Der Kampf um die Selbstbehauptung

Bild: skeeze (CC0 Creative Commons)
Der Feminismus hat mein Leben verändert. Nicht nur im übertragenen Sinne. Das auch. Zunächst bescherte der Feminismus mir jedoch meinen glänzenden deutschen Pass. Na ja, meinen nicht mehr ganz so glänzenden Pass, weil ich ihn ständig mit mir herumtrage, um zu beweisen, dass ich wirklich ich bin.
Hier soll es nun um die deutsche Frauenbewegung vom Tomatenwurf[1] bis heute gehen und um die Frage, ob genügend Tomaten geflogen sind und wir heute Ketchup für alle haben. Aus diesem Grund wäre dieser Text beinahe nicht zustande gekommen. Wer bin ich, mir das anzumaßen?
Zum Glück habe ich meinen Pass, um diese Frage zu beantworten: Ich bin Deutsche. Weil die Frauenbewegung für das Recht meiner Mutter gekämpft hat, mir ihre Staatsangehörigkeit zu geben. Tatsächlich hat meine Mutter als Teil der Interessengemeinschaft der mit Ausländern verheirateten Frauen (IAF), als Teil der deutschen Frauenbewegung dafür gekämpft. 1974 stimmte ihnen das Bundesverfassungsgericht zu, dass es mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung unvereinbar ist, wenn die Staatsangehörigkeit nur über den Vater vererbt wird. Am 1. Januar 1975 wurde das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz geändert und am 28. Januar wurde ich Deutsche. Das war ein Dienstag. Danke Mama!
Das war aus einer ganzen Reihe von Gründen bemerkenswert: So wurden die Menschen, die in diesem Land lebten, damals noch Ausländer genannt und nicht wie vorher Gastarbeiter oder wie nachher Migranten oder wie heute Muslime. (Wir erleben zurzeit eine Ethnisierung von Religion. Sind Sie beige und haben dunkle Augen und Haare? Herzlichen Glückwunsch, dann gehören Sie dazu – ob Sie wollen oder nicht. So gratulieren mir häufig Leute, dass ich kein Kopftuch trage.)
Insbesondere aber, weil das eine radikale Revolutionierung der Vorstellungen von Besitz in Bezug auf Geschlecht war. Frauen konnten damit nicht nur ihren materiellen Besitz vererben, sondern wurden auch zu Eigentümerinnen ihrer Privilegien: Frau Doktor war nicht mehr (nur) die Frau des Doktors, sondern selber Doktora, und eine Deutsche gehörte nicht mehr nur als Tochter zu diesem Land, sondern konnte ihre Zugehörigkeit auch auf ihre potentiellen Kinder übertragen. Damit wurde Deutschland vom Vaterland zum Vater- und Mutterland (andere Möglichkeiten, die Staatsangehörigkeit zu erlangen, wurden und werden noch immer heiß umstritten), und das war ein Grund zu feiern!
Dabei hinterfragten die 68er die Bedeutung von Vaterland und Staat und Angehörigkeit. Ich erinnere mich noch an einen Genossen, der mir erklärte, er glaube nicht an Nationalitäten, weshalb ihm Pässe egal seien. Derselbe Genosse wurde später der Vater meines Sohnes und setzt jetzt alles daran, dass unser Sohn neben meinem auch seinen – also einen französischen – Pass bekommt. Betroffenheit verändert den Blick auf die Dinge, und das ist gut so. Doch noch etwas verändert unseren Blick, und das ist unser „Schlicht-so-Sein“. Der Schriftsteller David Foster Wallace erzählte gerne die Geschichte: „Schwimmen zwei junge Fische des Weges und treffen zufällig einen älteren Fisch, der in die Gegenrichtung unterwegs ist. Er nickt ihnen zu und sagt: Morgen Jungs, wie ist das Wasser? Die zwei jungen Fische schwimmen eine Weile weiter, schließlich wirft der eine dem anderen einen Blick zu und sagt: Was zum Teufel ist Wasser?“ Der Feminismus ist das Wasser, in dem wir schwimmen. Deshalb fällt es uns so schwer zu bemerken, auf wie unendlich vielen Wegen und Arten unser Leben grundlegend anders ist, als es wäre, wenn es die Frauenbewegung nicht gegeben hätte, den Feminismus, den Womanismus und Riot Grrrl und alles, was dazugehört. Die Gesellschaft ist eine andere geworden. Und sie ist nicht so anders, wie wir sie gerne hätten: Mind the gap!
