Ausgabe Februar 2016

Fünf Jahre Arabellion: Das Ende eines Traums?

Vor fünf Jahren brach der Arabische Frühling aus. In kürzester Zeit gelang es, im Frühjahr 2011 Millionen Menschen auf die Straßen zu bringen und den Start in eine neue Gesellschaft zu wagen. Der gelungene Aufstand gegen den tunesischen Langzeitpräsidenten Zine el-Abidine Ben Ali inspirierte Aktivisten in der ganzen Region, und nachdem im Februar 2011 der ägyptische Präsident Hosni Mubarak abgesetzt worden war, gab es kein Halten mehr. Auch in Libyen, Bahrain, Jemen und vielen anderen Ländern demonstrierten die Massen. In jenem Frühling sah es tatsächlich so aus, als wäre die Diktatur in der arabischen Welt ein Auslaufmodell.

Heute ist aus dem arabischen Traum ein Albtraum geworden. Die Hoffnung auf Würde, Freiheit, Wohlstand und vielleicht auch Demokratie hat sich nicht erfüllt. Die alten Eliten haben nach wie vor – oder längst wieder – das Sagen. Die Arabellion von 2011 gilt als gescheitert; in keinem Land – mit Ausnahme von Tunesien vielleicht – wurde der Weg in Richtung Demokratie eingeschlagen. Rückblickend scheint es unglaublich, fast schon naiv, dass es hier einmal eine große Hoffnung auf Demokratie und Freiheit gegeben hat. Wie aber konnte es geschehen, dass die Chance, die sich 2011 auftat, so gründlich vertan wurde? Was ist schiefgelaufen? Lag es an der Unfähigkeit der Aktivisten der Revolution, sich zu organisieren oder auch nur gemeinsame Ziele für den Neuanfang zu entwickeln? Lag es an der Machtgier der Islamisten und deren Unfähigkeit, ihre Strukturen und Ideologie zu erneuern, um den Herausforderungen der neuen Zeit gerecht zu werden? War es der Einfluss von außen, die Politik der USA und Europas oder auch der einflussreichen Golfstaaten, der die Revolution auf Abwege brachte? Oder lag es daran, dass die alten Regime so stark und so gut verankert waren, dass sie Veränderungen zu verhindern wussten?

Drei Akteure bestimmen das Geschehen 

Der Arabische Frühling und sein – zumindest vorläufiges – Scheitern lässt sich nur verstehen, wenn man die Entwicklung in der ganzen Region betrachtet. Natürlich gibt es nicht „den“ Arabischen Frühling und nicht „die“ Arabellion. In jedem Land gibt es spezielle Gründe, die zum Ausbruch der Revolutionen führten, und der Aufstand nahm auch einen jeweils eigenen Verlauf. So wurden in manchen Ländern konfessionelle Konflikte ausgelöst, in anderen steht bis heute die Auseinandersetzung zwischen alten und neuen Kräften im Mittelpunkt.

Doch trotz der Unterschiede zeigen sich auch viele Parallelen. So sind es – grob gesagt – drei Akteure, die das Geschehen bestimmen: junge Aktivisten, Islamisten und die alten Regime.

In allen Ländern waren es vor allem nichtislamistische Aktivisten, Jugendliche der Mittelschicht, die den Anstoß zur Revolution gaben. Sie sind geprägt von dem in der ganzen Region verbreiteten Frust: Die Globalisierung und bessere Bildungsmöglichkeiten haben den Horizont der neuen Generation erweitert und zugleich ihre Erwartungen gesteigert. Die Regierungen dagegen sind mehrheitlich überfordert oder auch nicht gewillt, diesen jungen Menschen Zukunftsperspektiven zu eröffnen.

In den meisten Staaten war in den fünf bis zehn Jahren vor der Arabellion eine Protestbewegung gewachsen, die Massen mobilisieren konnte, allerdings fehlten ihr die Struktur, die Erfahrung und das Programm, um nach dem Sturz von Ben Ali, Mubarak und Co. die Regierung zu übernehmen. „Unsere Rolle war es, die Menschen auf die Straße zu bringen. Für das, was danach kam, fehlte es uns an allem“, so die ägyptische Aktivistin Amal Scharaf.

