Von der Dekolonisierung der Museen zur Dekolonisierung der Politik
Nicht schon mit dem Ende des deutschen Kaiserreichs, sondern erst mit dem offiziellen Ende des Ersten Weltkriegs durch den Versailler Vertrag endete auch die deutsche Kolonialherrschaft. Ein Jahrhundert danach ist im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik eine allmählich zunehmende Bereitschaft zu beobachten, sich mit der kolonialen Vergangenheit Deutschlands und deren Auswirkungen auf die gesellschaftliche Gegenwart dieses Landes auseinanderzusetzen. Dass die Debatte über den Kolonialismus nun an Fahrt gewinnt, hängt nicht zuletzt mit der Wiederkehr des Verdrängten in Form der Flucht- und Migrationsbewegungen nach Europa zusammen. Katalysatorische Wirkungen hatten zudem die langjährigen Bemühungen kolonialismuskritischer zivilgesellschaftlicher Initiativen, etwa um die Umbenennung von Straßen, die bis heute nach Kolonialverbrechern benannt sind. Gleiches gilt für die Klage von Herero-Repräsentanten gegen die Bundesrepublik vor einem New Yorker Gericht sowie der Streit um das Humboldt Forum im rekonstruierten Berliner Stadtschloss.
Das noch im Entstehen begriffene Forum wirft dabei unabsichtlich die schwierige Frage auf, wie die preußisch-absolutistische Hülle mit der im Inneren geplanten Ausstellung der – ausschließlich außereuropäischen – ethnologischen Sammlungen überhaupt in eine Beziehung gesetzt werden kann, die nicht typische koloniale Diskurse und Denkmuster bedient.
Auch in Frankreich werden derzeit heftige erinnerungspolitische Schlachten um die koloniale Vergangenheit geführt. Im November 2017 benannte Präsident Emmanuel Macron bei seinem Besuch in Ouagadougou, der Hauptstadt von Burkina Faso, explizit die „Verbrechen der europäischen Kolonialisierung“ und kündigte an, „innerhalb der nächsten fünf Jahre die Voraussetzungen für zeitweilige oder endgültige Restitutionen des afrikanischen Erbes an Afrika“ zu schaffen. Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, die von Macron beauftragt wurden, Empfehlungen zur Umsetzung dieser Ankündigungen zu erarbeiten, legten im November 2018 ihren Bericht vor,[1] in dem sie sich unter anderem für umfassende, dauerhafte Restitutionen geraubten Kulturguts aussprechen und die dafür in Frankreich erforderlichen legislativen Schritte skizzieren. Macrons Rede in Ouagadougou und der Sarr/Savoy-Bericht brachten die Frage der Aufarbeitung des Kolonialismus auch in die Schlagzeilen der deutschen Medien. Bisher spielte die koloniale Vergangenheit Deutschlands im sogenannten kollektiven Bewusstsein unserer Gesellschaft kaum eine Rolle. Eine ernsthafte und breite Aufarbeitung hat es hierzulande nie gegeben. Dass in den vergangenen Jahrzehnten die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Holocaust und seit den 1990er Jahren auch mit der SED-Diktatur vordringlich erschienen, ist für die „koloniale Amnesie“ (Jürgen Zimmerer) dieses Landes hinsichtlich seiner kolonialen Vergangenheit noch keine hinreichende Erklärung. – Und darf erst recht keine Rechtfertigung für sie sein.
Immerhin gilt der Vernichtungskrieg der Deutschen gegen die Herero und Nama mit zehntausenden Toten als erster Völkermord des 20. Jahrhunderts. Dennoch spielt er in der deutschen Erinnerungskultur kaum eine Rolle. Noch weniger bekannt ist die Niederschlagung des Maji-Maji-Aufstands gegen die deutsche Kolonialherrschaft in Deutsch-Ostafrika, der bis zu 300 000 Menschen das Leben kostete. Zugleich wird die deutsche Kolonialepoche häufig auf eine kurze Zeitspanne von der Berliner Konferenz 1884/1885 bis zum Verlust der Kolonien infolge des Ersten Weltkriegs reduziert. Eine, wie es scheint, kurze Zeit im Vergleich zu anderen Kolonialmächten Europas. Aber die deutsche Kolonialgeschichte reicht weiter zurück. Schon im Jahr 1682 wurde die „Brandenburgisch Africanische Compagnie“ gegründet. Damit beteiligten sich Deutsche am kolonialen Handel. Ab 1685 war man auch im Sklavenhandel aktiv. Bis 1714 wurden fast 20 000 Kinder, Frauen und Männer als Sklaven verkauft. All das blendet – ob bewusst oder unbewusst – aus, wie stark der europäische Kolonialismus das „Mindset“, die mentalen Strukturen, europäischer Gesellschaften, die deutsche eingeschlossen, geprägt hat. „Kolonialismus“, so Tahir Della von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, „wird oft als abgeschlossenes Kapitel bezeichnet, aber die Machtverhältnisse tragen sich bis heute fort“.[2] Rassismus und Kulturalismus, der sich an Ungleichwertigkeit orientiert, sind bis heute einflussreiche gesellschaftliche Bewusstseinsformen. Bewusstseinsformen, die mit dem kolonialen System in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen.