Ein gerne zitiertes Beispiel ist der Gender Pay Gap, also der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen – und ja, in dieser wie in so vielen Debatten um gleiche Rechte ist die Tatsache, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt, die alle ein Recht auf gleiche Rechte haben, noch immer nicht angekommen. Jeder kennt die Parole: „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!“ Nur ist diese ebenso eingängig wie falsch. Wenn es tatsächlich so wäre, dass Frauen in Deutschland für die gleiche Arbeit 21 Prozent weniger Bezahlung bekämen als Männer, würden Betriebe ab morgen nur noch Frauen einstellen und damit über Nacht ein Fünftel ihrer Kosten sparen. So sehr kann der Kapitalismus das Patriarchat gar nicht lieben. Die 21 Prozent Lohnunterschied beziehen sich auf das Durchschnittseinkommen von Frauen in Vollzeitbeschäftigung im Vergleich zu dem von Männern in Vollzeitbeschäftigung. Der bereinigte Pay Gap – also der, bei dem versucht wird, die tatsächliche Lohndiskriminierung zu errechnen, der also nicht das Einkommen von (um im Klischee zu bleiben) Kindergärtnerinnen mit dem von Schreinern vergleicht – ist deutlich niedriger: Je nachdem, welcher Statistik man glaubt, liegt er zwischen 2 Prozent (Institut der Deutschen Wirtschaft) und 7 Prozent (Statistisches Bundesamt). Wer manipuliert hier also die Zahlen? Niemand. Es ist die Frage, welche Faktoren man mitberechnet und welche nicht. Wie so häufig ist die Sache nicht so eindeutig, wie wir sie gerne hätten. Das ist natürlich kein großer Trost, da Frauen dieselben Mieten zahlen müssen und ein Laib Brot nicht weniger kostet, wenn eine Frau ihn kauft. Aber es bedeutet, dass das Lohngleichheitsgesetz nur an den 2 bis 7 Prozent tatsächlicher Unterschiedlichbezahlung im selben Beruf rütteln kann und wir für die restlichen 14 bis 19 Prozent des Gender Pay Gaps andere Maßnahmen brauchen.
Gleiches Geld für gleiche Arbeit
Nun beruht die Vorstellung der unterschiedlich vollen Lohntüte nicht auf verblendeter Propaganda, sondern darauf, dass Frauen mit der industriellen Revolution tatsächlich weniger Lohn bekamen als Männer. Die Begründung war, dass Arbeiterinnen weniger schwer tragen, weniger schnell malochen oder anderweitig hart arbeiten würden als ihre männlichen Kollegen und deshalb in derselben Zeit weniger produzieren würden. Ähnlich erging es auch schwarzen oder beigen Arbeiter*innen, nur dass bei ihnen die Begründung lautete: Seid froh, dass ihr überhaupt einen Job habt.
Die Gesetze, die diese Ungleichbehandlung verbieten, sind der Frauenbewegung der 68er zu verdanken (die bei uns in der Provinz etwas später angekommen ist, weshalb wir sie den Siebziger-Jahre-Feminismus nennen). Ebenso wie das Gesetz, dass Ehemänner nicht mehr den Arbeitsvertrag ihrer Ehefrau kündigen können, wenn sie meinen, dass die den Haushalt nicht ordentlich genug macht, und so viele andere Gesetze, die uns heute als selbstverständlich erscheinen, wie die wenn schon nicht Legalisierung, so doch zumindest Straffreiheit bei einem Schwangerschaftsabbruch bis zur zwölften Woche (1974 in der BRD, in der DDR war Abtreibung legal), die Revolutionierung des Scheidungsrechts (1977), der Zugang zu sogenannten Männerberufen wie Polizistin (1979), Nachrichtensprecherin (1979), Pilotin (1986), Ministerpräsidentin (1993) oder Schiedsrichterin in der Fußball-Bundesliga (2017), das Gesetz zur Gleichbehandlung am Arbeitsplatz (1980), das Recht, bei einer Heirat den eigenen Namen zu behalten (1991), die Eingetragene Partnerschaft für Homosexuelle (2001) und die Nein-heißt-nein-Regelung bei Vergewaltigungen (2016), um nur einige zu nennen. Dass sie uns so selbstverständlich erscheinen, zeigt, wie radikal der Feminismus die Art, wie wir in der Welt sind, verändert hat.
