Von der falschen Konstruktion einer Kontinuitätsgeschichte
Vor genau 1700 Jahren erließ Kaiser Konstantin eine Verordnung, die die Existenz jüdischen Lebens in Deutschland belegt. Das Edikt aus dem Jahr 321 n.Z. behandelt die Mitgliedschaft von Juden in der „curia“, dem Rat der Stadt Köln, und ist damit der erste historische Nachweis jüdischen Lebens nördlich der Alpen. Aus diesem Anlass wird derzeit bundesweit unter dem Titel „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ ein Festjahr mit zahlreichen Veranstaltungen begangen. Die feierlichen Erklärungen betonen dabei unisono die „selbstverständliche“ Zugehörigkeit der Jüdinnen und Juden zu Deutschland (Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker), das bereichernde jüdische „Leben und Wirken in unserem Land“ (Bundeskanzlerin Angela Merkel) oder die „jüdischen Wurzeln“, die unser „gesellschaftliches Zusammenleben“ prägen (Bundesaußenminister Heiko Maas).
All die festlichen Worte können allerdings kaum darüber hinwegtäuschen, dass es sich bei dem runden Jahrestag um eine verwegene Genealogie handelt. Denn nach dem Jahr 321 – darauf wies bereits der russisch-jüdische Historiker Simon Dubnow vor knapp 90 Jahren hin – fehlen jedwede Belege für jüdisches Leben für die folgenden 700 Jahre in Köln und andernorts im naturalwirtschaftlichen Germanien.[1] Erst für das Jahr 1026 ist der Bau einer Synagoge in Köln dokumentiert.
Darüber hinaus suggeriert der Bezug auf „1700 Jahre jüdisches Leben“ eine stete Kontinuität des Zusammenlebens, die es so nicht gibt. So kam es gerade einmal siebzig Jahre nach dem Bau der Kölner Synagoge anlässlich des ersten Kreuzzugs zu Zwangstaufen und Massakern an Kölner Jüdinnen und Juden.
Wie anders das jüdisch-deutsche Leben hierzulande einmal aussah, zeigt ein Blick zurück – um genau einhundert Jahre. Während heute anlässlich des Festjahres von nichtjüdischer Seite die Verwurzelung der Juden in Deutschland betont wird, war es im Jahr 1921 – angesichts des rapide anwachsenden Antisemitismus hierzulande – ironischerweise die jüdische Seite, die die Zusammengehörigkeit beschwor: „Kein Land“, hieß es damals in der „Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, sei „den Juden so sehr Heimat geworden wie Deutschland […]. Während sie in Palästina insgesamt 1400 Jahre gelebt haben, wohnen sie hier bereits 400 (sic!) Jahre länger.“[2] In derselben Ausgabe wird eine einstimmig angenommene „Entschliessung“ des Centralvereins vom November 1921 veröffentlicht. Sie beginnt mit den Worten: „Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens schart seit seiner Gründung die deutschen Juden um das Banner des Deutschtums.“ Im Jahr darauf folgt auch die neue, wöchentlich erscheinende „CentralVereins-Zeitung“ diesem Duktus: In ihr ist von „unseren nichtjüdischen Volksgenossen“ die Rede, von den Mitbürgern „aller Bekenntnisse“ und davon, dass es „in uns keine Faser und keinen Blutstropfen gibt, der nicht gleichzeitig jüdisch und deutsch ist“.[3]
Die Betonung der deutschen Identität seitens der dominanten jüdischen Strömung erfolgte vor dem Hintergrund eines rapide anwachsenden Antisemitismus nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. Ohne diesen verbreiteten Hass in den fünfzehn Jahren vor 1933 ist die Shoah selbst kaum zu erklären, was auch das Klischee von einem plötzlichen „Zivilisationsbruch“ fragwürdig macht. Innerhalb der deutschen Gesellschaft führte die Shoah aber in der Tat zu einem unvermittelten tiefgreifenden Bruch – und zwar im Verhältnis von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen. Beide Gruppen hatten bis dahin über Jahrhunderte hinweg zwar distanziert und – was die Juden angeht – rechtlich diskriminiert, insgesamt aber über weite Strecken gedeihlich zusammengelebt. Zwar haben Historikerinnen und Historiker in der Vergangenheit die Geschichte zahlreicher Pogrome und Massaker an ganzen jüdischen Gemeinden zu Tage gefördert und erforscht. Allerdings gelangten sie in den vergangenen Jahren immer mehr zu der Einsicht, dass Jüdinnen und Juden hierzulande als Minorität zumeist ein selbstbewusstes Leben führen konnten. Sie waren, so zeigen Forschungen, zu einem nicht geringen Anteil selbstverständlich in das öffentliche und kulturelle Leben eingebunden. Das ist auch der Grund, warum sich Juden und Deutsche wechselseitig kulturelle Praktiken entliehen. Wie sonst erklären wir uns etwa die Tatsache, dass die zu Pessach gelesene Haggadah in Teilen mit dem deutschen Liedgut weitgehend identisch ist? In freundlicher Nachbarschaftlichkeit wurden zu Pessach und Ostern wechselseitig erst Mazzot und Gebackenes, dann Ostereier geschenkt. Vor allem aber schloss die eigene Lebenswelt und Gemeinschaft, wie später die Nation, die jüdische Gemeinschaft mit ein.
