Bild: IMAGO / Emmanuele Contini
In der Dezember-Ausgabe plädierte der Politikwissenschaftler Moritz Kirchner in der Auseinandersetzung mit den Coronaleugnern für »Keine Toleranz der Intoleranz« und eine präventive Absage von Demonstrationen. Dem widerspricht der Jurist Wolfgang Hecker
Moritz Kirchner kritisiert in seinem Beitrag, dass es keine funktionierende Strategie gegenüber Coronaleugnern gäbe, und fragt, wie es sein könne, dass die „Querdenker“ mit ihren Einsprüchen gegen Versammlungsverbote regelmäßig kurz vor Veranstaltungsbeginn von den Gerichten recht bekämen. Mittlerweile hat sich die zugrunde gelegte Lage allerdings fundamental verändert. Während zunächst Versammlungen der „Querdenker“ in der Tat regelmäßig zugelassen und nur Auflagen erteilt wurden, sind sie zuletzt in vielen Fällen bereits präventiv verboten worden. Diese Verbote wurden anschließend auch vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Die Rechtsprechung hat damit auf die Erfahrungen mit den vorangegangenen Versammlungen und die Entwicklung der „Querdenker“ reagiert. Derartige Großveranstaltungen können seitdem kaum noch mit Aussicht auf Erfolg angemeldet werden.
Der Initiator der „Querdenker“-Bewegung, Michael Ballweg, rief daher in realistischer Einschätzung der Lage dazu auf, nicht zu der zunächst für den Silvesterabend angemeldeten Großveranstaltung nach Berlin zu kommen und auch nicht zu der für den 30. Dezember geplanten Ersatzveranstaltung – verbunden mit dem Hinweis, dass die Kräfte für einen Neustart der Protestbewegung im Frühjahr gesammelt werden sollten.
Die zuvor gängige Zulassung von „Querdenker“-Versammlungen kann zwar durchaus kritisch beleuchtet werden, der pauschale Vorwurf, bei den Gerichten sei eine realistische Folgenabschätzung schlicht nicht erkennbar gewesen, greift aber viel zu kurz – und er verkennt den Stellenwert der Versammlungsfreiheit als elementares Grundrecht in der Demokratie.
Eben aufgrund dieses elementaren Charakters hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung immer wieder betont, dass präventive Versammlungsverbote die absolute Ausnahme in der Demokratie sein müssen. Selbst wenn aus dem Kreis der Teilnehmer mögliche Rechtsverstöße auftreten können (von kleineren Ordnungswidrigkeiten bis hin zu Straftaten), dürfen im Regelfall keine präventiven Verbote ergehen. Die Geschichte des Versammlungsrechts in Deutschland weist dementsprechend eine sehr große Zahl von Versammlungen auf, bei deren Anmeldung Rechtsverstöße für möglich erachtetet wurden, aber kein präventives Verbot der gesamten Versammlung erging. Hier wurde die verfassungsrechtlich gebotene Grundregel beachtet, dass Rechtsverstöße durch einen Teil der Versammlungsteilnehmer nicht gleich zu einem Verbot der Versammlung insgesamt führen können. Selbst wenn bezogen auf einen größeren Teil der Versammlungsteilnehmer mit einzelnen Rechtsverstößen zu rechnen ist, müssen im Regelfall zunächst alle anderen Möglichkeiten – präventive Auflagen, polizeiliche Maßnahmen während der Versammlung – ausgeschöpft werden, bevor ein Verbot ergehen darf.
Die Protestbewegung gegen Maßnahmen im Rahmen der Coronapandemie ist eine sehr junge Bewegung, die erst im Zuge der Pandemie entstand und auch einen vielfältigen Teilnehmerkreis aufweist. Hier gab es vor allem anfänglich keine eindeutigen organisatorischen Strukturen und die Verhaltensweisen der Teilnehmer bei den einzelnen Versammlungen wiesen durchaus Unterschiede auf. Auch das Ausmaß der Missachtung der Maskenpflicht und sonstiger Rechtsverstöße sowie die Reaktion auf polizeiliche Hinweise waren bei den einzelnen Veranstaltungen durchaus uneinheitlich. Zudem existierten Unterschiede bei den diversen lokalen Initiativen der „Querdenker“; auch deshalb konnten bei einzelnen „Querdenker“-Versammlungen in der Vergangenheit aufgetretene Vorfälle nicht pauschal als ausreichender Verbotsgrund bei der Anmeldung einer Versammlung an einem anderen Ort angeführt werden. Die Versammlungsbehörden und die Gerichte gingen deshalb zu Recht davon aus, dass jeder Einzelfall gesondert betrachtet werden muss. Damit erfolgte der im demokratischen Rechtsstaat gebotene differenzierte Umgang mit dem Thema unter Beachtung der versammlungsfreundlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.