In der Tat: Ein Muster für die moderne, freie arabische Gesellschaft gibt es nicht. Und es fehlte an Unterstützung: Die Aktivisten der Revolution, wie diese Gruppe im Folgenden genannt wird, konnten weder die wichtigen politischen und wirtschaftlichen Kräfte ihrer eigenen Länder noch starke Unterstützer auf der internationalen Ebene für ihre Sache gewinnen.

Der Aufstieg der Islamisten 

Nachdem die Aktivisten den Anfang gemacht hatten, drängten sich bald islamistische Gruppen – wie die Muslimbruderschaft in Ägypten oder al-Nahda in Tunesien und al-Islah im Jemen – in die Führungspositionen. Diese starken Organisationen, die politische Arbeit seit Langem mit Wohltätigkeit im Namen des Islam verbinden, sind lose miteinander verbunden und berufen sich auf die Ideen von Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gegründet hat. Sie sind viel besser organisiert und durch Moscheen und Sozialeinrichtungen gut in der Bevölkerung verankert. Sie waren zwar zuvor vielerorts verboten und wurden von den Sicherheitsorganen verfolgt. In den meisten Ländern gab es jedoch eine Art inoffizielle Übereinkunft mit den Regierungen, so dass ihnen in gewissen Grenzen politische und vor allem soziale Arbeit erlaubt war.

Insofern sind diese Gruppen vom alten Regime mitgeprägt und in manchen Ländern sogar Teil des Systems. Das gibt ihnen Rückhalt und bringt vor allem Unterstützung aus konservativ-bürgerlichen Kreisen und auch von Teilen der Wirtschaft. Sie sind selbst konservativ-fromm und gelten als die politische Kraft der Mehrheit. Deswegen werden sie von den USA und auch von Europa als Ansprechpartner gesehen, wenn es um die politische Zukunft der Region geht. Im Gegenzug versprechen sie Stabilität und Rücksichtnahme auf die Interessen des Auslands. Finanziell werden sie von Katar und der Türkei unterstützt.

Die sehr frommen, korantreuen Gruppen der Salafisten sind Teil der islamistischen Bewegung, führen jedoch ihr Eigenleben. Das liegt vor allem an ihrer bis 2011 sehr unpolitischen und damit diktatorenfreundlichen Haltung. Sie kümmerten sich vor allem um das religiöse und soziale Heil ihrer Anhänger und kamen den Regierenden nicht in die Quere. Später wurden sie zu Wechselkandidaten: Mal halten sie den islamistischen Parteien die Treue, mal laufen sie ins Lager der alt-neuen Regime über. Das hängt auch damit zusammen, dass sie vor allem aus Saudi-Arabien und Abu Dhabi großzügig finanziert werden.

Und dann sind da noch militante, ultraradikale islamistische Gruppen, wie der IS, Al-Qaida-Untergruppen und lokale militante Gruppen. Auch sie sind Akteure, die eine zunehmend wichtige Rolle spielen. Ihre Erfolgsgeschichte ist eng mit den Ereignissen der vergangenen fünf Jahre verknüpft.

Der Sieg der »alt-neuen Regime«

In allen Ländern spielt auch das alte Regime weiterhin eine große Rolle; entweder direkt, wie in Syrien, oder als Kraft aus dem Hintergrund, wie etwa in Tunesien oder auch Libyen. Diese alten Regime, obwohl teilweise untereinander verfeindet, ähneln sich in vielerlei Hinsicht: Durch die Bank handelt es sich um autoritäre Regierungen, die aus dem Militär hervorgegangen sind und sich in der Tradition des Putsches der Freien Offiziere in Ägypten unter Gamal Abdel Nasser 1952 sehen. Jahrzehntelang haben sie den Menschen erfolgreich eingeredet, dass arabische Länder starke Führer brauchen und nur diese die Region zu Ansehen, Einfluss und Würde führen können. Solche Regierungen zu stürzen ist ungemein schwer, denn ihre Macht wurzelt in einem ausgebauten System, beruht auf Seilschaften von Anhängern und Institutionen.