Die Politik der Nationalsozialisten sorgte für einen Bruch, der diese über Jahrhunderte gewachsenen jüdisch-deutschen Beziehungen zunichte machte – es war ein Bruch, der persönliche Beziehungen und Freundschaften zerriss und quer durch alle Schichten der Gesellschaft ging.
Die Volkszählung im Juni 1933 – die statistische Grundlage für den Holocaust – ergab, dass damals knapp 500 000 Jüdinnen und Juden auf dem Territorium des Deutschen Reichs lebten; der jüdische Anteil an der Bevölkerung betrug demnach 0,77 Prozent.[4] Wie eng das Leben von jüdischen und nichtjüdischen Deutschen damals miteinander verbunden war, drückte sich vor allem dadurch aus, dass Menschen jüdischen Glaubens sowohl in der Wirtschaft als auch in Institutionen gut integriert waren – besonders hoch war ihr Anteil in freien akademischen Berufen wie Anwälten und Notaren sowie Ärzten; er betrug hier 16 respektive 10 Prozent. Auch rund ein Zehntel aller Handelsreisenden sowie viele Verkäuferinnen und Verkäufer waren jüdischen Glaubens. Daneben spielten Juden innerhalb bestimmter Berufsorganisationen und Klubs, dem Kulturbetrieb und politischen Parteien eine wichtige Rolle. Nicht zuletzt aufgrund ihrer großen ökonomischen Bedeutung führten die Nazis nach den ersten diskriminierenden Gesetzen im Jahre 1933 zunächst Ausnahmeregelungen für Juden in verschiedenen Positionen ein.
Diese vielfältigen Verbindungen und Verknüpfungen jüdischen und nichtjüdischen Lebens in Deutschland führten auch zu einer wachsenden Zahl verwandtschaftlicher Beziehungen. Schätzungen zufolge gab es um das Jahr 1933 mehr als 60 000 „Mischehen“, rund 250 000 Personen galten als „Mischlinge“ nach der Definition der Nürnberger Gesetze, hatten also ein oder zwei jüdische Großeltern. Infolgedessen pflegten zahlreiche Juden intensive Beziehungen zu nichtjüdischen Verwandten und umgekehrt – auch wenn diese Bindungen klassenspezifisch geprägt waren: Verwandtschaftliche Kontakte gab es insbesondere unter Arbeitern und Angestellten sowie in der Mittelschicht; im Adel und höheren Bürgertum waren sie indes weniger ausgeprägt.[5] Kurzum, auf institutioneller wie verwandtschaftlicher Ebene waren jüdische und nichtjüdische Deutsche durch reale materielle Interessen eng miteinander verbunden.
Es ist also gar nicht so lange her, dass der jüdische Raum – anders als heute – in der deutschen Gesellschaft über ein breites nicht-jüdisches Umfeld verfügte und fest mit diesem verbunden war. Wie aber konnten die Nazis angesichts dessen Anfang der 1940er Jahre deutsche Juden en masse deportieren und ermorden – ohne dass es zu kollektivem Widerstand kam?
Um diese Frage zu beantworten, wird wahlweise auf den Charakter des faschistischen Staatsapparates verwiesen, auf die sympathisierenden Kirchen, die „autoritäre Persönlichkeitsstruktur“ der Deutschen, auf die politische Schwäche jüdischer Verbände und Ähnliches mehr. All diese Erklärungen verfügen über eine gewisse Gültigkeit, sie reichen allein aber nicht aus.