Und trotzdem gibt es die 21 Prozent. Deshalb muss der Kampf neben der juristischen auch auf der mentalen Ebene ausgefochten werden, auf der Ebene der Vorstellungswelten und der Narrative. Eines dieser Narrative ist Geld, das für Frauen nach wie vor ein schmutziges Wort ist. Und mit Frauen meine ich auch mich. Wann immer mich Veranstalter*innen fragen, ob ich einen Vortrag halten oder einen Artikel schreiben möchte, entschuldige ich mich, weil ich nach dem Honorar fragen muss. Und wenn die Antwort lautet – wie sie überraschend häufig lautet –, dass sie es sich leider nicht leisten können, mich für meine Arbeit zu entlohnen, entschuldige ich mich erneut und erkläre – ernsthaft! –, dass ich leider mein Kind ernähren muss und ansonsten nur zu gerne ohne Bezahlung alles Mögliche für Menschen tun würde, deren einzige Verbindung zu mir darin besteht, dass sie mir eine E-Mail geschickt haben.
Ein anderes Land
Doch kommen wir zurück zu den 68ern, denen ich für immer dankbar sein werde, weil sie dafür gesorgt haben, dass Deutschland ein anderes Land geworden ist, so sehr, dass wir das Prä-68er-Deutschland nicht mehr erkennen würden, auch wenn es uns mit Petersilie dekoriert auf einer Kaltplatte gereicht würde. Gleichzeitig waren die 68er aber auch diejenigen Lehrer (wenn sie nicht aufgrund des Radikalenerlasses aus dem öffentlichen Dienst entfernt worden waren), die sich in den 1980er Jahren vor uns Schüler*innen stellten und sagten: „Wir waren viel politischer als ihr.“ Natürlich schrieben wir uns damals noch nicht mit *. Die Geschlechtergrenzen verliefen ebenso klar wie die anderen Demarkationslinien. Das ist etwas, was sich heute verändert hat: die Vorstellung, dass es nur eine Art gibt, Politik zu machen, sowie die Sicherheit, mit der zwischen hüben und drüben unterschieden wird, zwischen uns und denen. Habe ich geschrieben „hat“? Ich meinte natürlich: „soll“. Das ist etwas, was sich noch weiter verändern sollte. Bitte. Dringend.
Vorstellungswelten zu erweitern ist eine zentrale Aufgabe des Feminismus – auch heute. Tatsächlich werde ich meistens doch für Veranstaltungen bezahlt. Eine der Fragen, die mir dabei immer wieder gestellt werden, ist: „Gegen wen sollen wir denn dann kämpfen?“ Denn ich spreche (nicht nur, aber) auch darüber, in welchen Formen Männer aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden. Was ich damit meine, ist lediglich, dass Simone de Beauvoirs berühmter Satz: „Man wird nicht als Frau geboren, man wird es.“ genauso gilt, wenn man sagt: „Man wird nicht als Mann geboren, man wird es.“ Ich meine, dass Cis-Männer nicht die Gewinner der Geschlechterlotterie sind, sie haben nur ein anderes Los gezogen als Cis-Frauen.[2] Und dass die Befreiung der Frau nicht ohne die Befreiung des Mannes – und der aller anderen Geschlechter! – funktionieren kann.