Die Ökonomisierung der Peripherie
Die Geschichte des Kolonialismus ist eine von ungleicher Macht und Repression, eine Geschichte von Abhängigkeit, Unterdrückung und Ausbeutung, aber auch von Widerstand und Aufbegehren. Sowohl in den Gesellschaften der Kolonisatoren als auch der Kolonisierten hinterlässt sie nachhaltige Spuren und im Verhältnis beider zueinander bis heute fortwirkendes Unrecht: Die ökonomischen Beziehungen haben häufig die Entkolonialisierung überdauert und sind bis heute von charakteristischen Austauschrelationen bestimmt. Während die kolonisierten Gebiete Rohstoffe produzierten, bildeten sie zugleich Absatzmärkte für hochwertige Produkte der „Mutterländer“. Die koloniale Eroberung der Welt führte dazu, dass kaum ein Winkel von der kapitalistischen Entwicklung unberührt blieb, auch wenn sie zugleich die Teilung von Zentrum und Peripherie beschleunigte. Im Ergebnis machte erst die Kolonialisierung aus der kapitalistischen Produktionsweise ein ökonomisches Weltsystem.
Historisch stellt sich der Kolonialismus aber auch als einer der Auslöser der kapitalistischen Entwicklung in Europa dar. Hier ist an die „Entdeckung“ Amerikas zu denken und die anschließende Ausbeutung seiner Edelmetallvorkommen. Diese beendete die Edelmetallknappheit in Europa und ermöglichte die Entstehung einer kapitalistischen Ökonomie. Schließlich ließen Sklaverei und Sklavenhandel die Ausbeutung menschlicher Arbeit auch dort zu, wo es den – nach Karl Marx – doppelt freien Lohnarbeiter nicht oder nicht ausreichend gab, etwa auf den Plantagen Amerikas.
Auch auf die Kultur hat der Kolonialismus massive Auswirkungen. Mit Blick auf die massenhaft nach Europa verbrachten Kunstschätze hält die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy fest, dass „mit dem Ausbau des Eisenbahnnetzes und der Dampfschifffahrt, der Beschleunigung des Warenaustausches und der Konkurrenz der Kolonialmächte das Kulturerbe der Menschheit zu einem Politikum im Ringen um nationale Behauptung innerhalb Europas“ wird. Der eindeutige „Zusammenhang zwischen Akkumulation von Objekten, Wissensproduktion und Weltherrschaftsfantasien“ befördert im 19. Jahrhundert die Entfaltung der Trias „Museum, Nation, Kulturerbe“.[3] Die Sammelwut der europäischen Kolonialmächte, die in scharfer Konkurrenz zueinander stehen, führte zu zahllosen Raubzügen in Form sogenannter Strafexpeditionen, zu Diebstahl, Grabschändungen und dubiosen Formen des Erwerbs jener Objekte, die heute im Fokus der lauter werdenden Kritik an den ethnologischen (ehemals „völkerkundlichen“) Museen stehen. Die Kritik an dieser speziellen Form der kolonialen Ausbeutung ist zum größten Teil berechtigt. Allerdings darf die Aufarbeitung des Kolonialismus nicht auf die Frage nach der Rückgabe von Kulturgütern verengt werden. Richtig geführt kann die Debatte um den Umgang mit den Sammlungsobjekten aus kolonialen Kontexten allerdings wertvolle Anstöße für die gesamte, dringend gebotene, dekoloniale Transformation unserer Gesellschaften hervorbringen.