Denn eine mindestens ebenso wichtige Erklärung bietet die Strategie der sozialen Trennung der Juden von den nichtjüdischen Deutschen, die die Nazis bereits kurz nach ihrer Machtübernahme 1933 umsetzten. Ohne diese soziale Segregation ist die Vernichtung des deutschen Judentums kaum denkbar.
Mit Hilfe administrativer Maßnahmen und der Gestapo verfolgten die Nationalsozialisten das Ziel, einen radikalen Bruch zwischen „rassisch reinen“ Deutschen und Juden herbeizuführen – ein Bruch, der insbesondere im familiären Bereich die Verbindungslinien durchtrennte und jedwede Kommunikation, Hilfe und Solidarisierung gegenüber Juden unmöglich machen sollte.
Außerdem wurden Juden aus allen institutionellen Strukturen ausgeschlossen. Vor allem die eher liberale und linke jüdische Intelligenz verlor damit die Möglichkeit, sich öffentlich über die Medien zur Wehr zu setzen. Auf den Boykottaufruf gegen jüdische Geschäfte („Kauft nicht bei Juden!“) folgte die Trennung in einen deutschen und einen – fragmentierten – jüdischen Wirtschaftsbereich, sodann, und dies erwies sich als besonders einschneidend, der Bruch auf der Ebene verwandtschaftlicher Beziehungen: Das „Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ vom September 1935 definierte – zum Zweck der völligen Segregation – Juden und Deutsche nach „rassischen“ Kriterien und verbot Ehen zwischen beiden Gruppen.
Mit den Novemberpogromen im Jahr 1938 wurde die Entrechtung schließlich – und im Gegensatz zu den bis dahin in der breiten Bevölkerung weitgehend ignorierten Schikanen – durch brennende Synagogen und die Plünderungen jüdischer Privathaushalte unübersehbar in Szene gesetzt.[6] Diese Apartheidspolitik avant la lettre war in den Jahren 1939/40 so weit abgeschlossen, dass die großen Deportationen in die Konzentrationslager beginnen konnten.
Nationale Arisierung – gegen den »ewigen Juden«
Zuvor kamen die Nazis allerdings nicht umhin, auch die nationale Selbstdarstellung, die das Judentum bis dahin einbezog, auf ihre „arischen“ Wurzeln zu reduzieren. Denn ob man die Juden nun mochte oder nicht – sie waren vor allem im 19. und dem beginnenden 20. Jahrhundert ein fester Bestandteil der deutschen Nation geworden.
Die Strategie der nationalen Arisierung zeigt sich exemplarisch in Goebbels’ Propagandafilm „Der ewige Jude“, der auch als unmittelbarer propagandistischer Auftakt zu den Massenvernichtungen angesehen werden muss. Er stellt „die Juden“ nicht nur als Ausbeuter dar, ein wesentliches Element der nazistischen Propaganda, sondern auch als volksfremd: Juden seien demnach ein „Gastvolk“, eine andere Spezies, ja, sie ähnelten Ratten, wie eine Einblendung in Goebbels’ Film suggeriert.
Den Nazis gelang es auf diese Weise, die jüdischen Deutschen als eine eigene „Rasse“ und damit als einen von den „arischen“ Deutschen getrennten ethnischen Block darzustellen. Gleichzeitig aber führte die menschenfeindliche Propaganda – ob von den Nazis intendiert oder nicht – dazu, dass sich unter deutschen Juden ein bereits in der Weimarer Zeit ausgebildetes Identitätsverständnis etablierte. Denn infolge der antisemitischen Hetze und der zunehmenden Isolierung erfuhr das jüdische Leben innerhalb der jüdischen Gemeinschaft eine außerordentliche Aufwertung: Jüdinnen und Juden wandten sich gezwungenermaßen nach innen und besannen sich auf ihre eigenen Traditionen und Werte. Dieser Wandel zeichnet sich bereits 1933 ab, als der neugegründete Jüdische Kulturbund, jüdische Schulen, Jugendorganisationen, Lehrlingsausbildungsstätten und viele andere lokale wie nationale jüdische Institutionen eine zunehmend wichtige Rolle in der jüdischen Gemeinschaft einnahmen.[7] Vor allem aber bot der Zionismus, der bis dato nur vergleichsweise wenige Anhänger hatte, der jüdischen Jugend nun eine begeisternde Vision.
Nach 1945: Versuche, sich aus der Isolation zu befreien
Was aber blieb von dem sozialen Bruch zwischen Juden und Deutschen nach der Befreiung der Konzentrationslager und nach Kriegsende übrig?