Diese alt-neuen Regime, wie sie in der Folge genannt werden, um zu verdeutlichen, dass es sich um Übergangsformen handelt, können auf die Unterstützung durch Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) zählen. Europa und die USA sind dabei, sich politisch diesen Regimen wieder anzunähern. Eine Ausnahme bildet Syrien: Hier finanzieren Saudi-Arabien und die VAE die Opposition und setzen auf den Sturz Assads, vor allem, weil dieser vom Iran gefördert wird. Fünf Jahre nach Beginn der Arabellion – so die ernüchternde Bilanz – stehen diese alt-neuen Regime als (zumindest zeitweilige) Sieger da.

In Ägypten konnte die Militärführung ihre Macht festigen, indem sie sich zunächst von Hosni Mubarak trennte und dann die Opposition spaltete und die Gruppen gegeneinander ausspielte. Die Macht des Militärs ist in Ägypten tief verwurzelt und wird zudem von anderen Institutionen gestützt.

In Libyen sorgen Kräfte des alten Regimes für Unfrieden, spielen politische Fraktionen und Stämme gegeneinander aus und haben sich sogar mit dem IS verbündet. Dort spielt auch der missglückte Umgang mit den Verbrechen der Vergangenheit eine Rolle. Es wurden nicht nur die Funktionäre, sondern auch die Mitläufer des alten Regimes ausgeschlossen, wodurch die Reste des noch funktionierenden Staates zerfielen. Durch zu viele Waffen, die aus den Munitionsdepots Gaddafis und aus dem Ausland in Umlauf kamen, wurde die Lage zusätzlich erschwert.

In Syrien sitzt die Regierung von Baschar al-Assad den Aufstand weitgehend aus, setzt auf eine Eskalation und Militarisierung der Konflikte. Er nimmt die Zerstörung des Landes in Kauf, um seine Macht zu erhalten. Vor allem aber manipuliert er geschickt die internationale Gemeinschaft. Aus Angst vor dem IS und vor immer mehr Flüchtlingen, die Syrien verlassen, sehen inzwischen viele europäische Politiker Assad nicht mehr als Verursacher der Probleme, sondern als einzig möglichen Partner, diese zu lösen.

Im Jemen haben sich die Kräfte des alten Regimes mit den Huthis einen Bündnispartner gesucht, der zuvor marginalisiert worden war und zunehmend dagegen aufbegehrte. Gemeinsam haben sie dem bis dahin recht erfolgreichen Neuanfang den Garaus gemacht. Durch das Eingreifen der Nachbarländer eskalierte der Konflikt. Es geht nicht mehr nur um den Jemen, sondern darum, wer in Zukunft in der Region den Ton angibt.

Nur in Tunesien, dem Vorzeigeland unter den Staaten des Arabischen Frühlings, wurde dagegen viel erreicht: Freiheitsrechte sind in der Verfassung verankert, und es gelang, eine Regierung über die politischen Lagergrenzen hinweg zu bilden. Daher ging auch der Friedensnobelpreis 2015 an das tunesische Dialogquartett. Allerdings droht nun die neu gewonnene Freiheit dem Terrorismus beziehungsweise dem Kampf gegen den Terror zum Opfer zu fallen. Auch hier wurde mit Beji Caid Essebsi ein Präsident gewählt, dessen politische Karriere eng mit dem alten Regime verknüpft ist und der die Rückkehr der alten Eliten vorzubereiten scheint.

Machtstrukturen im Umbruch

All diese neu-alten Regime haben einen demokratischen Neuanfang verhindert oder zumindest entsprechende Fortschritte weitgehend zurückgedreht. Ihr größter Erfolg besteht darin, die beiden anderen Gruppen – junge Aktivisten und Islamisten – gegeneinander auszuspielen. Statt sich auf den Neuanfang, den Aufbau und die Reform der Institutionen, auf Parteigründungen und Verfassungsfragen zu konzentrieren, verstrickten sich die politischen Kräfte bald nach Beginn des Aufstands in Grabenkämpfe und ideologische Diskussionen untereinander. Islamisten und Nicht-Islamisten hassten sich bald so sehr, dass sie den Konflikt mit ihrem eigentlichen Gegner, dem alt-neuen Regime, aus den Augen verloren.