Keine Aufarbeitung ohne Gerechtigkeit
Zu Beginn einer wirklichen, nicht nur im Bekenntnishaften verbleibenden, Aufarbeitung des Kolonialismus muss Europa sich ehrlich machen. Es geht dabei um das Eingeständnis von Schuld und die Übernahme von Verantwortung. In Deutschland beispielsweise gibt es bis heute keinen Entschluss des Bundestages, der eine Anerkennung der Massaker an den Herero und Nama als Völkermord und eine Bitte um Entschuldigung für das zugefügte Leid beinhaltet. Verantwortung zu übernehmen, das hieße dann konkret auch: Forderungen nach Wiedergutmachung nicht abzublocken, sondern diese Fragen – mit allen auch finanziellen Konsequenzen – selbst in Gespräche einzubringen, an denen nicht nur die namibische Regierung, sondern auch selbstgewählte Vertreter und Vertreterinnen der Nachfahren der vom Völkermord betroffenen Bevölkerungsgruppen beteiligt sein sollten.
Gewiss, Geschichte lässt sich nicht ungeschehen machen. Mit Entschädigungsleistungen für erlittenes Unrecht könnte Europa aber versuchen, die Bedingungen zu verbessern, unter denen die Nachfahren der Opfer der Kolonialverbrechen noch heute leiden. So spiegelt sich der Landraub in den ehemaligen Kolonien noch immer in einer extrem ungleichen Verteilung des Grundbesitzes wider. Erhebliche Teile des Landes, dessen ursprüngliche Bewohner vertrieben wurden, befinden sich nach wie vor im Besitz der Nachfahren weißer Kolonisten. Eine ernsthafte Beseitigung fortwirkender Folgen des Kolonialismus ist ohne eine Lösung der Bodenfrage überhaupt nicht denkbar. Vorgeschlagen wurden in diesem Zusammenhang beispielsweise Ankaufsfonds, um den Nachkommen der Enteigneten den An- bzw. Rückkauf von Land zu ermöglichen.
Unheilvolle Asymmetrien prägen auch die internationalen Beziehungen Europas insbesondere zu Afrika, indem sie bis heute die ehemaligen Kolonialmächte bevorzugen. Ein wirkliches Ende (neo-)kolonialer Abhängigkeiten verlangt daher das Eintreten für eine wirklich gerechte Weltordnung, mit allen Eingriffen in die kapitalistische Eigentumsordnung, die das erfordert.
Bisherige Vereinbarungen wie etwa das 2020 auslaufende Cotonou-Abkommen sind alles andere als geeignet, an der Ungleichheit in den Handelsbeziehungen zwischen der EU und afrikanischen Ländern grundsätzlich etwas zu ändern, sondern dienen im Wesentlichen der Absicherung eines altbekannten Musters: günstige Rohstoffimporte für Europa und Absatzmärkte für die hoch subventionierte europäische Landwirtschaft. Beides geht zu Lasten afrikanischer Produzenten. Doch angesichts ihrer ökonomischen Übermacht kann die EU die Bedingungen bei diesen angeblichen „Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“ weitgehend diktieren. Angesichts dessen stellt sich für die afrikanischen Staaten in der Tat die Frage, ob das umfassende Freihandelsabkommen mit dem afrikanischen Kontinent, das EU-Kommissionspräsident Juncker im September 2018 vorschlug, um mehr private Investitionen nach Afrika zu bringen, nun als Versprechen oder doch eher als Drohung aufzufassen ist. Neben den Freihandelsabkommen trägt maßgeblich auch die Ausgestaltung der existierenden Doppelbesteuerungsabkommen dazu bei, die asymmetrischen Beziehungen zwischen Europa und Afrika zu zementieren oder die Ungleichheiten noch zu verschärfen, indem sie relevante Teile der Steuerbasis sogenannter Entwicklungsländer nach Europa lenken.[4]
Wer von einer Aufarbeitung des Kolonialismus spricht, darf über diese Realitäten nicht hinwegsehen. Das wäre zudem ein wesentlicher Ansatzpunkt für die in Deutschland parteiübergreifend geforderte Bekämpfung der Fluchtursachen – falls diese tatsächlich ernst gemeint ist und nicht nur als rhetorischer Kniff herhalten soll, um die nach Europa drängenden Hilfesuchenden abzuweisen.
