Ausgabe September 2014

Ungarn oder: Der Antisemitismus als Suchtkrankheit

Vor 70 Jahren kämpfte Ungarn an der Seite Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion und schickte seine eigenen jüdischen Staatsbürger in die Konzentrationslager. Heute ist eine offen antisemitische Partei mit 20 Prozent im ungarischen Parlament präsent. Einer ihrer Abgeordneten beantragte kürzlich die Erstellung einer Liste mit Namen der jüdischen Abgeordneten. „Bloß wegen der Sicherheit“ – wie er sagte. Es geht mit Ungarn wirtschaftlich abwärts, einem Großteil der Menschen geht es immer schlechter. In solchen Zeiten sticht die antisemitische Karte immer. Heute frage ich manchmal andere ungarische Juden, mündlich oder per Mail: Hast du keine Angst? So viele Fragen, so viele Antworten: Ich habe Angst; ich habe keine; sollte ich? Wovor?

Ich weiß nicht, wie andere Juden fühlen. Ob ich mich selber fürchte? Ich weiß es nicht, ich bin mir meiner eigenen Gefühle nicht sicher. Aber die „fünfhundert Jahre alte Neurasthenie“,[1] mit der der gerade vor hundert Jahren gestorbene französische Dichter Charles Péguy die Juden charakterisierte, lässt mich wachsam bleiben. Wie jemand, der nachts im Wald herumstreift und bei jedem Geräusch aufmerksam horchend stehenbleibt, erlebe auch ich diese Tage mit maximal sensibilisierten Sinnesorganen.

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