Der Kampf um die Ukraine und ihr historisches Erbe
Geschichte spielt sich stets in einem Raum ab, der ihr den Rahmen vorgibt. Geographische Gegebenheiten und „mental maps“ sind jedoch nicht unveränderlich, sondern haben ihre eigene Historie. In besonderem Maße gilt das für die Ukraine, die sich über Jahrhunderte im Einflussbereich Mitteleuropas, Russlands und des Schwarzmeerraumes befand. Reale und imaginierte Räume gehören zu ihrem historischen Erbe und sind von anhaltender Relevanz für die Gegenwart.
Fest steht: Die Ukraine gehörte seit jeher zu Europa. Es gilt selbstverständlich für die Geographie, den ersten Faktor des historischen Erbes, aber auch für die religiöse Tradition. Die Ukraine ist Teil des orthodoxen Europas, des östlichen Pols der europäischen Geschichte. Andererseits war sie stets auch westlichen Einflüssen ausgesetzt. Stets hin- und hergerissen zwischen Ost und West trägt die Ukraine bis heute ein immenses historisches Gepäck auf ihrem Rücken.
Das Land an der Grenze
Diese Spannung zeigt sich bereits in ihrem Namen: Der Begriff Ukraine (U-kraina) meinte ursprünglich das Land „am Rand“ oder „an der Grenze“, und zwar zur Steppe, der seit dem Altertum bestehenden Scheidelinie zwischen sesshaften Ackerbauern und Reiternomaden. Die Beziehungen zur Welt der Steppennomaden, seien es deren Überfälle auf Ackerbauern, sei es wirtschaftlicher Austausch, waren eine Konstante der ukrainischen Geschichte – bis der russländische Staat gegen Ende des 18. Jahrhunderts das letzte Nachfolgereich der mongolischen Goldenen Horde, das Khanat der Krimtataren, eroberte und damit die fruchtbaren Steppengebiete für Ackerbauern öffnete. Erst von diesem Zeitpunkt an wurde die heutige Südost- und Südukraine von Ukrainern, Russen, Juden, Deutschen und Griechen besiedelt, was den polyethnischen Charakter der Ukraine verstärkte.
Über Jahrhunderte als „Kornkammer“ landwirtschaftlich und bäuerlich geprägt, hatte die Ukraine wie Russland lange keinen direkten Zugang zu den Weltmeeren, was den Fernhandel und damit die wirtschaftliche Entwicklung hemmte. Wenn man von den Expeditionen der nordgermanischen Rus‘ und der Dnjepr-Kosaken, die sie bis nach Konstantinopel führten, absieht, wurde die Ukraine erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Anrainerin des Schwarzen Meeres, mit Odessa als Handelshafen.
Damit verlor die Steppengrenze ihre historische Funktion. Im ukrainischen kollektiven Gedächtnis blieb sie jedoch lebendig in den Erzählungen von den Heldentaten der ukrainischen Kosaken, des wichtigsten nationalen Mythos der Ukraine, deren Schauplatz die Grenze zur Steppe war. Der ursprüngliche Lebensraum der ukrainischen Kosaken war der Dnjepr (ukr. Dnipro; daher rührt auch ihr Name Dnjepr-Kosaken). Der ukrainische Nationalfluss, drittgrößter Strom Europas, ist die wichtigste Verkehrsader der Ukraine und über Schleppstellen mit der Ostsee wie mit dem Schwarzen Meer verbunden. Indem er das ganze Land von Süden nach Norden durchzieht, markiert er auch die geographische Grenze zwischen West- und Ostukraine. An seinem westlichen Ufer liegt Kiew, seit mehr als tausend Jahren das wichtigste städtische Zentrum der Ukraine.
Die Kiewer Rus‘ und die Orthodoxie
Die Nestorchronik, die wichtigste Quelle für die Geschichte der alten Rus‘, berichtet unter dem Jahr 988 von der Taufe des Fürsten Vladimir, der sich nach reiflicher Überlegung für die Annahme des orthodoxen Glaubens entschieden habe – und nicht des katholischen, islamischen oder jüdischen. Der Kiewer Herrscher erhielt die Schwester des byzantinischen Kaisers zur Frau, der Fürst der Rus‘ wurde damit zu einem gleichberechtigten Mitglied der europäischen „Familie der Könige“ und sein Reich erlebte eine ökonomische und kulturelle Blütezeit. In der heutigen Ukraine wird die Verbindung mit der Kiewer Rus‘ mit Nachdruck betont. Sie gilt in der ukrainischen nationalen Erzählung als erster ukrainischer Staat und als „Goldenes Zeitalter“.
