Ausgabe Oktober 2018

Die Ausbeutung der Vergangenheit

Bild: Suhrkamp Verlag

Köstlicher Wein und Käse, ein Sinn für Mode und gute Kunst – diese Klischees werden mit Frankreich verbunden. Im Sommer lautet auch für viele Deutsche die Losung: Weg von der Schwere und Ernsthaftigkeit des Arbeitsalltags und schnell über den Rhein, wo man die joie de vivre noch nicht verloren hat. Fort von den Härten des Kapitalismus, die die „Wirtschaftsmacht“ Deutschland fest im Griff haben, hin zu einer Kultur, die nicht so recht zum Profitmachen passen mag.

Dass diese Erzählung konstruiert ist und auch in Frankreich der Kapitalismus regiert, wird kaum jemanden verwundern. Dass aber ein solch klischeebehaftetes Narrativ von einem Land mit vermeintlich authentischem Bezug zu seiner Tradition, seinen Regionen und seinen lokalen Erzeugnissen Teil einer grundlegenden Transformation westlicher Gesellschaften hin zu einer Bereicherungsökonomiesein soll, überrascht dann doch. Genau das aber behaupten die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre in ihrem neuen Buch „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“. Esquerre und Boltanski – letzterer wurde international vor allem durch sein gemeinsam mit der Wirtschaftswissenschaftlerin Ève Chiapello verfasstes Werk „Der neue Geist des Kapitalismus“ bekannt – vertreten die These, dass sich in den Ländern Westeuropas infolge der Deindustrialisierung eine neuartige Ökonomie herausgebildet hat.

Sie haben etwa 15% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 85% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1.00€)
Digitalausgabe kaufen (10.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.