„Gegen wen sollen wir denn dann kämpfen?“ – eine berechtigte Frage, aber es ist eben nur eine von vielen Fragen, wie zum Beispiel „Wofür wollen wir kämpfen?“. Der Tomatenwurf war ein Protest gegen das Selbstverständnis der Helden der Studentenbewegung, die Frauen – und auch anderen als Minderheiten wahrgenommenen Gruppen, wie Menschen mit Behinderungen, rassifizierte Menschen und so weiter – eine Nebenrolle in ihren inneren Skripten zuschrieben – sprich: Sie sollten diese Skripte/Reden/Flugblätter abtippen und kopieren und sich ansonsten um Kaffee/Kinder/Küche kümmern. Das war so offensichtlich unfair, dass es einfach war, sich dagegen zu positionieren. Und das war notwendig! Vor allem, da Recht und Gesetz auf Seiten der Helden waren. Das Narrativ der Helden wurde damit aber auch affirmiert: Es wurde gebeten, geschimpft, eingefordert, eine bessere Rolle in diesem Narrativ zu erhalten – anstatt ein eigenes Narrativ zu erschaffen, in dem wir die Aufmerksamkeitsökonomie bestimmen. Denn ein Vorteil daran, dass wir Gesetze geändert haben – und ich möchte mich an dieser Stelle noch einmal bei all den großartigen Frauen* bedanken, die das de facto getan und mir das Privileg verliehen haben, hier in politischer Kontinuität wir zu schreiben –, ist, dass es schnurz ist, ob die Helden (der Studentenbewegung, der linken Szene, des Schulhofs, des Betriebs ...) uns zustimmen oder nicht. Ihre Liebe hat nicht mehr Gewicht als unsere und sie sind ebenso auf unsere Wertschätzung angewiesen wie wir auf ihre. Nur ist das bei den meisten von uns noch nicht angekommen. Und damit meine ich, bei den meisten Anteilen meiner Psyche.
Die Feinde waren nie die Männer, die Weißen, die Kapitalisten (okay, die vielleicht schon). Der politische Kampf hat sich immer darauf gerichtet, Systeme zu verändern. Dass die Welt komplexer geworden ist, ist ein Zeichen dafür, dass auch unser Denken komplexer geworden ist. Und dass Kämpfen (im besten Fall) bedeutet, darum zu ringen, dass wir wachsen und uns gegenseitig beim Wachsen helfen. Natürlich geht es darum, gegen Herrschaftsstrukturen anzugehen, aber auch gegen die eigenen Herrschaftsstrukturen.
Um die ganze Sache noch komplizierter zu machen, ist Unterdrückung selbst zu einer Form des politischen Kapitals in linken Kreisen geworden. Werde ich unterdrückt, muss ich keine Verantwortung dafür übernehmen, wenn ich möglicherweise andere unterdrücke, schließlich bin ich ja die Unterdrückte. Nach dem Motto: Wer zuerst sagt „du hast mich verletzt“, hat gewonnen. Doch die meisten von uns sind nicht Gefangene totalitärer Regime. Und wenn wir von Diskriminierung sprechen, dann ist diese real, aber sie stellt uns eben nicht automatisch außerhalb des Systems, auf das wir dann nur noch unbeteiligt schauen können. Diskriminiert zu werden ist keine moralische Kategorie, verhindert nicht, andere (und uns selbst) zu diskriminieren. Noch einmal: Es geht darum, Strukturen zu verändern. Und das tun wir unter anderem, indem wir vorleben, dass wir Menschen als Menschen wahrnehmen und nicht als Vertreter ihres Geschlechts – auch wenn diese Menschen Cis-Männer sind.
