Corona und die unbewältigte Finanzmarktkrise

Bild: Händler auf dem Parkett der New York Stock Exchange bei der Eröffnungsglocke an der Wall Street in New York City am 17. März 2020 (imago images / UPI Photo)
Die Coronakrise hatte in diesem Jahr die ganze Welt fest im Griff. Darüber geriet die Finanz- und Bankenkrise fast völlig in Vergessenheit, ja sie erschien regelrecht als gelöst. Was für eine gefährliche Illusion! Denn mehr als zehn Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers ist die Krise von 2008 beileibe nicht überwunden, sie hat sich nur verlagert.
Man könnte fast den Eindruck bekommen, dass „Krise“ in den vergangenen dreißig Jahren zum Dauerzustand des Finanzmarkts geworden ist: 1990 platzte die Immobilien- und Aktienblase in Japan und stürzte das Land in eine Art Dauerkrise mit stagnierender Wirtschaft, deflationären Phasen und Nullzinsen, die bis heute nicht überwunden ist. 1994 schüttelte die Pesokrise Mexiko durch. 1997/1998 erfasste die Asienkrise die weltweiten Finanzmärkte. Die Mittelschicht erodierte, in wenigen Monaten verloren Millionen Menschen in der Region ihren Job. 2001 platzte die sogenannte Dotcom-Blase, nachdem sich eine gigantische Spekulationsblase, insbesondere bei Aktien von Internetfirmen, gebildet hatte. Anschließend entstand eine riesige Blase an den Immobilienmärkten, oft befeuert durch strukturierte Finanzprodukte in den USA, in Irland, Spanien, Zypern. Sie führte zur großen Bankenkrise der Jahre 2007 bis 2009, die sich in Europa zur Eurokrise der Jahre 2010 bis 2012 auswuchs. Und während wir diese Krise eigentlich immer noch nicht bewältigt haben, löst nun das Coronavirus einen neuen Schub aus – und lässt damit auch die alten ungelösten Probleme wieder virulent werden.
Denn tatsächlich ist das Bankenretten, das im Juli 2007 in Deutschland mit der IKB begann, längst nicht vorbei. Noch immer sind wir als Steuerzahlerinnen und -zahler an der Commerzbank beteiligt, die 2008 mit 18,2 Mrd. Euro Staatshilfen gerettet werden musste. Auch die Abwicklungsanstalten für die nordrhein-westfälische Landesbank WestLB, genannt Erste Abwicklungsanstalt EAA, und für die Münchner Bank HypoRealEstate, genannt FMS Wertmanagement, haben den Abbau der sogenannten toxischen Papiere noch nicht beendet. Vor allem aber gab es in den vergangenen Jahren neue Bankenrettungen: Zum einen wurde die Bremer Landesbank 2016 wegen Kapitalmangels an die NordLB verkauft. Zum anderen wurde die Rettung der Landesbank von Schleswig-Holstein und Hamburg, der HSH Nordbank, erst 2018 mit einem als Verkauf getarnten Abstoßen an Finanzinvestoren abgeschlossen. Beide hatten sich mit Schiffsfinanzierungen verhoben. Das gleiche Problem hatte auch eine andere Bank, die gerettet wurde: Ende 2019 wurde von den Landesparlamenten in Niedersachsen und Sachsen-Anhalt eine 3,6 Mrd. Euro schwere Rettungsaktion für ihre Landesbank, die NordLB, beschlossen. Hört denn das Bankenretten niemals auf?