Ihre Lernfähigkeit hatte die Rechtsprechung bereits in der ersten Phase der Pandemie bewiesen. Hier wurde zunächst eine pauschale Verbotspraxis seitens der Versammlungsbehörden praktiziert, bei der der Gesundheit in viel zu undifferenzierter Weise Vorrang vor der Versammlungsfreiheit eingeräumt wurde – selbst wenn es nur um einen kleinen Personenkreis bei einer lokalen Versammlung ging und ein Konzept zur Einhaltung des Mindestabstands und des Tragens von Masken vorgelegt wurde. Diese in hohem Maße auch durch Verwaltungsgerichte gebilligte pauschale Verbotspraxis erklärte das Bundesverfassungsgericht denn auch im Frühjahr 2020 für evident verfassungswidrig.
»Ihre Lernfähigkeit hatte die Rechtsprechung bereits in der ersten Phase der Coronapandemie bewiesen.«
Die jetzt erfolgte neuere Entwicklung hin zu präventiven Verboten stellt jedoch keinen Bruch mit der vorangegangenen Rechtsprechung dar. Sie beruht vielmehr darauf, dass sich inzwischen die Erkenntnis verdichtet hat, dass es zu einer systematisch organisierten Missachtung des Abstandsgebots und der Maskenpflicht durch die Veranstalter selbst und einer erheblichen Zahl der Teilnehmer kommt.
Verstöße gegen die Maskenpflicht stellen zwar formal nur eine Ordnungswidrigkeit dar, die in der Regel kein Versammlungsverbot rechtfertigt. Hier aber liegt ein Sonderfall vor, da dem Einhalten des Abstandsgebots und dem Tragen einer Maske eine besondere Bedeutung für den Schutz des Lebens und der Gesundheit zukommt. Deshalb werden in diesem besonderen Fall auch präventive Verbote für zulässig erachtet.
Dies darf aber kein Freibrief für einen allgemeinen Übergang der Versammlungsbehörden, weg von der Zulassung von Versammlungen mit angemessenen Auflagen hin zu präventiven Verboten, sein. Im Regelfall können mögliche vereinzelte Rechtsverstöße von Versammlungsteilnehmern eben kein präventives Versammlungsverbot begründen. Es gehört gerade zum Risiko der grundgesetzlich garantierten Versammlungsfreiheit, dass auch einzelne Gesetzesverstöße, ja sogar Straftaten auftreten können.
Einzelne, in der Regel eher konservative Stimmen haben in der Vergangenheit immer wieder die angeblich zu liberale Praxis des Umgangs mit der Versammlungsfreiheit in Deutschland kritisiert und eine stärker präventive Verbotspraxis gefordert. Voreilige Vorwürfe eines Staatsversagens und eines Verlusts des staatlichen Gewaltmonopols angesichts bestimmter Vorfälle bei den jüngsten „Querdenker“-Versammlungen laufen Gefahr, in die Nähe von Stammtischparolen ordnungspolitischer Hardliner zu geraten.
»Begrenzte Regelverletzungen bei Inkaufnahme staatlicher Reaktionen gehören zum legitimen zivilen Ungehorsam in der Demokratie.«
Angesichts immer wieder neuer Sachlagen und Strategien von Protestbewegungen können Versammlungsbehörden, Polizei und Gerichten durchaus auch Fehleinschätzungen unterlaufen, zumal es sich um oft nicht einfache Prognoseentscheidungen oder Eskalationen vor Ort handelt. Vor pauschalen Vorwürfen eines Staatsversagens aufgrund bestimmter Einzelfälle ist auch deshalb zu warnen. Ein ernsthaftes Problem besteht erst dann, wenn ein systematisches Staatsversagen zu konstatieren ist, nicht aber, wenn sich wie in diesem Fall Versammlungsbehörden und Gerichte als lernfähig erweisen.