Ich möchte das am Beispiel der Vereinbarkeit von Kindern und Leben verdeutlichen, weil sich daran so vieles aufzeigen lässt. Der Feminismus hat mir ein Leben geschenkt, das für meine Mutter unmöglich gewesen wäre. Er öffnete mir die Tore der Universitäten (und da ich aus einer Arbeiterfamilie komme, in der mir der Mond deutlich näher war als ein Studium – schließlich sah ich ihn jeden Abend, während Universitäten fremde Galaxien waren –, schrieb ich mich in meiner Heimatstadt für eine Fächerkombination ein, die mich nicht sonderlich interessierte, weil ich ja schließlich nicht zum Spaß studierte). Und dann wurde ich schwanger und hatte das Gefühl, mit einem Schlag zurück in den 1950er Jahren gelandet zu sein. Was natürlich nur bewies, wie wenig Ahnung ich von den 50ern hatte. Aber auch, wie radikal sich meine Wahlmöglichkeiten verengten. Ich wäre gerne Vater geworden und hätte eine (Ehe-)Frau gehabt, die sich zu Hause um das Kind gekümmert hätte, während ich ... nicht einmal Karriere ..., aber doch irgendetwas anderes gemacht hätte, als durchgehend und ausschließlich die Bedürfnisse einer anderen Person zu befriedigen und, wann immer ich etwas anderes tat, wie zum Beispiel arbeiten, aus missverstandenem Mutterschutz am liebsten nach Hause geschickt worden wäre. Als ich zum Jugendamt ging, um darüber zu verhandeln, ob es mir eine Tagesmutter bezahlen könnte, sagte die freundliche Beamtin: „Kein Problem, wir haben hier das Düsseldorfer Modell, Sie brauchen nicht zu arbeiten und bekommen jeden Monat 1000 Euro, ist das nicht toll?“ Sie konnte nicht verstehen, dass ich das nicht toll fand, während ich nicht verstehen konnte, dass sie mir lieber 1000 Euro geben wollte als 300 Euro für die Tagesmutter.
Und mit dem Gefühl, dass hier etwas faul ist, bin ich nicht allein. Der Moment, in dem das erste Kind kommt, ist für die meisten Menschen bei uns gleichbedeutend mit einem Rückfall in traditionelle Geschlechterrollen. Beziehungen, die vorher ziemlich gleichberechtigt geführt wurden, verwandeln sich in Versorgerehen, bei denen die Frauen zu Hause beim Kind bleiben – zumindest erst einmal. Nicht, weil die Hormone sie in den Wahnsinn treiben, sondern weil es eine Reihe von guten Gründen gibt, angefangen bei der Tatsache, dass in den meisten Beziehungen die Frauen weniger verdienen. Und diese Gründe sind das Problem. Denn sie kommen ja nicht von ungefähr. Siehe 21 Prozent Lohnunterschied.
Doch dann gibt es noch die anderen Gründe, wie in: das andere Geschlecht. Noch immer nimmt nur ein kleiner Anteil der Väter Elternzeit – und von denen 80 Prozent nur zwei Monate. Überraschend dabei ist, dass viele junge Väter in Deutschland Elternzeit nehmen wollen, ihnen das aber gar nicht so einfach gemacht wird wie Müttern, die bereits während der Schwangerschaft von ihren Arbeitgebern darüber beraten werden. Das beginnt bei arbeitsrechtlichen Hürden wie der, dass der Kündigungsschutz für werdende Väter erst ab der achten Woche vor der Geburt besteht, Elternzeit aber bis spätestens zur siebten Woche beantragt werden muss. Viele Chefs*innen fühlen sich dann davon hintergangen und machen ihren Arbeitnehmern klar, dass sie sich in diesem Fall eine Karriere in dem Unternehmen abschminken können, und Jungs lernen in unserer Gesellschaft Abschminken nun einmal seltener. Doch abgesehen davon: Welche Perspektiven haben Väter überhaupt? Was ist die Rolle von Vätern in unserer Gesellschaft?
Es gibt die vage Vorstellung, dass sie den Müttern helfen sollen; so wie mein Vater damals in den 1970er Jahren im Haushalt helfen sollte. Dass sie Handlangerarbeiten übernehmen sollen, während Mütter die Expertinnen in der Kindspflege sind. Ja, es stimmt, dass Männer am Spielplatz als Helden beklatscht werden, aber nur kurz, dann sprengen sie den Kreis der Mütter und werden als Fremdkörper behandelt. Ich verallgemeinere, doch genau das tun auch die Jugend- und alle anderen Ämter. Väter sind Eltern zweiter Klasse, die Krankenkassen etwa übernehmen die Kosten des Geburtsvorbereitungskurses für Mütter, aber nicht für Väter. Väter, die sich mit den Müttern nach einer Trennung die Sorge des Kindes je zur Hälfte teilen, müssen trotzdem den vollen Unterhalt zahlen. Einzelfallentscheidungen zeigen, dass sich inzwischen etwas bewegt – leider nur sehr langsam.
