Die documenta und der Mythos von der kulturellen Stunde Null

Bild: imago images / Christian Schauderna
Versöhnung mit der Moderne, Ehrenrettung der „Entarteten Kunst“, Wiedereintritt Deutschlands in die Rolle der europäischen Kulturnationen. So lauten die Formeln, wenn die Rede auf die documenta kommt. Die 1955 gegründete „Weltkunstschau“, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, gilt wie kaum ein anderes Ereignis als Ausweis der Läuterung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und als Symbol des kulturellen Neuanfangs. Der Kunsthistoriker Arnold Bode, Begründer der Ausstellung, wollte den Besuchern vor allem die Arbeiten derjenigen Künstler nahebringen, die während der NS-Zeit unter der Bezeichnung „Entartete Kunst“ verfemt wurden. Daher stand die Abstrakte Kunst, insbesondere die Abstrakte Malerei der 1920er und 1930er Jahre im Mittelpunkt der ersten Ausstellung in der Ruine des zerstörten Kasseler Museums Fridericianum, Europas erstem öffentlichem Museum. Seitdem hat sich die documenta zur wichtigsten Kunstausstellung der Welt entwickelt. An dieser inzwischen zu mythischer Größe aufgerückten Institution lassen sich wie in einem Zerrspiegel die ideologischen Konjunkturen bundesdeutscher Nachkriegsgeschichte zwischen Verdrängung, Aufklärung und Kritik nachvollziehen.
Lange nahm die documenta eine Sonderstellung ein. Im Gegensatz zu den Geheimdiensten, dem Militär, der Justiz oder der hohen Regierungsbürokratie galt sie als eine der wenigen identifikationsfähigen (Kultur-)Institutionen in Deutschland.