In einer globalisierten Welt, in der Europa von seiner kolonialen Geschichte eingeholt wird, geht es heute um nicht weniger als um die Gestaltung einer gerechten und ökologisch nachhaltigen Weltordnung. Die ökonomische Dimension ist dabei zweifellos eine zentrale. Gerade in einem Land wie Deutschland, das die Realität der Migration lange Zeit verleugnet hat und noch immer keinen souveränen Umgang mit dem zunehmenden Aufbrechen (vermeintlicher) ethnischer Homogenität gefunden hat, muss es aber auch um den Kampf gegen einen teils offenen und absichtsvollen, teils strukturellen Rassismus gehen, der bis heute tief von kolonialen und imperialen Denkmustern geprägt ist. Dieser Rassismus äußert sich alltäglich in Ressentiments und Gewalttaten, aber auch in seiner institutionellen Form, nämlich der drastischen Unterrepräsentanz nichtweißer Personen in gesellschaftlichen Entscheidungspositionen oder auch in einer Visapolitik, die Bürger westlicher Staaten deutlich privilegiert.
Ein Anfang: Decolonize the collections!
Damit wird deutlich: Die dekoloniale Transformation unserer Gesellschaften (sowohl der früheren Kolonialmächte als auch der ehemals Kolonisierten) ist ein drängendes Unterfangen – und eines von gewaltigem Ausmaß. Diese Transformation erfordert umfangreiche Maßnahmen auf allen institutionellen Ebenen und in praktisch allen gesellschaftlichen Feldern. Dies muss uns deutlich vor Augen bleiben, wenn wir in der Kultursphäre (im engeren Wortsinne) über die Dekolonisierung von Sammlungen und Fragen der Präsentation und Restitution sprechen. Andernfalls laufen wir Gefahr, die Kultur auf die Rolle eines Feigenblatts zu reduzieren und progressive Diskurse in einer vergleichsweise abgeschirmten Sphäre zu führen, während zentrale Mechanismen der Reproduktion (neo-)kolonialer Machtverhältnisse weitgehend unangetastet bleiben. Vor diesem Hintergrund ist es dennoch unerlässlich, die kulturelle Dimension der kolonialen Enteignung und Ausbeutung kritisch zu beleuchten und aufzuarbeiten. Deshalb stellt sich die Praxis des kolonialen Kunst- und Kulturraubs als ein Problem dar, das im Sinne einer gerechten Ordnung gelöst werden muss. Und vielleicht bietet sich uns heute tatsächlich die Gelegenheit, in diesem Bereich Debatten anzustoßen und faire und gerechte Lösungen für Probleme zu entwickeln, die der europäische Kolonialismus hervorgebracht hat. Lösungen nämlich, die über den institutionellen Kulturbetrieb hinaus Wirkung entfalten.
Welche Schritte erforderlich sind, damit wir solchen Lösungen näherkommen, kann anhand der Debatten um den Umgang mit den aus kolonialen Kontexten stammenden Sammlungsbeständen europäischer Museen verdeutlicht werden.
Wahrheit statt Ausflüchte
Am Beginn einer jeden glaubhaften Aufarbeitung muss auch bei den musealen Sammlungen ein Bekenntnis der europäischen Institutionen zur eigenen Verantwortung stehen. Ohne die Anerkennung der Rolle, welche die Kolonialmächte bei der kulturellen Enteignung des afrikanischen Kontinents, aber auch der asiatischen, karibischen und pazifischen Kolonien, gespielt haben, und des Unrechts, das damit einherging, lassen sich keine partnerschaftlichen Zukunftsperspektiven eröffnen. Hierbei geht es, wie Achille Mbembe formuliert, zunächst „um Wahrheit. Die Wahrheit ist, dass Europa uns Dinge genommen hat, die es uns nie zurückgeben kann“.[5]
So unerlässlich es auch sein wird, die Herkunft der einzelnen Sammlungsobjekte so genau wie möglich zu erforschen, wissen wir doch bereits heute (und eigentlich seit mindestens 100 Jahren), dass die Aneignung der gesammelten Gegenstände unter Bedingungen extremer Ungleichheit, also innerhalb von Unterdrückungsverhältnissen, zustande gekommen ist. Vor diesem Hintergrund darauf zu pochen, dass zuallererst genauestens geprüft werden müsse, welche Objekte tatsächlich in einem „Unrechtskontext“ nach Europa kamen und welcher Erwerb völlig rechtmäßig geschehen sei, muss den Nachfahren der Enteigneten als juristische Ausflucht, wenn nicht als Verhöhnung, erscheinen. Auch der Kauf eines Objekts zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten war ein Vorgang, der in einem großen Machtgefälle stattfand. Vielfach wurden rituelle oder Gebrauchsgegenstände, oft genug sogar menschliche Überreste aus Gräbern, einfach nur geraubt. Einzugestehen, dass ganz erhebliche Teile der ethnologischen Sammlungen in westlichen Museen unter moralisch völlig inakzeptablen Bedingungen zustande kamen, wäre nur ein allererster Schritt. Aber als solcher ist er unerlässlich.