Mit der Kiewer Rus‘ eng verknüpft ist die Erinnerung an die Christianisierung. Die Zugehörigkeit zur Orthodoxie ist ein zentraler Bestandteil der individuellen und kollektiven ukrainischen Identifikation. Der orthodoxe Glaube ist das wichtigste Kontinuum der Geschichte der Ukraine von ihren Anfängen bis zur Gegenwart.[1] Kiew als Sitz des Metropoliten und des Höhlenklosters behielt seinen Glanz als erster Hort der Orthodoxie in der Rus‘. Die Klöster waren bis ins 18. Jahrhundert Träger der orthodoxen Kultur, mit ihren Ikonen, Fresken und Kirchenbauten und mit der Liturgie und geistlichen Literatur in kirchenslawischer Sprache. Das Erbe der Kiewer Rus‘ und der Orthodoxie teilt sich die Ukraine allerdings mit Russland und Weißrussland. Diese Gemeinsamkeiten wurden zum Problem für die Baumeister der ukrainischen Nation, die sich von Russland und der russischen Nation abgrenzen wollten. Der Streit mit Russland um das Erbe der alten Rus’ hält bis heute an – wie der aktuelle Konflikt dramatisch belegt.
Polnische Vorherrschaft und westlicher Kulturtransfer
Allerdings standen, was heute im Westen fast vergessen ist, die von Ukrainern bewohnten Gebiete während drei Jahrhunderten unter der Herrschaft des Königreichs Polen – von der Mitte des 14. bis in die Mitte des 17. bzw. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (bzw. des Großfürstentums Litauen, das mit Polen als Königreich Polen-Litauen in einer Personalunion und ab 1569 in einer Realunion verbunden war).
Die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu Polen ist ein zentrales Element des ukrainischen historischen Erbes. Dieses Erbe war immer ambivalent. Auf der einen Seite diente Polen als Kanal mittel- und westeuropäischer Einflüsse, die die Eigenständigkeit der Ukraine gegenüber Russland verstärkten. Auf der anderen Seite bedeutete die polnische Herrschaft politische Abhängigkeit, soziale Unterdrückung und religiöse Diskriminierung.
Das Königreich Polen-Litauen gehörte zur katholisch-lateinischen Welt und hatte enge kulturelle, wirtschaftliche und politische Kontakte zu Mittel-, Süd- und Westeuropa. Polen hatte Teil an den kulturellen und geistigen Strömungen des spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europas, an Renaissance, Humanismus, Reformation, katholischer Reform und Barock und vermittelte diese in die Ukraine weiter.
Mitteleuropäisch geprägt war auch die politische Verfassung Polens, in der die Stände gegenüber dem Herrscher die Oberhand gewannen. Die polnische Adelsrepublik war gekennzeichnet durch einen schwachen dezentralisierten Staat und ein proto-demokratisches libertäres System, das die nichtadlige und orthodoxe Bevölkerung allerdings weitgehend ausschloss. Die polnische Hochkultur und die Adelsrepublik waren attraktiv somit nur für die ukrainischen Adligen, von denen im 17. Jahrhundert die meisten zum Katholizismus übertraten und polonisiert wurden.
Kulturtransfer von Mitteleuropa nach Polen brachte schon die mittelalterliche deutsche und jüdische Ostsiedlung, die zur Verbreitung wirtschaftlicher Innovationen und des deutschen Stadtrechts führte. Zwar schwächte sich auch dieser Impuls auf seiner Reise nach Osten ab, doch wurde zahlreichen Städten im westlichen Teil der Ukraine das deutsche Stadtrecht verliehen, am Ende des 15. Jahrhunderts auch Kiew. Damit erhielten diese Städte eine korporativ-ständische Selbstverwaltung mit einem Rat, Schöffengerichten und Zünften. Die Mehrheit der städtischen Bürger waren jedoch zunächst Deutsche und später Polen, während die Ukrainer in der Minderheit blieben.