Wie der Begriff „alt-neue Regime“ andeutet, ist jedoch in keinem der Länder die Entwicklung bereits abgeschlossen, überall befinden sich die Machtstrukturen im Umbruch. Es zeigt sich, dass all diese alt-neuen Regime in der Region bei durchaus vorhandener Unterschiedlichkeit doch auch vieles gemeinsam haben: Es handelt sich um eine besonders brutale und schwer zu stürzende Regierungsform.

In fast allen Ländern konnten die alten Regime letztlich sogar von den Aufständen profitieren. Sie nutzten die Gelegenheit, sich von Strukturen und Personen zu trennen, die ihnen zur Belastung geworden waren. Auch hierfür ist Ägypten das beste Beispiel. Ohne Mubarak sitzt das Militär sehr viel fester im Sattel als mit ihm. Nebenbei – und das ist wohl ihr größter Erfolg – konnten die alt-neuen Regime durch ständige Gewaltausbrüche, Alltagschaos und Verschwörungspropaganda vielen Menschen den Wunsch nach Demokratie verleiden. Sie stützen sich also, zumindest vorläufig, auf mehr Zustimmung als vor 2011. Mit einer Mischung aus Repression gegen die Opposition und Versprechungen an den Rest der Bevölkerung bemühen sich die Regime, dass dies auch so bleibt.

Die ähnlichen Strukturen und Eigenschaften der Regime wurzeln in ihrer parallelen Entstehungsgeschichte: Die Staaten wurden über Jahrzehnte von Herrschern geführt, die aus dem Militär stammen und die sich, jedenfalls zu Beginn, auf das Vorbild von Gamal Abdel Nasser bezogen haben.

Alle Regime setzten in den Anfangsjahren auf ein am Sozialismus orientiertes Entwicklungsmodell. Durch Verstaatlichungen, Landreformen und die Öffnung der Universitäten für alle Schichten veränderte sich die Gesellschaftsstruktur. Arbeitsmigration in die reichen Golfstaaten beförderte zusätzlich den sozialen Wandel.

Allerdings konnten die Regime schon bald ihr Versprechen, die Bevölkerung zu versorgen, nicht mehr einlösen. Bei der Transformation hin zu mehr Marktwirtschaft profitierten vor allem Parteigänger der Regime. Eine enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik, Klientelwirtschaft und Korruption sorgte dafür, dass bei der Reform der Wirtschaft die Schere zwischen Arm und Reich weiter aufging. Es bildete sich nur langsam eine Mittelschicht, und die Regime waren zunehmend überfordert, die Bedürfnisse einer schnell wachsenden und im Durchschnitt immer jünger werdenden Bevölkerung zu befriedigen.

Jedoch – auch das ist eine Parallele – nutzten die Regime die Vernachlässigung der Bevölkerung, um ihre Macht zu festigen: Die Massen auf dem Land, die Zukurzgekommenen waren besonders leicht zu manipulieren und wurden so zu einer wichtigen Säule des alten Regimes. Die Aktivisten der Revolution scheiterten nach 2011 daran, diese Mehrheit der Bevölkerung in den politischen Neuanfang einzubeziehen. Bereits nach kurzer Zeit waren viele bereit zu glauben, dass die Zeit für eine Demokratisierung noch nicht reif sei.

Typisch für die Regime ist auch ihre Angst vor der eigenen Bevölkerung und selbst vor ihrer eigenen Entourage. Deswegen verfügen sie alle über einen großen Sicherheits- und Geheimdienstapparat. Teilweise haben sie aus Misstrauen gegenüber Armee und Polizei eigene Milizen gebildet oder halten Schlägerbanden bereit, um in kritischen Momenten gegen die Opposition oder Kritiker aus den eigenen Reihen vorzugehen bzw. die Bevölkerung einzuschüchtern.