Mit Blick auf die Objektbiographien ist es zweitens richtig, dass die Provenienzforschung, also die Erforschung der Herkunft der Sammlungsobjekte, an unseren Museen ganz erheblich gestärkt werden muss. Die Kulturpolitik in Bund und Ländern ist in der Pflicht, die Museen bei dieser Mammutaufgabe zu unterstützen. Denn die Anzahl der Objekte, die in den Depots der Museen lagern, ist so gigantisch, dass die Erforschung ihrer Provenienz eine Aufgabe für viele Jahrzehnte sein wird. Zudem betrifft die Erforschung der Sammlungsbestände nicht nur ethnologische und naturkundliche Museen: Auch in alltags- und kulturhistorischen Sammlungen dürften sich zahllose koloniale Bezüge finden, die der Aufarbeitung des Kolonialismus wertvolle Impulse geben können. Der Umgang damit wird mit Sicherheit als ein wesentliches Anzeichen dafür betrachtet werden, wie ernst es Deutschland mit der Aufarbeitung seiner Kolonialgeschichte meint.
Umso vordringlicher ist es jetzt, dieses Unterfangen nicht durch eine völlig ungenügende personelle und finanzielle Ausstattung weiter zu verzögern. Ein erster Schritt wäre die Herstellung umfassender Transparenz über sämtliche Sammlungsbestände durch deren digitale Aufbereitung. Entscheidend ist zudem die konkrete Ausgestaltung von Forschungsprojekten: Findet der Austausch mit Wissenschaftlern aus den Herkunftsgebieten – im Sinne von Multiperspektivität – tatsächlich statt? Wer sucht die Beteiligten aus und bestimmt den Rahmen der Kooperation? Werden, ganz konkret, die erforderlichen Visa erteilt? Wie werden Provenienzforschungsprojekte finanziert, die eine nachhaltige Kooperation mit Wissenschaft vor Ort und eine Aufarbeitung der kolonialen Kontexte und Wege der Sammlungsobjekte unter Einbeziehung der betroffenen Gruppen ermöglichen? Bei alledem gilt es, geeignete Kooperationsformen zu entwickeln, immer mit dem Ziel vor Augen, die nach wie vor vorhandene Dominanz der einstigen Kolonialmächte beim Umgang mit der Kultur der Kolonisierten zu brechen.
Wissen wollen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft
Es müssen, drittens, die Erkenntnisse der Provenienzforschung auch in die Ausstellungskonzeptionierung einbezogen und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. „Ich will wissen, wie viel Blut von einem Kunstwerk tropft“, forderte Bénédicte Savoy zu Recht von der Präsentation der ethnologischen Sammlungen im neuen Humboldt Forum. Nur Transparenz über die – bekannten oder unbekannten – Umstände des Erwerbs der Sammlungsbestände kann eine ehrliche Debatte über den heute angemessenen Umgang mit ihnen ermöglichen. Anders als ein vorgebrachter Einwand häufig unterstellt, geht es dabei „nicht darum, die ästhetische, kulturelle, religiöse Dimension von Objekten durch ein ausschließliches Interesse für ihr ‚Zu-uns-gekommen-Sein‘ zu ersetzen. Es geht um zusätzliche Aufklärung, um kollektive Verortung und um Erkenntnis.“[6]
Dabei sind die enormen Potentiale der Digitalisierung für den gesamten Kulturbereich offenkundig. Durch eine umfassende digitale, allgemein zugängliche Bestandsaufnahme aller Sammlungsteile würde das Insiderwissen einiger Weniger in öffentliches Wissen Vieler transformiert. Wissenschaftler und interessierte Bürger, besonders aus den ehemaligen Kolonien, könnten sich vergleichsweise einfach über die an einem bestimmten Ort befindlichen Objekte online informieren und sicherlich wertvolle Hinweise beisteuern.