Wenig überraschend wurden die sozialen Beziehungen zwischen den wenigen in Deutschland gebliebenen oder zurückkehrenden Juden und den „rassisch reinen“ Deutschen nach dem Ende der Naziherrschaft keineswegs auf den Stand von vor 1933 wiederhergestellt. Dafür ist auch die Tatsache verantwortlich, dass sich der Antisemitismus auch nach dem Krieg insbesondere in Westdeutschland als erstaunlich resistent erwies. Die Judenfeindschaft hatte sich zum einen im Geist der Goebbelschen Propaganda reproduziert, zum anderen wirkten auch die umfassende antisemitisch-nazistische Strukturierung der Kultur und der gewaltsam herbeigeführte Bruch in sozialen Beziehungen in Familie und Schule nach. In meiner eigenen Verwandtschaft brachen die Beziehungen zwischen den jüdischen und nichtjüdischen Verwandten ressentimentgeladen ab oder Bekanntschaften wurden schlichtweg „vergessen“. Das fiel mitunter nicht allzu schwer, da die überlebenden Jüdinnen und Juden nach dem Krieg zumeist nicht nach Deutschland zurückkehrten.[8] Die wesentlichste Kontinuität des Nazismus nach 1945 war freilich dessen Überleben in der Zivilgesellschaft, von den Sportverbänden und der Wirtschaft über den Richterstand und die Lehrerschaft bis hin zur Ärzteschaft und dem ADAC, der seine Mitglieder bis in die 1970er Jahre noch regional in „Gauen“ organisierte.
Dass heute, konservativ geschätzt, dennoch rund 200 000 Jüdinnen und Juden in Deutschland leben – etwas mehr als die Hälfte von ihnen sind registrierte Gemeindemitglieder –, verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass die Bundesrepublik bereits frühzeitig Menschen jüdischen Glaubens gegenüber anderen Einwanderergruppen privilegiert behandelte, obwohl auch sie in der Mehrzahl Migranten und nicht Rückkehrer waren.
Die ungleiche Behandlung jüdischer Migrantinnen und Migranten war jedoch keineswegs selbstlos, sondern nicht zuletzt der Versuch, dem Stigma und der Isolation zu entkommen, in der sich die Bundesrepublik in den frühen Nachkriegsjahren befand. Aber auch die provinzielle, spießige Atmosphäre der 1950er Jahre spielte eine Rolle, für die Hitlers exterminatorischer Plan, Deutschland „judenrein“ zu machen, mitverantwortlich war: Bereits vor der Shoah waren es nicht zuletzt Juden gewesen, die von Osteuropa aus nach Westeuropa, Nordamerika sowie in den Nahen Osten zogen und dabei enorme soziale, kulturelle und wirtschaftliche Ressourcen mitbrachten.
Konrad Adenauer zögerte zwar nicht, ausgerechnet Hans Globke, den Kommentator der Nürnberger Rassegesetze, zu seinem Berater und später auch zum Chef des Bundeskanzleramtes zu machen. Gleichzeitig aber führte seine Regierung – um sich aus der internationalen Isolation zu befreien – Reparationsverhandlungen mit Nahum Goldmann, dem Gründer und langjährigen Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (WJC). Darüber hinaus erkannte Adenauer, wie wichtig auch persönliche Beziehungen für die Bundesrepublik waren. Ehemals deutsche, mit der US-Armee zurückgekehrte Jüdinnen und Juden konnten durch ihre sprachlichen und juristischen Kenntnisse sowie ihre im Exil gewachsenen privaten und wirtschaftlichen Beziehungen als internationale Vermittler auftreten. Insbesondere in der Frühzeit der Bundesrepublik kam es daher regelmäßig vor, dass deutsche Politiker auf Staatsbesuchen in Israel oder den USA jüdische Repräsentanten mitnahmen. Den Politikern war dabei offenbar nicht klar, dass diese jüdischen Repräsentanten außerhalb der Bundesrepublik zumeist als Verräter am jüdischen Volk gesehen wurden und ihr Einsatz daher nicht selten eher kontraproduktiv war.