Auch die Fusion von Commerzbank und Deutscher Bank, die im Frühjahr 2019 diskutiert wurde, war letztlich ein Plan, das seit 2008 währende Siechtum beider Institute durch einen neuen Ansatz zu beenden. Über die staatlichen Anteile der Commerzbank wäre der deutsche Staat indirekt bei der Deutschen Bank eingestiegen und hätte so bei den internationalen Investoren das verloren gegangene Vertrauen in die Deutsche Bank wiederherstellen sollen. Das wäre nichts anderes gewesen als eine erneute Hilfe durch den Steuerzahler für eine kriselnde Bank. Die Fakten sprechen also gegen die Vorstellung, wir hätten die Probleme im Bankensektor längst hinter uns gelassen. Und das gilt beileibe nicht nur für Deutschland: 2017 kippte die spanische Banco Popular. 2016 rettete die italienische Regierung die Bank Monte dei Paschi di Siena, 2019 die in Genua ansässige Banca Carige. Wie fragil das Finanzsystem ist, wurde auch Ende 2019 in den USA sichtbar. Die amerikanische Notenbank Fed stellte aus Angst vor Liquiditätsengpässen im Interbankenmarkt fast 500 Mrd. US-Dollar über Repo-Geschäfte bereit. Das sind Rückkaufvereinbarungen, bei denen die Notenbank kurzlaufende Staatsanleihen von den Geschäftsbanken erwirbt und zu einem festgelegten Termin wieder zurückverkauft. Bemerkenswert ist, dass sie das erstmals seit 2008 wieder tat und dabei ein Volumen bewegte, das größer war als während der Hochzeit der Finanzkrise 2008/2009. Hintergrund war möglicherweise ein verändertes Verhalten einer einzigen US-Großbank, nämlich JPMorgan.[1]
Von der Banken- zur Versicherungskrise
Dass die Finanzkrise von 2008 nicht wirklich bewältigt wurde, sieht man auch in anderen Bereichen. Sie ist nämlich weitergewandert. Wie eine Krankheit, die nie auskuriert wurde. In den vergangenen Jahren hat sich die Finanzkrise direkt vor unseren Augen auf dem Immobilienmarkt und bei der privaten Altersvorsorge eingenistet. Nicht nur das klassische Sparbuch dümpelt wegen der Niedrigzinssituation vor sich hin, auch institutionelle Anleger, die unsere Lebensversicherungen oder Pensionsgelder am Kapitalmarkt anlegen, sind betroffen. Und während immer mehr Pensionskassen, und damit die betriebliche Altersvorsorge von Millionen, unter die intensivierte Aufsicht der Finanzaufsichtsbehörde BaFin gestellt werden, versuchen die Lebensversicherungen längst, ihre unprofitablen Kunden loszuwerden. Stichwort: Run-offs. Das, was nach vielen Jahren des Sparens einmal bei Lebensversicherungen herauskommt, befindet sich zudem seit geraumer Zeit im Sinkflug.
War die Finanzkrise zunächst also vor allem eine Bankenkrise, ist sie inzwischen zu einer Versicherungskrise geworden. Der Unterschied ist nur, dass Banken, wenn sie in eine Schieflage geraten, schnell kippen und es sofort in der Zeitung steht, wenn Banker um staatliche Hilfe ersuchen. Das liegt an der Liquidität, die ganz schnell fehlt. Lebensversicherungen hingegen sterben langsam, weil sie dank der regelmäßig fließenden Kundenbeiträge auch in schwierigen Zeiten meist über genug Liquidität verfügen. Ihr Sterben geht zu Lasten vieler Millionen Kunden. Erstaunlicherweise ist das den meisten Medien bisher kaum eine größere Schlagzeile wert gewesen.
Dabei muss die Krisenfestigkeit der Versicherer durchaus Sorgen bereiten. Schließlich hielt die Branche 2017 im Schnitt nur 1,5 Prozent der Bilanzsumme als Eigenkapital vor – das ist sehr wenig, wenn es darum geht, Verluste abzupuffern. Die Versicherungsunternehmen verweisen bei diesem Thema stets auf ihre Auffanggesellschaft, die Protektor AG, mit der verhindert werden soll, dass die Versicherten bei einer Pleite ihre private Altersvorsorge verlieren. Protektor funktioniert jedoch aller Voraussicht nach nur bei der Schieflage einer kleineren oder mittelgroßen Gesellschaft. Wären aber ein großes Unternehmen oder mehrere mittlere aufzufangen, könnte das die Protektor AG überfordern. Vor allem aber kann die BaFin laut Versicherungsaufsichtsgesetz, Paragraph 314, im Fall einer Schieflage die Ansprüche der Versicherten heruntersetzen, noch bevor die Unternehmen selbst zur Kasse gebeten werden.
Versicherungskunden sind mit dieser Regelung deutlich schlechter gestellt als Bankkunden. Bei den Banken sind 100 000 Euro für jeden Kunden gesetzlich garantiert geschützt – und damit ein gewisser Betrag auf jeden Fall sicher. Wenn eine Bank abgewickelt werden muss, verlangt das Gesetz außerdem, dass zuerst die Aktionäre, dann die Gläubiger und dann die Großkunden haften. Bei Versicherungsunternehmen gibt es hingegen keinen vergleichbaren Kleinanlegerschutz. Es existiert auch keine Regelung, wonach Aktionäre und Gläubiger zuerst haften müssen, bevor die Versicherten ihre Ersparnisse verlieren. Leider wird all das wohl kaum jemals in einem Verkaufsgespräch erwähnt.