Viertens stellt sich natürlich auch die Frage der Rückgabe von Sammlungsobjekten – und zwar mit besonderer Vehemenz immer dann, wenn aus den Herkunftsländern Restitutionsforderungen erhoben werden, etwa bei den Ende des 19. Jahrhunderts geraubten Benin-Bronzen. So offenkundig das Unrecht in vielen Fällen ist, so wenig eindeutig und verallgemeinerbar ist jedoch der richtige Weg, wenn mehrere Gruppierungen, Familien oder staatliche Ebenen Anspruch auf ein Objekt erheben.
So muss bei Verhandlungen mit Herkunftsstaaten reflektiert werden, dass auch sie und ihre Grenzen durch koloniale Vorgeschichte bestimmt sind und in den politischen Verhältnissen der einstigen Kolonialstaaten die kolonialen Verhältnisse nachwirken. Die Frage „Wer spricht legitimerweise für wen?“, ist daher auch hier nicht immer einfach zu beantworten. Dass nicht immer ein einziger richtiger Weg auf der Hand liegt, darf aber nicht länger ein Vorwand sein, das Problem in Gänze zu leugnen.
Zudem müssen zwei häufig (und teilweise bewusst) vorgebrachte Missverständnisse ausgeräumt werden. Zum einen behauptet kaum jemand, dass sämtliche Sammlungsobjekte in ihre Herkunftsländer zurückkehren sollten. Es kann nicht darum gehen, sich nun in einer Hauruck-Aktion aller Gegenstände aus den ehemaligen Kolonien zu entledigen und sich somit – getreu dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“ – mit der geteilten Geschichte nicht weiter beschäftigen zu müssen. Wenn Achille Mbembe fragt: „Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der jeder und alles wieder nach Hause zurück muss?“,[7] macht er deutlich, dass es bei Restitutionen gerade nicht um die Entsorgung von etwas unangenehm Gewordenem gehen darf.
Zum anderen gilt es der häufig geäußerten Ansicht zu widersprechen, dass sich die Frage nach Restitution überhaupt nur bei lückenlos aufgeklärter Provenienz stellt. Es gibt Fälle, die eindeutig genug sind, auch wenn sich möglicherweise niemals alle Details der Objektbiographie aufklären lassen. Bénédicte Savoy hat prägnant angemerkt: „Man muss nicht in alle Details eines Plünderungskriegs eintauchen, um zu einem Ergebnis zu gelangen. Man muss nicht wissen, ob das Objekt in einem bestimmten Koffer eines bestimmten Soldaten nach Europa kam. [...] Vieles stammt nachweislich aus Strafexpeditionen, da liegt ganz klar ein Unrechtskontext vor.“[8] Sarr und Savoy gehen sogar noch weiter und schlagen für Objekte, die in kolonialen Kontexten in den Besitz europäischer Museen kamen, eine Art Beweislastumkehr vor: Im Fall von Restitutionsbegehren müssten die Museen dann den legitimen Erwerb belegen.
Legitime Rückgabeforderungen dürfen zudem nicht unter Berufung auf die formale Legalität des damals geltenden europäischen Rechts abgewiesen werden. Die Frage, ob ein Objekt „unrechtmäßig“ nach Europa gelangt ist, lässt sich nicht auf juristische Aspekte beschränken. Denn welches Recht sollte für eine solche Beurteilung maßgeblich sein? Etwa jenes, das die europäischen Kolonisatoren den lokalen Bevölkerungen oktroyiert haben? Auch das in diesen Debatten häufig herangezogene Völkerrecht eurozentrischer Prägung formuliert nicht zeitlose Wahrheiten, sondern diente, so Wolfgang Kaleck und Karina Theurer jüngst in dieser Zeitschrift, „nicht nur während der Kolonialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts den wirtschaftlichen und geopolitischen Interessen der europäischen Unternehmen und Kolonialstaaten, sondern es dient auch heute noch dazu, diese Verbrechen in rechtlicher Hinsicht zu verschleiern“.[9] Es stellt sich somit in aller Schärfe die Frage, ob es unter kolonialen Bedingungen überhaupt Formen des Erwerbs gibt, die Gültigkeit beanspruchen können. Fest steht: Nach Jahrzehnten des Schweigens über die Opfer des Kolonialismus und des Abweisens von Rückgabeforderungen dürfen wir uns heute nicht hinter rechtlichen Schwierigkeiten verschanzen, sondern müssen uns endlich um faire und gerechte Lösungen für die rechtmäßigen Eigentümer und deren Nachfahren bemühen. Der Bundestag bleibt daher aufgefordert, dafür endlich einen gesetzlichen Rahmen auf den Weg zu bringen.