Religiöser Philosemitismus als Legitimationsprinzip
Den großen Bruch vermochte der vom rheinischen Katholizismus geprägte Bundeskanzler damit jedoch nicht zu kitten. Zumal die Bundesrepublik im Gegensatz zum „Antifaschismus“ und Sozialismus der DDR über keine alternative Ideologie und auch über keinen Mythos der Résistance wie Italien oder Frankreich verfügte, mit dem sie sich klar vom Nazismus hätte absetzen können. Auch aus diesem Grund wurde in der Nachkriegszeit ein christlich-abendländischer Diskurs zur staatstragenden Ideologie und Leitkultur. Er erlaubte es auch, den Antisemitismus als zentrales Herrschaftsinstrument der Nazis in einen religiös grundierten Philosemitismus als Legitimationsprinzip der neuen Republik quasi umzudrehen.
Dieser Diskurs legte die Grundlage dafür, dass neben der Erinnerung an Auschwitz vor allem die positiven Beziehungen der Bundesrepublik zu Juden und zum Staat Israel im Gedenken an die Shoah in den Vordergrund gerückt wurden. So wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur Wiedervereinigung das Wiederaufleben der jüdischen Gemeinden vom Staat wohlwollend gefördert (was man von der individuellen, auch finanziellen Wiedergutmachung gegenüber Einzelpersonen eher nicht behaupten kann).
Außerdem gewannen persönliche Beziehungen zu Juden speziell dann an Bedeutung, wenn sie eine individuelle nazistische Vergangenheit übertünchen konnten oder gar zu einer gesellschaftlichen Absolution verhalfen – wie etwa im Falle des baden-württembergischen Ministerpräsidenten und „furchtbaren Juristen“ Hans Filbinger, der enge Beziehungen zum damaligen, nachweislich korrupten Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Werner Nachmann, unterhielt. Die ehemaligen Opfer der Judenverfolgung wurden so in infamer Weise zu Komplizen bei der Weißwaschung ehemaliger NS-Täter gemacht, ja sogar – was in der Weimarer Republik unvorstellbar gewesen wäre – in die Rolle moderner „Hofjuden“ gedrängt.
Jüdische Repräsentantinnen und Repräsentanten sollten als Antidot zum deutschen Faschismus nun buchstäblich einen deutschen Anti-Nazismus verkörpern. Was sie zu sagen hatten, wurde meist wohlwollend zur Kenntnis genommen, zugleich aber blieben die jüdischen Vertreterinnen und Vertreter politisch weitgehend machtlos. Anderenfalls hätten ihre unermüdlichen Hinweise auf unbestrafte Naziverbrecher zu einer weit höheren Zahl an Anklagen und Verurteilungen führen müssen. Ohne die späteren Vorsitzenden des Zentralrats der Juden und jüdische Akteure wie den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der Mitte der 1960er Jahre die Anklage im Auschwitz-Prozess in Frankfurt am Main führte, wäre die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Menschheitsverbrechen vermutlich steckengeblieben.
Die Rolle des Zentralrats der Juden
Aufgrund dieser Entwicklung weist die jüdische Gemeinschaft in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern institutionell einzigartige Charakteristika auf. Im Zentrum steht dabei der Zentralrat der Juden in Deutschland als Dachorganisation der jüdischen Gemeinden und Landesverbände.
Nach seiner Gründung im Jahr 1950 war der Zentralrat vor allem mit der Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts beschäftigt. Erst später rückten der Kampf gegen den Antisemitismus, die Annäherung zwischen Deutschland und dem Staat Israel sowie die Förderung der Arbeit der Mitgliedsgemeinden und Landesverbände ins Zentrum seiner Tätigkeiten.
In den ersten Jahren verwendete der Zentralrat somit einen Großteil seiner Ressourcen für Verhandlungen mit staatlichen Behörden, etwa um Konfiszierungen gemeindlichen und privaten jüdischen Besitzes in der Nazizeit rückgängig zu machen. Dieser mühseligen Aufgabe ging das Personal des Zentralrats mit großer Hingabe und Ausdauer nach – eine bis heute viel zu wenig gewürdigte Leistung. Seit den 1980er Jahren widmete sich der Zentralrat dann nicht zuletzt der Integration russischsprachiger Juden.
Darüber hinaus aber fungierten jüdische Funktionäre als Erinnerungswächter bei staatlichen Gedenkveranstaltungen zum Holocaust. Die kulturelle Nähe zur deutschen Gesellschaft innerhalb der jüdischen Führung erleichterte dies: Sämtliche Vorsitzende des Zentralrates seit 1945 sind deutsche Juden gewesen – sie gehören damit innerhalb der jüdischen Gemeinschaft einer winzigen Minderheit ohne „Migrationshintergrund“ an. Dem Großteil aller hierzulande lebenden Jüdinnen und Juden fehlt hingegen eine solche „organische Verwurzelung“ in Deutschland, die bis vor 1933 zurückreicht. So ist der Zentralrat heute zwar – nicht zuletzt mittels des „Beauftragten für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus“ – staatlich integriert, verfügt aber gesellschaftlich nur über vergleichsweise flache Wurzeln.