Zudem unterhalten alle Regierungen mehr oder weniger verdeckte Beziehungen zu radikalen und militanten Islamisten, um diese im Falle einer ernsthaften Bedrohung für das Regime einsetzen zu können.

Wichtige Stütze der Regime sind die administrativen Systeme. Mächtige Institutionen, Seilschaften in der Bürokratie und andere Netzwerke sorgen dafür, dass die Interessen der Herrschenden auch ohne deren direktes Zutun umgesetzt werden. Diese Systeme sind dem Regime zumeist loyal, sie führen jedoch auch ein Eigenleben. Die Reibereien zwischen Justiz und Regierung in Ägypten seit 2013 sind ein Beispiel dafür. Im Jemen konnten die Huthis auf die alten Seilschaften von Ali Abdullah Saleh zurückgreifen, die ihnen die fast kampflose Eroberung Sanaas ermöglichten.

Islamistische Opposition: Seit Jahrzehnten gefördert 

In allen Ländern entwickelte sich seit den 1960er Jahren eine islamistische Opposition. Zumeist gaben Organisationen wie die Muslimbruderschaft oder al-Nahda den Ton an. Typisch für die alt-neuen Regime ist, dass sie diese zwar verboten und partiell verfolgt haben, sie aber zugleich auch gewähren ließen. Islamisten galten ihnen als leichter kontrollierbar als die linken Gruppierungen. Zeitweilig wurden die islamistischen Vereinigungen von den Regierungen regelrecht gefördert, um den Linken die Anhängerschaft abzuwerben.

Oft spiegelten sich die Strukturen der Regime in Ideologie und Organisationsform der islamistischen Opposition wider. Die Muslimbruderschaft in Ägypten zeichnet sich vor 2011 durch intransparente Hierarchien und die Bereitschaft aus, Kompromisse mit dem Regime einzugehen. In Libyen war die Muslimbruderschaft so streng verboten, dass sie nur im Exil beziehungsweise als sehr konspirative Untergrundstruktur existieren konnte. In beiden Fällen handelt es sich um schlechte Voraussetzungen dafür, dass diese Organisationen die Führung übernehmen konnten, um ihren Ländern einen demokratischen Neuanfang zu bringen.

Auch bildete sich in den meisten Ländern eine radikalislamistische Szene, die mehr oder weniger direkt mit Al Qaida und anderen militanten Gruppen zusammenarbeiteten. Ziel dieser Organisationen ist die Befreiung der Region von Fremdherrschaft und den bestehenden Regierungen, um dort ein islamisches Kalifat zu errichten. Die Methoden, die von den radikalen Kämpfern angewandt werden, und auch ihre Ideologie bilden einen Spiegel dessen, was von den alt-neuen Regierungen verbreitet wird. Eine wichtige Rolle spielt dabei auch Saudi-Arabien, das in den letzten Jahren zur Schutzmacht der alt-neuen Regime aufgestiegen ist und zugleich seine radikale Lesart des Islam verbreitet.

Gespaltene Opposition und die Konjunktur der Verschwörungstheorien 

Was die nichtislamistische Opposition angeht, entwickelten die Regime besonders effektive Fähigkeiten, die Bildung von stabilen Strukturen und den Aufstieg von Führungspersönlichkeiten zu verhindern. Harte Repression, Unterwanderung und die Einbeziehung Einzelner in das eigene politische System zeigten Wirkung und führten 2011 in Ägypten dazu, dass die Opposition sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen konnte. Hier spielen auch persönliche Eitelkeiten, Kompromissunfähigkeit und nicht ausdiskutierte ideologische Differenzen eine Rolle. Natürlich tragen sowohl die nichtislamistischen Oppositionspolitiker, die Aktivisten der Revolution als auch die Vertreter der moderaten islamistischen Opposition die Hauptverantwortung für die eigene Unfähigkeit, eine gemeinsame Vision für den demokratischen Neuanfang zu entwickeln. Sie waren nicht bloße Opfer ihrer Regime, sondern handelnde Akteure, die eine historische Chance bekamen und daran scheiterten. Allerdings hatten die alten Regime entsprechend vorgebaut, die Ausgangsvoraussetzungen waren daher äußerst schlecht.