Ein anderes Bild von Fortschritt
Die 1960er waren das Jahrzehnt der Zukunft, einer Zukunft, die für uns heute so steampunk wirkt wie das Viktorianische Zeitalter. Was daran liegt, dass sich unsere Vorstellungen von Fortschritt verändert haben. Wir haben begriffen, dass höher, schneller, weiter in einer immer globaleren Welt nichts anderes als ein Rezept für Selbstzerstörung und Einsamkeit ist. Was wir brauchen, sind revolutionäre Konzepte für Kommunikation, Konsens und Respekt. Der Umgang mit Kindern ist ein Beispiel für eines dieser Konzepte. Männer lernen in unserer Gesellschaft noch immer, weniger Zugang zu ihren Gefühlen, weniger Empathie mit sich selbst und als Konsequenz daraus weniger Empathie mit anderen Menschen zu haben. Wenn junge Väter Zeit und Hautkontakt mit ihren Babys teilen, eröffnet ihnen dies einen Weg zu ebendiesen Persönlichkeitsanteilen. Wie können wir es für das Gemeinwohl unserer Gesellschaft verantworten, ihnen das zu erschweren? Ja, wie kann die Wirtschaft es sich leisten, dass ihnen diese soft skills flöten gehen?
Der politische Umgang mit Männern basiert häufig auf der Forderung: Die sollen endlich etwas abgeben. Doch ist das nicht sexy. Nun müssen politische Bewegungen natürlich nicht sexy sein. Aber da halte ich es mit Emma Goldman: Wenn ich nicht tanzen kann, ist es nicht meine Revolution. Natürlich haben Männer eine Menge durch den Feminismus zu gewinnen, oder hätten das zumindest, wenn wir die Sache konsequent angingen. Der Gedanke, dass sie die ganze Zeit Frauen unterdrücken und dabei eine tolle Zeit haben, ist ebenso anachronistisch wie das Zukunftsbild der 60er Jahre. Er ist total verständlich aus den historischen Bedingungen, aber zum Glück sind die Bedingungen inzwischen andere, weil wir sie verändert haben!
Was die Frauenbewegung erreicht hat, machte mir die Autorin Erica Fischer vor Kurzem deutlich, als sie mir erklärte: „Ich konnte mir nicht vorstellen, von einem Mann geliebt zu werden, weil ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand ein so minderwertiges Wesen wie mich lieben konnte.“ Dass eine so kluge und charmante und gebildete Autorin von so tollen Büchern wie „Aimée und Jaguar“ sich nicht vorstellen konnte, liebenswert und damit lebenswert zu sein, weil sie eine Frau war, war für mich unfassbar. Und doch war dies das Gefühl, mit dem meine Mutter aufgewachsen ist, obwohl sie unglaublich geliebt wurde – von ihrer Mutter, von ihrem Bruder, von mir – und von meinem Vater. Es ist keine faire Analyse ihrer Ehe, die wie jede Ehe vielschichtig und kompliziert war, aber ich weiß, dass meine Mutter einen großen Teil ihrer Konflikte darauf zurückführte, dass mein Vater sich ihr überlegen fühlte, weil er ein Mann war. (Umgekehrt hat mein Vater einen gerüttelten Anteil derselben Konflikte darauf zurückgeführt, dass sie sich ihm überlegen fühlte, weil er nicht deutsch war.) Und das ist es, was der Feminismus verändert hat und nach wie vor verändert. Er gibt uns – und zwar uns allen – eine Existenzberechtigung.