Die einzelnen Regionen der Ukraine haben somit eine höchst unterschiedliche Geschichte. Während der Westen und das Zentrum jahrhundertelang im Einflussbereich des westlich geprägten Polens standen, wurden der Osten und Süden erst seit dem späten 18. Jahrhundert von Ukrainern und Russen besiedelt und kamen direkt unter die Herrschaft Russlands. Diese historischen Traditionen wirken bis heute fort: Es sind die ehemals polnischen Gebiete, die sich in allen Wahlen für die westlich orientierten Parteien und PräsidentschaftskandidatInnen aussprachen und heute den Euro-Maidan unterstützen, während der Osten und Süden bis heute stärker nach Russland orientiert sind.
Freier Adel und leibeigene Bauern
Der durch Polen vermittelte Kulturtransfer kam allerdings nur einer schmalen Elite zugute. Für die ukrainischen Bauern, die die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellten, brachte die polnische Herrschaft dagegen das Absinken in die Leibeigenschaft, sprich: in die fast totale wirtschaftliche und rechtliche Abhängigkeit von polnischen und (zunehmend polonisierten) ukrainischen Adligen.
In der ukrainischen kollektiven Erinnerung dominiert daher das negative Bild des Pan, des polnischen adligen Gutsbesitzers. Nach der Aufteilung Polen-Litauens blieb dieser soziale Antagonismus in der westlichen Ukraine erhalten, in Galizien sogar bis zum Zweiten Weltkrieg. Und durch die religiöse und sprachliche Schranke wurde er noch verstärkt. Hinzu kam der Konflikt der nationalen Projekte: Aus polnischer Sicht wurden die Ukrainer nicht als eigenständige Nation anerkannt, sondern als rückständiges Bauernvolk angesehen, ohne Hochsprache, Hochkultur und eigene Elite. [2]
Tatsächlich bestand bis ins zweite Drittel des 20. Jahrhunderts die überwiegende Mehrheit der ukrainischsprachigen Bevölkerung aus Bauern. Zwar hatte es in Mittelalter und Früher Neuzeit zahlreiche ukrainische orthodoxe Adlige und Stadtbewohner gegeben. Infolge des Sogs der polnischen Adelskultur – und einer zunehmenden Diskriminierung der Ukrainer – wurden die meisten von ihnen jedoch bis zum 18. Jahrhundert polonisiert.
Eine zweite Welle der De-Ethnisierung ukrainischer Eliten vollzog sich im 18. und 19. Jahrhundert, als in den Teilungen Polens der größte Teil der Ukraine in das Russländische Reich eingegliedert wurde. Zwar bewahrten sich Teile der polonisierten oder russifizierten Oberschicht ein ukrainisches Regionalbewusstsein, doch lebten Eliten und Bauern weiter in getrennten Welten. Das Ethnonym Ukrainer (bzw. die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Bezeichnungen Ruthene, Rusyne oder Kleinrusse) ebenso wie der russische Spitzname Chochol waren praktisch gleichbedeutend mit Bauer. Soziale und ethnisch/sprachliche Gegensätze fielen zusammen. Nur unter der Landbevölkerung erhielten sich in Russland im 18. und 19. Jahrhundert die ukrainische Sprache und Kultur. Das wichtigste Ziel der von einer schmalen Schicht von Intellektuellen initiierten ukrainischen Nationalbewegung war es, die Bauern national zu mobilisieren und in eine moderne Nation zu integrieren, mit dem Fernziel eines ethnisch-ukrainischen Nationalstaats.
Der Kosakenmythos
Bereits im 16. Jahrhundert hatten sich am Dnjepr, an der Grenze zur Steppe, aus entlaufenen Bauern und Abenteurern die Kosaken formiert. Diese kriegerischen Verbände waren dem Zugriff des polnischen Adels und Königs weitgehend entzogen und errichteten eine militärdemokratische Ordnung, in der der Ring oder Rat aller Kosaken ihren Anführer, den Hetman oder Ataman, wählte und die wichtigsten Entscheidungen traf. Die Kosaken dienten dem polnischen Königreich als Grenzwächter und Söldner und unternahmen auf ihren Booten Raubzüge gegen die „ungläubigen“ Osmanen. Andererseits führten Kosaken mehrere gegen Polen gerichtete Aufstände an.
