alles vertreten.

Die Abhängigkeit des zivilen europäischen Nuklearsektors ist vielleicht bei den 18 Sowjetreaktoren, die in der EU laufen, am augenfälligsten. Bulgarien, die Slowakei, die Tschechische Republik und Ungarn betreiben zusammen 16 Reaktoren russischer Bauart mit entsprechendem Bedarf für Brennelemente“, erklärt Mycle Schneider. In der Stromerzeugung jener Länder spielen diese Anlagen eine dominierende Rolle. Dazu kommen noch zwei WWER-Anlagen in Finnland. Insgesamt stehen diese AKW für zehn Prozent der europäischen Bruttostromkapazität.[9]

Zwar hat die US-amerikanische Westinghouse Electric Company für modernere Anlagen vom Typ WWER-1000 eine Lösung gefunden, so dass im April dieses Jahres der tschechische Energieversorger CˇEZ mit dem US-Unternehmen und dem französischen Nuklearkonzern Framatome einen langfristigen Liefervertrag über Kernbrennstoffe für diese Kraftwerke am Standort Temelín unterzeichnete. Dort waren die neuen Brennelemente seit 2018 getestet und ihr Einsatz von der Atomaufsicht genehmigt worden.[10] Doch bei den 16 älteren Anlagen vom Typ WWER-440 hängen die Betreiber von Lieferungen der Rosatom-Tochter TWEL ab. Das gilt für die vier Reaktorblöcke im tschechischen Dukovany, vier weitere im slowakischen Bohunice und Mochovce, vier im ungarischen Paks, für den Reaktor im slowenischen Krško, zwei Blöcke im bulgarischen Kosloduj und die beiden im finnischen Loviisa. Die Euratom-Versorgungsagentur ESA beurteilt diese Abhängigkeit schon seit langem kritisch und sieht darin eine „signifikante Verwundbarkeit“.[11]

Die Brennelemente sind jedoch nur ein Glied in der Kette. Selbst wenn bei Westinghouse die derzeit laufenden Entwicklungen für die alten WWER-440-Anlagen erfolgreich abgeschlossen und alle Lieferverträge mit TWEL ausgelaufen sein werden, bedeutet das nicht, dass Russland seine zentrale Position verlöre. Denn die Betreiber der WWER-Kraftwerke müssen bei Instandhaltung, Materialprüfung oder Ersatzteilen mit dem Rosatom-Firmenkonglomerat kooperieren. Ersatzteile anderer Unternehmen können schon deshalb nicht eingebaut werden, weil atomrechtliche Genehmigungsverfahren Jahre dauern. Und dann sind da noch Haftungsfragen, die sich bei Störungen stellen, sobald westliche Firmen Arbeiten in den Reaktoren sowjetischer Bauart übernehmen. Mehr noch: „Rosatom hat sich in der Vergangenheit immer bemüht, Komplettpakete anzubieten“, so Anke Herold vom Öko-Institut. „So betreibt der Konzern Kernkraftwerke in der Slowakei. Da ist die Abhängigkeit natürlich deutlich größer, als wenn man ‚nur‘ die Brennelemente aus Russland bezieht.“

Einfluss bis tief in den westeuropäischen Nuklearsektor

Doch Russlands Einfluss reicht auch tief in den westeuropäischen Nuklearsektor hinein. Frankreich unterhält enge Beziehungen mit russischen Nuklearkonzernen. Das französische Unternehmen Areva beispielsweise kooperiert für die Produktion von Brennelementen für westeuropäische Anlagen mit dem russischen Konzern TWEL. Drei westeuropäische Reaktoren sollen mit Brennelementen aus dieser Zusammenarbeit versorgt werden.[12] Noch im Dezember 2021 hat zudem Framatome ein strategisches Kooperationsabkommen mit Rosatom unterzeichnet.[13] Es liegt derzeit allerdings auf Eis. Auch beim Neubau gibt es intensive Verflechtungen zwischen Rosatom und Unternehmen aus Frankreich, Deutschland, Tschechien oder Ungarn, etwa bei den Projekten Akkuyu in der Türkei, El Daaba in Ägypten oder auch Leningrad II in Russland.[14]

Wohl nur zufällig gescheitert ist der Plan von Framatome und TWEL, in einem Gemeinschaftsunternehmen im niedersächsischen Lingen Brennelemente zu produzieren. Die EU-Kommission hatte dem Kaufvertrag für die Brennelementefabrik bereits zugestimmt. Auch das Bundeskartellamt hatte den Einstieg der Russen genehmigt, doch dann lag dieser beim Wirtschaftsministerium, ohne dass entschieden wurde. Mit Kriegsbeginn zog Rosatom den Antrag zurück.