Der Katalysator für dekoloniale Transformation
Mittelfristig wird dieser Prozess, so er denn gelingt, dazu führen, dass ein Teil der Objekte aus europäischen Museen und Depots nach Afrika, Asien, Amerika oder Ozeanien zurückkehrt. Von einigen Gegenständen wird dann vielleicht noch eine Kopie in Berlin stehen, das Original dagegen in Windhoek. Vielleicht noch wichtiger als die Frage, welches Objekt wohin gehört, ist aber die Chance, die die Debatte um Sammlungsbestände als solche bietet. Sie kann und muss uns die Notwendigkeit aufzeigen, Visionen für den Umgang mit dem kulturellen Erbe der Menschheit zu entwickeln.
Die wechselvolle Geschichte der Objekte aus kolonialen Kontexten führt uns besonders deutlich vor Augen, dass die Vorstellung eines „nationalen Kulturbesitz“ im 21. Jahrhundert zunehmend absurd ist. Hier gilt es, neue Eigentumsmodelle, neue Formen gemeinschaftlicher Güter, neue Ausstellungsformen und neuartige – digitale und materielle – Museen zu denken. Diese können die Einsicht entscheidend befördern, dass unser kulturelles Erbe ganz wesentlich shared heritage, also geteiltes Erbe der Menschheit ist.
Hierbei dürfen, um an dieser Stelle keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, natürlich auf keinen Fall erneut ungleiche Maßstäbe angelegt werden, die, salopp gesagt, darauf hinauslaufen, dass die aus Afrika geraubten Kulturgüter jetzt allen gehören, die europäischen Kulturgüter aber weiterhin nur den Europäern. Nein, perspektivisch muss es um einen echten und fairen globalen Gemeinbesitz von Kulturgütern gehen – wie auch um die Rekonstruktion der gemeinsamen Geschichte, die oft eine zutiefst gewaltsame, ausbeuterische und menschenfeindliche Praxis war.
Vielleicht ist die Augenhöhe, die hierfür erforderlich ist, auf dem Gebiet der Kultur am leichtesten zu organisieren. Dann könnte die Kultur tatsächlich der entscheidende Katalysator für den notwendigen Bewusstseinswandel sein, um die dekoloniale Transformation auch in Politik und Ökonomie voranzutreiben – und damit „die neue Weltregion entstehen zu lassen, zu der wir alle bedingungslos Zutritt haben“.[10]
[1] Vgl. Felwine Sarr und Bénédicte Savoy, The Restitution of African Cultural Heritage. Toward a New Relational Ethics, www.restitutionreport2018.com, November 2018.
[2] Vgl. Jonas Wahmkow, Warum nicht Anton-W.-Amo-Straße?, in: „die tageszeitung“, 17.8.2018.
[3] Vgl. Bénédicte Savoy, Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 33, 23, 30.
[4] So Martin Hearson von der London School of Economics, vgl. Martin Hearson, The European Union’s tax treaties with developing countries: Leading by example? Report for the European United Left/Nordic Green Left (GUE/NGL) in the European Parliament, www.guengl.eu, September 2018.
[5] Vgl. Achille Mbembe, Restitution ist nicht genug, in „Frankfurter Allgemeine Zeitung“, 9.10.2018.
[6] Vgl. Bénédicte Savoy, Die Provenienz der Kultur, Berlin 2018, S. 56 f.
[7] Vgl. Nicola Kuhn, Teilen und Reisen, in: „Tagesspiegel“, 26.7.2018.
[8] Vgl. „Das Goldene, das Dunkle“. Interview mit Bénédicte Savoy, in: „Der Spiegel“, 29/2018.
[9] Vgl. Karina Theurer und Wolfgang Kaleck , Das Recht der Mächtigen, in: „Blätter“, 8/2018, S. 105-110.
[10] Vgl. Mbembe, a.a.O..