Die Lebensform der freien Kosaken zog die geknechteten Bauern an. Die Kosaken wurden in Heldenliedern und anderen Volksüberlieferungen als freie unabhängige Krieger, „edle Räuber“ und als „Vormauer der Christenheit“ gegen asiatische Nomaden und Muslime besungen und in der Volksmalerei verewigt. Zu einem nationalen Mythos wurden die Dnjepr-Kosaken in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, als sie sich mit den gebildeten orthodoxen Eliten Kiews verbanden und deren proto-nationale Ideen aufnahmen. Im Volksaufstand von 1648, der von den Kosaken angeführt wurde, wurden die in der Ukraine ansässigen Polen und Juden getötet oder vertrieben und die leibeigenen Bauern freigelassen. Es folgte der Aufbau eines de facto unabhängigen Herrschaftsverbandes, des sogenannten Hetmanats, mit einer Militärverwaltung nach kosakischem Vorbild. Damit wurde der Mythos des freien Kosaken erweitert durch den Mythos des ersten unabhängigen ukrainischen Nationalstaats.
Diese beiden Komponenten des Kosakenmythos – nationale Unabhängigkeit und persönliche Freiheit – gerieten jedoch bald in Widerspruch zueinander, als die neue kosakische Elite begann, ukrainische Bauern in ihre Abhängigkeit zu bringen. Ein zweiter Widerspruch ergab sich daraus, dass die Dnjepr-Kosaken in ihrem Unabhängigkeitskrieg gegen Polen einen Verbündeten suchten und sich im Jahre 1654 unter den Schutz des Moskauer Zaren stellten. Gerade die Kosaken waren also dafür verantwortlich, dass damals ein Teil der Ukraine, die Gebiete am linken Dnjeprufer mit Kiew auf dem rechten Ufer, erstmals unter die Herrschaft Russlands kam, das im späteren ukrainischen Nationalbewusstsein als Inbegriff der Unfreiheit gelten sollte.
Der Kosakenmythos ist ein unverzichtbarer Bestandteil des ukrainischen Nationalbewusstseins. Seine bis heute andauernde Bedeutung spiegelt sich in der aus dem 19. Jahrhundert stammenden ukrainischen Nationalhymne, die mit dem Satz endet: „Leib und Seele geben wir für unsere Freiheit und wir werden zeigen, Brüder, dass wir eine Kosaken-Nation sind.“ Kosakische Symbole tauchten auch in der Euromaidan-Revolution immer wieder auf.
Russland – großer Bruder und unheimlicher Nachbar
Wie das polnische war und ist auch das russische Erbe hoch ambivalent. Im ukrainischen nationalen Narrativ wird die Herrschaft der russländischen Zaren als zentralistische despotische Fremdherrschaft dargestellt, die die Ukrainer vom übrigen Europa abschnitt.
Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts waren das Kosakenhetmanat und die Sloboda-Ukraine östlich des Dnjepr Bestandteile des Russländischen Reiches, mit den Teilungen Polens kamen alle anderen bisher zu Polen gehörenden Territorien mit der Ausnahme Galiziens hinzu, im 18. und frühen 19. Jahrhundert die Steppengebiete im Osten und Süden. Damit befanden sich im 19. Jahrhundert, als sich die moderne ukrainische Nationsbildung vollzog, die weitaus meisten Ukrainer unter der Herrschaft Russlands.
Peter der Große und Katharina II. setzten dem Hetmanat und der kosakischen Freiheit ein Ende und degradierten die ukrainischen Bauern erneut zu Leibeigenen. Nikolaus I. verbot die Unierte Kirche, löste die erste nationale Organisation, die Kyrill- und Method-Bruderschaft, auf und schickte ihre Mitglieder und Sympathisanten in die Verbannung. Alexander II. befreite zwar die Bauern, unter seiner Herrschaft wurden aber Druckwerke und Schulen in ukrainischer Sprache verboten.
Kurzum: Das rückständige Russland behinderte die wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung der Ukraine. Gleiches wiederholte sich nach der Russischen Revolution. Die brutal durchgepeitschte Zwangskollektivierung und die von der stalinistischen Führung herbeigeführte schreckliche Hungersnot von 1932/33 brachen den ukrainischen Bauern endgültig das Genick. Die Herrschaftsepoche Russlands bzw. der Sowjetunion wird damit zu einem Bestandteil der Leidensgeschichte des ukrainischen Volkes.