Der größte Erfolg der Regime war, dass es ihnen gelang, die Opposition zu spalten. Bald hassten und fürchteten Islamisten und Nicht-Islamisten einander so sehr, dass die Auseinandersetzung mit dem Regime, gegen das sie eigentlich die Revolution angestrengt hatten, beinahe in Vergessenheit geriet. Das neu-alte Regime konnte sich abwechselnd mit dem einen oder dem anderen Lager verbünden.

Der Hass wurde zusätzlich durch die Hetze in den Medien verstärkt. Es gibt in allen Ländern eine enge Verknüpfung von Regierung und Medien. Nachdem in den 1990er Jahren das Monopol der Staatsmedien aufgebrochen worden war, bedienten sich die Regime seitdem treu ergebener Journalisten, die im Privatfernsehen ihre Botschaften verbreiteten und mit Verschwörungstheorien und Gerüchten die Zuschauer von den eigentlich wichtigen Themen ablenkten. Die Macht von Verschwörungstheorien ist dabei überhaupt nicht zu unterschätzen: 2011 hieß es, ausländische Agenten hätten den Arabischen Frühling angezettelt, um die Region ins Chaos zu stürzen und unter seine Kontrolle zu bringen. Heute drehen sich viele Verschwörungstheorien um den IS und dessen Entstehung. Derartige Vorstellungen sind so stark verbreitet, dass es in Ägypten inzwischen schwierig ist, Menschen zu finden, die nicht daran glauben.

Den Aktivisten der Revolution wird vorgeworfen, mit dem Aufstand die Bühne für die Militanten bereitet zu haben. Gewiss, ohne die Arabellion hätte sich der IS wohl nicht in weiten Teilen Syriens ausbreiten und im libyschen Sirte und im jemenitischen Mukallah Stützpunkte errichten können. Aber dies ist nur ein Teil der Wahrheit, denn sicher ist auch: Hätten die Aufstände Erfolg gehabt, wäre es gelungen, die Militärs zu entmachten und Demokratie und soziale Gerechtigkeit einzuführen, dann hätte sich der IS niemals so stark ausbreiten können. Wenn die alt-neuen Regierungen die Revolutionäre jetzt für den Terror verantwortlich machen, geht es dabei vor allem darum, von der eigenen Förderung des Terrorismus abzulenken.

Das Scheitern des Westens

Ähnliches gilt auch für die weitverbreitete Auffassung, dass der IS in Wirklichkeit das Produkt einer US-Geheimdienstverschwörung ist. Natürlich ist unbestritten, dass die gescheiterte Politik der USA nach der Invasion 2003 im Irak den Boden für den Hass zwischen Schiiten und Sunniten und damit für das Erstarken des IS bereitet hat. Auch hat das lange Nichteingreifen der USA in Syrien dazu geführt, dass sich dort immer mehr Militante dem IS angeschlossen haben. Washington aber die volle Verantwortung für die Entstehung und die Eroberungszüge des IS zu geben, soll vor allem davon ablenken, wie gezielt und erfolgreich die alt-neuen Regime der arabischen Welt den IS gefördert haben.

Wenn die USA sich etwas vorzuwerfen hat, dann wohl am ehesten, dass sie zuerst jahrzehntelang den Diktatoren der Region die Treue gehalten haben und es dann 2011 versäumten, die demokratischen Kräfte aktiv zu unterstützen. Die US-Politik war geleitet von einem Streben nach Stabilität in der Region, nicht von der Unterstützung eines demokratischen Wandels.

Dass die USA und auch viele europäische Staaten seit 2014 die Annäherung an die alt-neuen Regime suchen und beispielsweise Abdel Fattah al-Sisi zu Staatsbesuchen nach Berlin, Paris und New York reisen konnte, ist ein weiterer Tiefschlag für die Demokratiebewegung in der Region und Wasser auf die Mühlen des IS, der dies als Beweis dafür darstellt, dass der Westen Freiheit und Demokratie in der arabischen Welt gar nicht eingeführt sehen wolle, sondern nur machtpolitische Interessen habe.