Das Geschäft mit dem Atomausstieg

Wie strategisch Russland seine Position in der EU ausgebaut hat, zeigt sich auch bei der Stilllegung und dem Rückbau von AKW. So ist die Firma Nukem Technologies in Alzenau, die auf dem Gebiet Stilllegung und Rückbau von AKW tätig ist, seit Dezember 2009 in russischem Besitz. Nicht einmal 24 Mio. Euro zahlte die Rosatom-Tochter Atomstroiexport dafür – und verschaffte sich so auch Zugang zum Geschäft mit der Zwischen- und Endlagerung. Kurzum: Man verdient am deutschen Atomausstieg.

Doch nicht nur Europa ist abhängig. Selbst für die USA ist Russland ein wichtiger Lieferant. Nicht nur, weil knapp 50 Prozent des niedrig angereicherten Urans aus dem Rosatom-Komplex bzw. von engen russischen Alliierten wie Usbekistan und Kasachstan stammen.[15] Sondern auch, weil die neuen Reaktorkonzepte einen stärker angereicherten Brennstoff benötigen, den bislang nur Rosatom in großem Umfang anbietet. Es geht um High-Assay Low-Enriched Uranium (HALEU), also Uran, das auf Werte zwischen 5 und 20 Prozent angereichert wird. Zum Vergleich: In „klassischen“ Anlagen liegt die Anreicherung bei unter 5 Prozent. Der Westen verfügt bisher kaum über solche Produktionskapazitäten, in den USA gibt es erst seit kurzem eine erste genehmigte Anlage.[16] Hätte Wladimir Putin den Ukraine-Krieg später begonnen, wäre die Abhängigkeit noch größer ausgefallen.

Uneinigkeit in Europa

All das zeigt: Russland hat in den vergangenen Jahren im Nuklearsektor – ähnlich wie bei Gas oder Öl – gezielt eine strategische Position aufgebaut, ohne dass sie als problematisch wahrgenommen wurde. Erst durch den Ukraine-Krieg ist den Staaten ihre Abhängigkeit auch bei der Atomkraft aufgefallen. Das Ganze hat etwas von einer Spinne im Netz – und Europa ist die Fliege, die sich darin verfangen hat.

Die zentrale Frage ist nun, wie die Staaten mit diesem Problem umgehen. Und genau hier zeigen sich wieder einmal gravierende Unstimmigkeiten innerhalb der EU. Während Paris trotz seiner Ausbaupläne für die Atomkraft und einer durch den Ukraine-Krieg angeschlagenen Atomwirtschaft[17] erklärt, dass es mögliche EU-Sanktionen gegen die russische Nuklearindustrie nicht blockieren würde, spricht sich Ungarn vehement dagegen aus.[18] Und während Finnland den Neubau einer WWER-Anlage am Standort Hanhikivi 1 eingestampft und die Tschechische Republik Rosatom für seine Planungen aus der Liste möglicher Bieter gestrichen hat, hält Budapest daran fest, dass Rosatom die neuen Reaktorblöcke in Paks errichten soll.[19] Allerdings sollen die Turbinen von dem amerikanischen Unternehmen GE Hitachi Nuclear Energy eingebaut werden, die Steuerung von Siemens – was angesichts der Sanktionen im Hightechbereich derzeit nicht möglich wäre. Rosatom hat der ungarischen Regierung trotzdem versichert, dass es die Anlagen bauen könne.