Das russische Erbe hat aber auch eine andere Seite. Im Zarenreich wurden weite Teile der Ukraine modernisiert, die Großstädte Kiew, Odessa und Charkiw wurden zu bedeutenden urbanen Zentren, die östliche und südliche Ukraine wurden industrialisiert und zur wichtigsten Bergbau- und Schwerindustrieregion im Zarenreich. Die Ukraine hatte Teil am Aufblühen der russischen Kultur und Wissenschaft mit ihren um 1870 drei der insgesamt acht Universitäten Russlands. Nicht mehr Polen, sondern Russland war nun Kanal westeuropäischer Einflüsse auf die Ukraine. Die orthodoxen Ukrainer wurden als Individuen in der russischen Gesellschaft nicht diskriminiert, sondern sie hatten die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, allerdings oft unter Preisgabe ihrer ukrainischen Identität.
Die Modernisierung der Ukraine vollzog sich somit weitgehend ohne Ukrainer, die überwiegend arme analphabetische Bauern blieben. Träger der Modernisierung waren Russen, die in die Städte und Industriegebiete der Ukraine einwanderten, Juden, die ihre Schtetln verließen, Polen und deutsche Kolonisten. Der russländische Staat und die russische Gesellschaft anerkannten die Ukrainer auch nicht als eigene Nation. Sie wurden als „unhistorisches“ und nicht zur Staatsbildung fähiges Volk betrachtet und als „Kleinrussen“ in die all-russische orthodoxe Nation einbezogen. Die ukrainische Sprache galt als russischer Dialekt, der nur von Polonismen verdorben war, die ukrainische Geschichte als Bestandteil der russischen Geschichte, die sporadischen Äußerungen eines Nationalbewusstseins der „Ukrainophilen“ als künstliche Erfindung der Polen und Österreicher, die damit Russland Schaden zufügen wollten.
Das russisch-sowjetische Erbe
Auch die Zugehörigkeit der Ukraine zur Sowjetunion (70 Jahre in der Ost- und 45 Jahre in der Westukraine, nach der Abtrennung von Polen) hat ein historisches Erbe hinterlassen, das auch bald 25 Jahre nach dem Zusammenbruch der UdSSR noch sehr lebendig ist. Speziell Stalin knüpfte an Traditionen des Zarenreiches an, indem er die Politik der Modernisierung mit Gewalt und mit Anreizen fortsetzte.
Die forcierte Industrialisierung und Urbanisierung hatte zur Folge, dass die Ukrainer seit den 1930er Jahren eine „vollständige Sozialstruktur“ erhielten – mit einer Stadtbevölkerung, Industriearbeiterschaft und Intelligenz. Erst die forcierte Industrialisierung und die damit einhergehende Urbanisierung und Alphabetisierung verwandelten die Ukraine in eine moderne Industriegesellschaft. Die Ukrainer nahmen im Gegensatz zur Zarenzeit daran teil, konnten allerdings den Rückstand gegenüber den Russen nie ganz wettmachen. Die Ideologie verkündete zwar den Internationalismus, doch kehrte bald der russische Nationalismus zurück. Viele Stadtbewohner unterlagen somit in der Sowjetunion einer dritten Welle der De-Ethnisierung und akkulturierten sich an die russische Bevölkerung. Das sowjetische Erbe in der Ukraine ist also zum Teil auch russisches Erbe.