Europa und die USA wirken ratlos, welche Politik sie in der Region verfolgen sollen. Ebenso wie es falsch erscheint, die neu-alten Herrscher der Region zu unterstützen, fehlen andererseits erfolgversprechende Alternativen zu dieser derzeitigen Linie. Angesichts der Millionen Flüchtlinge, die nach Europa kommen, und der Bedrohung durch den IS ist zumindest klar, dass Weggucken und Nichtstun keine Option mehr sind.

Ein wichtiger Faktor für die Macht der Regime in der Region ist nach wie vor der Einfluss von außen. Hier spielt ganz besonders der regionale Konflikt eine Rolle. 2011 stehen sich zwei Lager gegenüber, die um die Vormachtstellung in der Region kämpfen. Auf der einen Seite steht Katar mit der Türkei, auf der anderen Seite Saudi-Arabien mit den Vereinigten Arabischen Emiraten. Die Staaten der Arabellion werden zum Schlachtfeld, auf dem dieser Konflikt ausgetragen wird. So unterstützen Katar und die Türkei die Muslimbruderschaft in Ägypten, Libyen und Syrien, al-Nahda in Tunesien und al-Islah im Jemen als jeweils größte Oppositionskraft. Sie halten diese für geeignet, die Länder nach dem Umsturz schnell wieder auf stabilen Kurs zu bringen. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sehen dies als Bedrohung und unterstützen die Kräfte des alten Regimes bzw. die Opposition gegen islamistische Regierungen. Mit großzügiger finanzieller Hilfe für die politischen Akteure und durch ausgiebige Propaganda in der jeweiligen Richtung – schließlich verfügen beide Seiten über einflussreiche panarabische TV-Stationen – tragen sie den Konflikt aus.

Letztlich geht es dabei weniger um einen Konflikt zwischen Islamisten und Nicht-Islamisten als vielmehr um einen Konflikt zwischen den Unterstützern der alten autoritären Regime und den Förderern eines Regimewechsels. Beide Lager wollen in den postrevolutionären Staaten möglichst viel Einfluss gewinnen und dort stabile Verhältnisse in ihrem Sinne schaffen. Demokratisierung steht nicht auf ihrer Agenda.

Vorläufiger Sieger dieses regionalen Machtkampfes ist das Lager von Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Allerdings zeichnet sich ab, dass der Konflikt zwischen den beiden mächtigen Blöcken, der von 2011 bis 2014 die Politik der Region weitgehend bestimmte, sich weiter abschwächen wird: Die Zusammenarbeit im Kampf gegen den IS unter Führung der USA, der gemeinsame Krieg gegen die Huthis im Jemen und der Schock, den das Atomabkommen zwischen den USA und dem schiitischen Iran all diesen Ländern gleichermaßen versetzt hat, lässt Riad, Abu Dhabi, Doha und Ankara wieder enger zusammenrücken. Statt auf Konfrontation setzen sie nun auf Interessenausgleich.

Positivbeispiel Tunesien 

Was ist – ob in Ägypten oder Libyen, Syrien oder dem Jemen – letztlich schiefgelaufen? Bei der Suche nach Antworten hilft es, nach Gegenbeispielen zu suchen: Was ist andernorts besser gelaufen und warum?

Das Beispiel Tunesien drängt sich dabei auf. Allerdings waren dort die Ausgangsvoraussetzungen auch günstiger. Zwar handelte es sich um ein Regime gleichen Typs. Doch die Macht des Präsidenten Ben Ali hatte sich hier stärker vom Militär verselbstständigt, und zudem war die Armee im Vergleich zu den anderen Ländern eine schwache Institution. Hinzu kommt, dass die tunesische Bevölkerung vergleichsweise reicher und besser gebildet ist und sich eine selbstbewusste Zivilgesellschaft entwickeln konnte.