Die Inszenierung von „Querdenkern“ als „Rebellen“ mit bestimmten Grenzüberschreitungen ist ein typisches Merkmal von Protestbewegungen, mit dem sich aufgeklärte demokratische Rechtsstaaten in angemessener Weise auseinandersetzen müssen, wie zuletzt auch bei den Protestaktionen im Dannenröder Forst. Begrenzte Regelverletzungen bei Inkaufnahme staatlicher Reaktionen gehören zum Programm legitimen zivilen Ungehorsams in der Demokratie. Dieses Recht ist jedoch auch Menschen zuzubilligen, die die Coronamaßnahmen für überzogen erachten. Sie müssen allerdings jetzt damit rechnen, dass der Staat massiver gegen Versammlungen dieser Bewegung vorgeht. Denn inzwischen ist erwiesen, dass die Organisatoren von „Querdenker“-Veranstaltungen sich nicht nur persönlich gegen die Maskenpflicht aussprechen, sondern ausdrücklich auf Veranstaltungen auf sich als Vorbild verweisen, bei denen es zu massiven Missachtungen des Abstandsgebots und der Maskenpflicht gekommen ist, und bei der Anmeldung der Veranstaltungen auch keine tragfähigen Konzepte für ein Einhalten der Abstandspflicht und des Tragens von Masken vorlegen.
Insgesamt werden die „Querdenker“ inzwischen deutlich stärker als eine zentral agierende Organisation bewertet, deren maßgebliche Akteure ohne klare Abgrenzung gegenüber Reichsbürgern und Rechtsextremisten agieren. Insbesondere die „Querdenker“ aus Baden-Württemberg mit ihrem Initiator Michael Ballweg aus Stuttgart veranlassten daher den Verfassungsschutz zu einer Beobachtung. Ballweg und die ihn beratenden „Rechtspaten“ haben wohl erkannt, dass die Rechtsprechung zu präventiven Verboten inzwischen so „wasserdicht“ ist, dass für die Anwälte keine erfolgreichen Angriffspunkte mehr bestehen. Die neue Strategie lautet daher, eine Pause bei Großveranstaltungen einzulegen und neue Strukturen zu entwickeln.
Ab diesem Frühjahr sollen die Demonstrationen von anderen Veranstaltern getragen werden, erklärte Ballweg Ende Dezember 2020. Da er selbst inzwischen aufgrund seiner Kontakte zu Rechtsextremisten und Reichsbürgern sowie dubioser Finanzgeschäfte einer kritischen Medienberichterstattung ausgesetzt ist, könnte diese Aussage als rein individueller Rückzug aus der vordersten Front gewertet werden. Einiges spricht aber dafür, dass hier ganz gezielt versucht wird, die neuere Rechtsprechung zu unterlaufen. Denn im Falle neu auftretender Veranstalter kann nicht einfach von einer Nachfolge ausgegangen werden, die mit den bisherigen Veranstaltern und deren Programm identisch ist. Die Prüfung dieser Frage wird die Verwaltungsbehörden und -gerichte daher intensiv beschäftigen und somit binden.
Das erkennbare Ziel dieser Strategie liegt auf der Hand: Unruhe in das staatliche Getriebe zu bringen und darüber Zeit und neue Handlungsspielräume zu gewinnen, um die präventiven Versammlungsverbote in Frage zu stellen.
Derartige Strategien sind im demokratischen Rechtsstaat weithin üblich und auch zulässig. Die Verwaltungsbehörden und die Gerichte können und werden darauf wie in vergleichbaren Fällen eine rechtsstaatlich angemessene Antwort finden. Gegen die organisierte Missachtung des Abstandsgebots und der Maskenpflicht stehen ausreichende Mittel zur Verfügung, zudem die strafrechtliche Verfolgung weiterer Rechtsverstöße, wie etwa Angriffe auf Journalisten sowie Beleidigungen mit teils antisemitischen Tendenzen. Zu alldem bedarf es aber keiner Überhöhung des rechtsstaatlichen Vorgehens durch allgemeine Parolen wie „Keine Toleranz den Intoleranten“, die vielmehr stets die Gefahr beinhalten, ihrerseits undifferenziertem Denken und Handeln Auftrieb zu verleihen.