Erneut war es das ukrainische Dorf, das die ukrainische Sprache und kulturelle Traditionen in die moderne sowjetische Industriegesellschaft hinüberrettete. Die Ukrainer behielten ihren ländlichen Charakter länger als die Russen und andere Völker der Sowjetunion. Das russische Erbe ist bis heute in der heutigen Ukraine lebendig – im hohen Anteil russischer Bevölkerung im Osten und Süden, in der starken Präsenz der russischen Sprache und Kultur und in Elementen gemeinsamer historischer Erinnerung. Von den Verflechtungen zeugen zahlreiche Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, die eine doppelte russisch-ukrainische Identifikation hatten, an ihrer Spitze der Schriftsteller Nikolaj Gogol (ukr. Mykola Hohol). Ukrainer und Russen haben ein zum Teil gemeinsames historisches Erbe, das sie ebenso wie die gemeinsame Zugehörigkeit zur Orthodoxie verbindet. Obwohl sich immer wieder Streitigkeiten über den jeweiligen Anteil an diesem Erbe entspinnen, sind sie in der Regel nicht Anlass interethnischer Konflikte. Hoch konfliktträchtig ist dagegen das Erbe des hierarchischen, asymmetrischen Verhältnisses Russlands und vieler Russen zum ukrainischen Staat und zur ukrainischen Nation. Dass Russland die Unabhängigkeit der Ukraine offenbar noch immer nicht anerkennt, zeigt, wie belastet das russische Erbe ist – auch aufgrund der tragischen Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Wie kein anderes europäisches Land ist die Ukraine von den Katastrophen des 20. Jahrhunderts betroffen worden. Der Erste Weltkrieg ging direkt in den Bürgerkrieg über. Anschließend wurde die Ukraine zu einem Hauptschauplatz des Zweiten Weltkriegs, zum zentralen Teil jener von Timothy Snyder so eindrucksvoll beschriebenen „Bloodlands“. Die gesamte Ukraine wurde von deutschen Truppen besetzt, die die etwa 1,5 Millionen hier ansässigen Juden und zahlreiche Ukrainer, Polen und Russen ermordeten. Die Gesamtzahl der Toten unter der Zivilbevölkerung der Ukraine war mit geschätzten 4 Millionen etwa doppelt so hoch wie die der etwa 2 Millionen gefallenen ukrainischen Soldaten. Während und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mindestens 1,5 Millionen Bewohner der Ukraine (Polen, Ukrainer und Deutsche) zwangsumgesiedelt.
Die Ukraine wurde zudem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dreimal von schrecklichen Hungersnöten heimgesucht. Die erste Hungersnot in den Jahren 1920/21 war eine direkte Folge der Zerstörungen des Bürgerkriegs. Sie forderte in der Ukraine mindestens 250 000 Opfer (in Russland noch erheblich mehr). Die zweite und zugleich bei weitem schlimmste war die von Stalin herbeigeführte Hungersnot von 1932/33: Die in der Ukraine mit besonderer Härte durchgepeitschte Zwangskollektivierung der Landwirtschaft und die trotz des Hungers unbarmherzige Konfiszierung der Getreidevorräte führten zum Tod von ungefähr drei Millionen ukrainischen Bauern. Die dritte Hungersnot der Jahre 1946/47 war eine Folge der Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und der trotz einer Dürre weitergeführten Getreideenteignung, sie forderte mindestens 100 000 Opfer.
Insgesamt waren Ukrainer und in der Ukraine lebende Polen unter den Opfern des Stalinschen Terrors prozentual stärker vertreten als Russen. Dies begann mit der Ermordung und Deportation der ukrainischen „Kulaken“ und der Verfolgung sogenannter bürgerlicher Nationalisten. In den „Großen Säuberungen“ der Jahre 1937 und 1938 wurden etwa 120 000 Ukrainer hingerichtet. Während der Herrschaft Stalins wurden mehrere Millionen Ukrainer in den Gulag deportiert, von denen mindestens 500 000 ums Leben kamen.
Wenn man die Katastrophen des 20. Jahrhunderts in der Ukraine in einer (wenn auch fragwürdigen) Addition der Opfer resümiert, so starben in den Jahren 1914 bis 1953 zwischen 12 und 14 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner der Ukraine infolge von Kriegen, Hungersnöten und Terror. Das Erbe der Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist in der Ukraine allgegenwärtig. Speziell die Hungersnot von 1932/33 ist zum wichtigsten Bestandteil des post- und antisowjetischen ukrainischen Nationalbewusstseins geworden. Der Holodomor[3] gilt in der Ukraine offiziell als Genozid am ukrainischen Volk. Diese Interpretation ist nicht unumstritten, doch stehen das schreckliche Ausmaß der Hungersnot und die direkte Verantwortung des stalinistischen Regimes außer Zweifel. Gewichtige Argumente sprechen dafür, dass Stalin mit der Hungersnot nicht nur die Bauern, sondern auch die der Illoyalität verdächtigten Ukrainer bestrafen und disziplinieren wollte.