Wie aber ließe sich die Abhängigkeit vom russischen Nuklearsektor verringern? Was russische Dienstleistungen bei der Anreicherung oder der Brennelementeproduktion angeht, wären weitere Investitionen in entsprechende Anlagen erforderlich, urteilen etwa die Autoren der Columbia-Studie. Doch westliche Unternehmen würden von ihren Regierungen klare politische Entscheidungen wie ein gesetzlich festgelegtes Ende der Lieferungen erwarten, bevor sie Geld in neue Anlagen und Kapazitäten investierten. Ihre Befürchtung: Die billigen russischen Uranprodukte könnten schon bald wieder auf den nationalen Märkten zugelassen werden – und sie ihre Investitionen verlieren.[20]

Zwar war in Deutschland der Glaube an „Wandel durch Handel“ und an die Zuverlässigkeit Russlands besonders groß, doch auch andere nutzten gerne die Chancen, die sich ihnen zu eröffnen schienen. In der energiehungrigen Welt konnte Moskau bei Gas, Öl und Atom geschickt eine Schlüsselposition aufbauen, die ein Embargo für seine Partner extrem verlustreich macht. Man verschloss die Augen vor der Gefahr – und klebt nun hilflos in Russlands Netz.

[1] Uranatlas 2022, www.bund.net, 20.4.2022; Umweltbundesamt Österreich, Analyse der Rosatom-Aktivitäten bzw. Rosatom-Verflechtungen mit der EU, Wien 2022.

[2] Matt Bowen und Paul M. Dabba, Reducing Russian Involvement in Western Nuclear Power Markets, www.energypolicy.columbia.edu, 23.5.2022.

[3] Im Gespräch mit der Autorin am 28.4.2022.

[4] Mailaustausch mit der Autorin am 3.6.2022.

[5] Vgl. Christian Geinitz u.a., Warum Europa weiterhin mit Rosatom kooperiert, www.faz.net, 27.5.2022, sowie European Council, Timeline - EU restrictive measures against Russia over Ukraine, www.consilium.europa.eu.

[6] WWER (Wasser-Wasser-Energie-Reaktor) sind Druckwasserreaktoren sowjetischer bzw. russischer Bauart , die wassermoderiert und wassergekühlt sind.

[7] International Atomic Energy Agency, Nuclear Power Reactors in the World, www-pub.iaea.org, Wien 2021; The World Nuclear Industry. Status Report 2021, www.worldnuclearreport.org, Paris 2021; Umweltbundesamt Österreich, a.a.O.

[8] Second Russian Nuclear Reactor Construction Start in China This Year – Anyways 2, www.worldnuclearreport.org, 20.5.2022 sowie Emerging Nuclear Energy Countries (Updated May 2022), www.world-nuclear.org.

[9] Vgl. European Nuclear Society, Eastern Europe And The Future Of Nuclear Fuel Supply, www.euronuclear.org sowie: Energiepolitik in Zeiten des Ukraine-Krieges: Kernkraftwerke statt Erdgas?, www.blog.oeko.de, 23.3.2022.

[10]  Framatome and Westinghouse to supply fuel to Temelín, ww.world-nuclear-news.org, 13.4.2022.

[11] Euratom Supply Agency, Analysis of Nuclear Fuel Availability at EU Level from a Security of Supply Perspective, www.euratom-supply.ec.europa.eu, 2020.

[12] Vgl. Rosatom Newsletter #85, May 2015, www.rosatomnewsletter.com sowie Umweltbundesamt Österreich, a.a.O.

[13] Framatome and Rosatom expand cooperation, www.world-nuclear-news.org, 2.12.2021.

[14] Umweltbundesamt Österreich, a.a.O.

[15] Uranatlas 2022, www.bund.net, 20.4.2022.

[16] Office of Nuclear Energy, Centrus Becomes First U.S. Licensed HALEU Production Facility, www.energy.gov, 23.6.2021.

[17] Julia Borutta, Frankreichs Atomstrom-Pläne in Gefahr, www.tagesschau.de, 3.6.2022.

[18] Vgl. Christian Geinitz u.a., a.a.O.

[19]  Hungary and Rosatom push ahead on Paks II nuclear project, www.world-nuclear-news.org, 6.5.2022.

[20] Matt Bowen und Paul M. Dabba, Reducing Russian Involvement, a.a.O.

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