Ganz besonders hat Tunesien davon profitiert, dass es strategisch keine große Bedeutung besitzt. Der Konflikt zwischen den beiden regionalen Lagern wurde deswegen hier weit weniger heftig ausgetragen als beispielsweise in Ägypten oder Syrien. Wichtig für den Erfolg ist auch, dass al-Nahda im Vergleich zur Muslimbruderschaft deutlich moderner, flexibler und kompromissfähiger ist und die nichtislamistische Opposition auf die gewachsene Zivilgesellschaft zurückgreifen konnte, um sich zu organisieren. Dies alles führte dazu, dass im entscheidenden Moment in Tunesien Kompromisse geschlossen und politische Veränderungen angegangen werden konnten, die in den anderen Ländern nicht möglich waren.

Der Erfolg Tunesiens ist insofern wichtig für die Entwicklung in der ganzen Region, als er zeigt, dass es doch möglich ist, in der arabischen Welt demokratische Entwicklungen anzustoßen. Umso dramatischer ist, dass die Errungenschaften dieses Aufbruchs nun von Terroristen bedroht sind. Nicht nur, weil sie Anschläge verüben, Jugendliche rekrutieren und die Wirtschaft schädigen, sondern weil der Kampf gegen den Terror auch autoritären Kräften als Vorwand dient, die gerade gewonnenen Freiheiten wieder einzuschränken.

Terrorismus als Joker 

Der militante Islamismus ist ein Joker der alt-neuen autoritären Regierungen. Über den Kampf gegen diese zum Teil selbst geschaffene Gefahr wollen sie an die absolute Macht zurückkehren oder ihre Position festigen. Dies macht die Lage für die Aktivisten der Revolution sehr schwierig, wenn nicht vorübergehend sogar aussichtslos, ihre Ideen von einer freieren und demokratischeren Gesellschaft durchzusetzen.

Doch nur, wenn die Gesellschaften der Region gerechter werden und auch die Jugend Zukunftschancen sieht, wird der IS seine Attraktivität verlieren und nicht mehr so viele Jugendliche rekrutieren können. Ähnliches gilt auch für die entflammte Diskussion über eine Reform des Islam von innen und eine Rückbesinnung auf die jahrhundertealten Traditionen der Interpretation der religiösen Quellen, um so den radikalen IS-Ideologen etwas entgegenzusetzen. Das setzt allerdings eine größere Unabhängigkeit des religiösen Diskurses voraus. Solange die alt-neuen Regime an der Macht sind, wird es nicht dazu kommen, da sie kein großes Interesse daran haben, dass die Bedrohung durch den Terror nachlässt. Diesen Teufelskreis gilt es zu durchbrechen. Aber wie?

Da weder der politische Wandel durch Wahlen noch der bewaffnete Kampf bisher dazu geführt haben, die alt-neuen Regime zu besiegen, erscheint derzeit die langfristige Veränderung von unten als die einzig erfolgversprechende Strategie: Graswurzelrevolution. Allerdings versuchen die alt-neuen Regime mit aller Macht, genau diese zu verhindern, und legen der Zivilgesellschaft immer neue Steine in den Weg.

Was Hoffnung macht, ist, dass es dennoch Veränderungen gibt: Äußerlich ist es die veränderte Mode, die ins Auge fällt. Pluderhosen, Wuschelmähnen, Fahrradfahren. Auch zwischenmenschlich hat sich in den letzten Jahren einiges verändert. Zwischen den Generationen und auch unter den Geschlechtern sind die Beziehungen etwas gleichberechtigter geworden. Auch an der Kluft zwischen den Schichten tut sich etwas, und mancherorts deutet sich auch Annäherung zwischen den ideologischen Lagern an.

Und dennoch: Derzeit haben die meisten Menschen in der Region das Verlangen nach neuen Protesten verloren. Was allerdings den meisten geblieben ist, ist die Wehmut, mit der sie sich an den Frühling 2011 erinnern – und an die Hoffnung, die sie einmal hatten.

Der Beitrag basiert auf dem jüngsten Buch der Autorin "Der verpasste Frühling. Woran die Arabellion gescheitert ist", das soeben im Christoph Links Verlag erschienen ist.

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