Die Deutung des Zweiten Weltkriegs ist ebenfalls umstritten. Der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ war die wichtigste Legitimation der Sowjetunion gewesen und ist noch heute für die meisten Ukrainer und Russen ein zentraler Gedächtnisort. In den letzten Jahren, speziell in der Westukraine und unter Präsident Wiktor Juschtschenko, wurde der Zweite Weltkrieg jedoch umgedeutet: Die Führer der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) , wie Stephan Bandera, und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA), die gegen die Rote Armee gekämpft, zeitweise mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatten und für Massaker an Juden und polnischen Zivilisten verantwortlich waren, wurden zu nationalen Helden erklärt. Dies rief heftige Reaktionen nicht nur in Russland und Polen, sondern auch unter zahlreichen Ukrainern hervor. Die unterschiedlichen Deutungen des Zweiten Weltkriegs sind völlig inkompatibel und spalten bis heute die ukrainische Nation.
Als Folge des Zweiten Weltkriegs wurden dann erstmals praktisch alle Teile des ukrainischen Volkes in einem Staat, der Ukrainischen Sowjetrepublik, vereint. Die sowjetische Politik trug also zur Formierung einer modernen ukrainischen Nation bei, und die Sowjetrepublik wurde zum Gehäuse der unabhängigen Ukraine. Allerdings vollzog Stalin in der Nationalitätenpolitik einen Rückschwenk. Die einzelnen Sowjetrepubliken wurden wieder stärker an die Kandare genommen, die neuen ukrainischen Eliten wurden in den „Säuberungen“ dezimiert, die Förderung der ukrainischen Sprache wurde zugunsten des Russischen allmählich zurückgenommen. Ähnlich wie im Zarenreich unterlagen weite Teile der in die städtischen Eliten aufsteigenden Ukrainer einer zumindest partiellen Russifizierung, und das Ukrainische sank wieder zu einer provinziellen Sprache ab. Der sowjetischen Führung gelang es, in Teilen der Bevölkerung ein supranationales sowjetisches Bewusstsein zu verankern, das durch Propaganda und den Sieg gegen Hitlerdeutschland gestärkt wurde. Erst nach Stalins Tod 1953 sorgte Nikita Chruschtschow für eine gewisse Entspannung. Zur Feier des 300jährigen Jubiläums der Unterstellung der ukrainischen Kosaken unter Russland im Jahre 1954 veranlasste er die Überführung der Krim aus der Russischen in die Ukrainische Sowjetrepublik, eine Aktion, die erst nach 1991, als die Ukraine unabhängig geworden war, eine praktische Bedeutung gewann und die Wladimir Putin dieser Tage am liebsten wieder ungeschehen machen würde.
Noch ist der Ausgang der dramatischen Ereignisse weitgehend offen. Fest steht: Nach 1991 hat die Ukraine, anders als andere Sowjetrepubliken, wie Belarus oder die Staaten Zentralasiens, aber auch Russland, sich in erheblichem Maße vom sowjetischen Erbe befreit und Europa zugewandt. Und zwar im Einklang mit ihrer historischen und geographischen Lage: Schon die Kiewer Rus‘ war in ein gesamteuropäisches dynastisches und kommerzielles Netzwerk eingebunden. Diese Ausrichtung auf Mittel-, Süd- und Westeuropa verstärkte sich im 14. bis 17. Jahrhundert, als die Ukraine Bestandteil des Königreichs Polen-Litauen war. Mit den Teilungen Polens wurde auch die Ukraine gespalten, der größte Teil befand sich nun erneut im Gravitationsfeld des orthodoxen östlichen Pols Europas, der jetzt sein Zentrum in Russland hatte. Galizien und die Bukowina im Westen der Ukraine wurden indessen in die Habsburgermonarchie eingegliedert, wo im Gegensatz zu Russland ihre Sprache und ihre griechisch-katholische Kirche anerkannt wurden und sich Rechtsstaat, Parlamentarismus und Zivilgesellschaft entwickelten. In der Zwischenkriegszeit gehörte Galizien zur Zweiten Polnischen Republik, und hier formierten sich die nationalrevolutionäre OUN. Erst im Jahre 1939 kam Galizien erstmals unter die Herrschaft eines russisch dominierten Staates, der UdSSR. Es ist deshalb kein Zufall, dass die Westukrainer in den zivilgesellschaftlichen Massenbewegungen der Orangen und der Euro-Maidan-Revolution eine führende Rolle spielten.