Und es gibt einen weiteren, wesentlichen Unterschied zu früher: Im Deutschen Reich wurden Juden nicht als schutzbedürftige ethnische Einheit gesehen. Stattdessen gab es im 19. Jahrhundert zahlreiche Schtadlanim, jüdische Fürsprecher und Vermittler gegenüber der nichtjüdischen Umwelt. Heute ist es ironischerweise umgekehrt: Nichtjuden sind heute vielfach Fürsprecher für Juden und bauen jüdische Museen. Juden sind damit gewissermaßen zu „Schutzjuden“ mutiert. Der jüdische Publizist Max Czollek hat daher unlängst gefordert, Juden sollten sich innerhalb der deutschen Gesellschaft „desintegrieren“ und damit erst wirklich emanzipieren.
Islamfeindlichkeit: Der neue Bruch
Mit der Wende von 1989 und der Neudefinition der nationalen Identität nach der deutschen Wiedervereinigung vertiefte sich das hoch illusorische gesellschaftliche Bedürfnis, den Bruch von 1933 zu kitten – durch die Rekonstruktion zerstörter Synagogen und Judaistikzentren sowie durch den Bau jüdischer Museen ohne wesentlichen jüdischen Input, die Wiederbelebung des Klezmer-Genre, durch Israel-Reisen und das Anbringen von sogenannten Stolpersteinen. Darüber hinaus werden die jüdische Kultur und die Präsenz von Juden in der Öffentlichkeit geschätzt – und selbst antideutsche Schmähungen einzelner jüdischer Autoren werden von ihrer nicht-jüdischen Leserschaft begierig aufgesogen, um auf diese Weise eine imaginierte Gemeinschaft herzustellen.
Gänzlich anders sieht es mit dem Verhältnis der eingeborenen Deutschen zu den hier lebenden Muslimen aus. Während Juden im öffentlichen Diskurs insgesamt das „Gute“ in der deutschen Gesellschaft repräsentieren, stehen inzwischen Muslime häufig für das (religiös) Abstoßende, das Fremde. Diese Haltung führt paradoxerweise sogar dazu, dass Muslime pauschal als Antisemiten verunglimpft werden können und der Anti-Antisemitismus der „Biodeutschen“ absurderweise zum Vehikel für den gesellschaftlichen Ausschluss von Muslimen geworden ist. Wie Max Czollek hierzu treffend bemerkt, wird auf diese Weise die herrschende Islamfeindlichkeit mit dem Schutz der hierzulande lebenden Juden gerechtfertigt — und zugleich der nach wie vor in erheblichem Maße vorhandene deutsche Antisemitismus elegant zum Verschwinden gebracht.
Das aber zeigt, dass der jüdisch-deutsche Bruch zwar staatlicherseits gekittet wurde, er aber auf der gesellschaftlichen Ebene weiterhin besteht. Für die gesellschaftliche Mitte in Deutschland bleiben die Juden ein unergründbarer und zugleich tabuisierter Teil der deutschen Geschichte – selbst nach 1700 Jahren einer angeblich durchgängigen deutsch-jüdischen Geschichte.
[1] Vgl. Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Berlin 1926, Bd. 4, S. 53 f.
[2] „Im Deutschen Reich. Zeitschrift des Centralvereins deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens“, Januar/Februar 1922, S. 2.
[3] „CentralVereins-Zeitung“, 4.5.1922.
[4] Vor dem Ersten Weltkrieg waren es noch rund 600 000 gewesen. Die Abnahme erklärt sich aus der relativ niedrigen jüdischen Geburtenrate und den Auswanderungswellen nach Nord- und später Südamerika.
[5] Vgl. dazu z.B. Jay H Geller, Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie, Berlin 2020.
[6] Vgl. hierzu Y. Michal Bodemann, Gedächtnistheater. Die jüdische Gemeinschaft und ihre deutsche Erfindung, Hamburg 1996, S. 80 ff.
[7] Vgl. Michael Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, New Haven 1996.
[8] Vgl. hierzu Michael Brenner (Hg.), Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München 2012.