Dürfen wir – was auch immer – wollen, anstreben, erwarten? Wir dürfen nicht nur, wir müssen! „Wenn du dich klein machst, dient das der Welt nicht. Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun, wenn du schrumpfst, damit andere um dich herum sich nicht verunsichert fühlen. Wenn wir unser eigenes Licht erstrahlen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die Erlaubnis, dasselbe zu tun“, ist eines der berühmtesten Zitate von Nelson Mandela. Nicht ganz so bekannt ist, dass er damit wiederum Marianne Williamson zitiert hat.
Eine der vielen großen Errungenschaften der Frauenbewegung ist, dass sie die mentale Arbeit geleistet hat, die notwendig war, um uns das Korsett von „Geschlecht = Schicksal“ vom Leib zu reißen oder zumindest aufzuschnüren, damit wir anders denken, fühlen und träumen können. Dieselbe Arbeit für Männer, aus dem Schuhkarton ihrer Geschlechterzuschreibungen – der (act-like-a-)man-box – herauszukommen, steckt noch in den Kinderschuhen. So sehr, dass die meisten von uns davon ausgehen, Geschlecht hätte gar keine Auswirkungen auf Männer, außer der, dass sie sich als Masters of the Universe fühlen. Doch auch die Tatsache, dass Geschlecht Auswirkungen auf Frauen hat, wurde vor den Frauenbewegungen ja häufig übersehen. Also dass wir nicht deswegen Mathe-Leistungskurse gemieden haben, weil unsere Gehirne nicht für komplexere Rechnungen gemacht waren als die, wie viele Eier auf wie viel Mehl verwendet werden, sondern weil Leute wie mein Mathe-Leistungskurs-Lehrer gesagt haben: „Ich sehe, hier sitzen zwei Mädchen im Kurs, das wird sich bis zum Ende des Schuljahrs ändern.“ Derselbe Lehrer hätte Stein auf Bein geschworen, dass er nichts gegen Mädchen hätte, Mädchen wären nun einmal schlechter in Mathe. Dass wir heute sehen können, dass er ein Knallkopf war und dass Mädchen weder so noch so, sondern unterschiedlich sind, ist ein Zeichen für den Erfolg des Feminismus. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir abgeben: von unserer Erfahrung, unserem Wissen, unseren best-practice-Modellen.
Feminismus ist das Fenster, durch das ich politisiert worden bin. Vieles von dem, was mir in meinem Leben zugestoßen ist, habe ich als Sexismus identifiziert und damit unschädlich gemacht oder ihm zumindest die Spitze genommen: Was Sexismus war, war eine Struktur, die gegen Frauen als gesellschaftliche Gruppe gerichtet war und nicht gegen mich persönlich. Und damit traf es mich nicht so sehr. Heute würde ich vieles davon als Rassismus bezeichnen. Die Struktur ist dieselbe. Und deshalb kann der Feminismus nicht dabei stehenbleiben, nur Rechte für Frauen zu erkämpfen. Natürlich ist das jeder*m freigestellt. Aber es dabei zu belassen, bringt uns als Bewegung nicht weiter. Wir Frauen sind nur eine unterdrückte Bevölkerungsgruppe. So weh es tut: Wir sind nichts Besonderes, weil wir so sexy und ... weiblich sind. Wir wurden und werden unterdrückt, weil Kapitalismus, Patriarchat und Imperialismus auf Hierarchien basieren und darauf, dass die Welt nicht uns allen gehört. Der wirkliche Widerspruch ist nicht Patriarchat versus Matriarchat, er ist hierarchisches versus kooperatives Denken.
Dieser Text ist ein Kapitel aus dem von Susanne Schüssler herausgegebenen Band „Wetterbericht. 68 und die Krise der Demokratie“, der jüngst im Wagenbach-Verlag erschienen ist.
[1] Mit einem Tomatenwurf auf den 68er-Vordenker Hans-Jürgen Krahl protestierte die Feministin Sigrid Rüger 1968 auf einem Delegiertenkongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes gegen den Sexismus in der außerparlamentarischen Opposition. Die Aktion gilt als Geburtsstunde der neuen Frauenbewegung in der Bundesrepublik. – D. Red.
[2] Als Cis-Mann oder Cis-Frau werden Menschen bezeichnet, die sich mit jenem Geschlecht identifizieren, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde. – D. Red.