Ironischerweise sorgte jedoch auch die Zugehörigkeit zum russischen Bereich für eine subversive Verwestlichung der Ukraine: Denn mit der Verwestlichung Russlands wurden die russische Elite und die russische Kultur und Wissenschaft für die Ukraine zu Vermittlern mit dem nichtorthodoxen Europa. Europäischen Charakter hatte schließlich auch die Sowjetunion, mit einer aus dem Westen importierten Ideologie und dem Projekt, das Land zu modernisieren und den ökonomischen Rückstand gegenüber dem übrigen Europa aufzuholen. Die gängige, auch auf dem Maidan zu hörende Parole von der Rückkehr der Ukraine nach Europa ist also zu problematisieren – denn die Ukraine war schon immer in Europa. Anders stellt sich die Frage nach der Zugehörigkeit der Ukraine, wenn man Europa als westliche Wertegemeinschaft definiert, wie das heute die europäischen Institutionen tun. Der Begriff Europa wird hier allerdings ohnehin fragwürdig, denn einerseits kennzeichnen westliche Werte nicht nur Europa, sondern auch Nordamerika, Australien und andere Teile der Welt. Andererseits wurden westliche Werte in Europa immer und überall mit Füßen getreten, am offensichtlichsten im nationalsozialistischen Deutschland und gerade in dessen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion.
Von einer Europäisierung der Ukraine als Verwestlichung kann man im 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts sprechen, als über Polen geistige Strömungen und Institutionen, die als Grundlage europäischer Werte gelten können, an die Ukraine vermittelt wurden – wie Stadtrecht, ständische Verfassung, Humanismus und religiöse Toleranz. Westliche Werte im heutigen Sinn erreichten die Ukraine auch im österreichischen Verfassungsstaat, in Ansätzen sogar im zaristischen Russland in den Jahren 1905 bis 1917, als erstmals ein gewähltes Parlament und eine politische Öffentlichkeit zugelassen wurden, und in der unabhängigen Ukrainischen Volksrepublik der Jahre 1918 bis 1920. Die Sowjetunion gehörte aber offensichtlich nicht zur europäischen Wertegemeinschaft.
Die 1991, nach dem Ende der Sowjetunion gegründete, unabhängige Ukraine näherte sich dem übrigen Europa und der europäischen Wertegemeinschaft und Zivilgesellschaft an. Dies vollzog sich in kleinen Schritten und in zwei großen Sprüngen, in der Orangen Revolution von 2004/2005 und im Euro-Maidan seit November 2013. Die gegenwärtige politische Eskalation stellt diese Annäherung an den Westen in Frage und macht deutlich, dass die Ukraine noch immer ein umstrittenes Grenzland zwischen Russland und Mitteleuropa ist.
[1] Die Kontinuität der Orthodoxie in der Ukraine wurde allerdings in Frage gestellt durch die Union, die die Mehrheit der Orthodoxen im Königreich Polen-Litauen 1596 mit Rom einging. Obwohl die Unierte, später Griechisch-Katholische, heute Ukrainisch-Katholische Kirche im 19. und 20. Jahrhundert zurückgedrängt wurde, hat sie bis heute unter den Westukrainern zahlreiche Anhänger. Die Ukrainer sind also seit vier Jahrhunderten konfessionell gespalten, haben allerdings die gemeinsame Kirchensprache und Liturgie bewahrt, vgl. weiterführend Andreas Kappeler, Das historische Erbe der Ukraine. Schichten und Elemente, in: „Osteuropa“, 2-4/2010, S. 9-31.
[2] Das ambivalente polnische Erbe bleibt in der heutigen Ukraine aktuell. Zwar haben die Beziehungen der beiden Staaten einen gutnachbarlichen Charakter, und Polen ist erneut das Tor zum Westen, jetzt zur Europäischen Union. Im kollektiven Gedächtnis beider Nationen bestehen allerdings inkompatible Erinnerungen und nicht bewältigte Traumata weiter fort.
[3] Vgl. Anne-Katrin Lang und Lina Klymenko, Hungersnot oder Genozid? Der Holodomor und die ukrainische Geschichtspolitik, in: „Blätter“, 11/2009, S. 93-102. – D. Red.