Falls den einen oder anderen jetzt ebenfalls ein ungutes Gefühl beschleicht, wie sicher das eigene Geld angelegt ist – auch die Aufsichtsbehörde BaFin sorgt sich längst. Sie hat jedenfalls mehrere Versicherungsunternehmen unter intensivierte Aufsicht gestellt, weil mittel- bis langfristig finanzielle Schwierigkeiten drohen könnten. Wenn eine Behörde wie die BaFin, die ja nicht gerade schnell in Wallung gerät, das tut, dann sollten die Alarmglocken läuten. Und es gibt noch mehr Hinweise: Im März 2019 berichtete etwa die „Süddeutsche Zeitung“, dass der Allianz-Konzern eine Vereinbarung hat auslaufen lassen, mit der er gezwungen gewesen wäre, seiner Tochter, der Allianz Lebensversicherung, beizuspringen, sollte es dort mal kriseln.[2] Dabei hat der Konzern von genau dieser Tochterfirma von 2015 bis 2017 1,29 Mrd. Euro an Ausschüttungen erhalten. Erst das Geld rausziehen und dann aussteigen? Für Kundinnen ist das keine beruhigende Nachricht.
Die Zeiten im Universum der Assekuranz sind also mitnichten rosig. Was die Gesetzeslage angeht, müsste einiges getan werden, um die Lebensversicherer stabiler aufzustellen und dafür zu sorgen, dass Schieflagen nicht zu Lasten der Kunden gehen. Die Politik hat in den zurückliegenden Jahren auch an einigen Stellen geschraubt, aber herausgekommen ist viel zu wenig.
Die Finanzkrise war in den vergangenen Jahren außerdem auf dem Immobilienmarkt zu spüren. Mangels guter Alternativen und angesichts niedriger Zinsen floss hier sehr viel Anlagegeld hin. Damit kam einerseits die Finanzkrise über steigende Mieten im heimischen Wohnzimmer an, andererseits könnte sich das Ganze zu einem noch größeren Problem entwickeln, wenn die Blase platzt.
Das Finanzsystem von heute – so anfällig wie ein chronisch Kranker
Das Finanzsystem war Anfang 2020, also noch vor Beginn der Coronakrise, keineswegs viel stabiler als 2008. Zwar hat man versucht, einiges zu regulieren. Doch das Ergebnis ist insgesamt ernüchternd. Gewiss, nicht alles ist schlecht, was seit 2008 entschieden wurde. Beispielsweise wurde eine europäische Bankenaufsicht geschaffen und eine europäische Bankenabwicklungsbehörde. Ersteres stellt sicher, dass die großen Banken in Europa nicht mehr die unterschiedlichen nationalen Aufseher gegeneinander ausspielen können, sondern es letztlich mit einer Instanz, der Bankenaufsicht der EZB, zu tun haben. Das ist eine entscheidende Verbesserung. Das gilt auch für die Bankabwicklungsbehörde. Sie ist die Konsequenz aus den fehlenden rechtlichen Grundlagen für Bankenabwicklungen in Europa, aber auch den Problemen beim Umgang mit grenzüberschreitend tätigen Banken im Falle einer Schieflage. Deutschland hatte das Problem bei der HypoRealEstate zu spüren bekommen, deren Rettung uns mindestens 20 Mrd. Euro kosten wird.[3] Etwa zur Hälfte bestand sie aus der irischen Tochtergesellschaft Depfa, die Deutschland automatisch mitgerettet hat.
Schaut man sich allerdings die Geschäftsmodelle der Finanzdienstleister an, wird deutlich, dass einige ganz wichtige Reformen, die 2008/2009 diskutiert wurden, so entkernt worden sind, dass sie nur sehr wenig bewirken. Die Geschäftsmodelle vieler Akteure sind praktisch unverändert, manche als Ursachen der Finanzkrise ab 2008 diskutierten Probleme sind heute mindestens genau so groß wie vor dem Ausbruch dieser Krise. Viele Banken sind immer noch too big to fail. Das Financial Stability Board veröffentlicht jedes Jahr im November eine illustre Liste der global systemrelevanten Banken. Deutschland ist wie zu erwarten seit Jahren mit der Deutschen Bank vertreten. China und die USA stellen fast die Hälfte der 30 momentan gelisteten Banken. Und einige der Too-big-to-fail-Banken sind seit 2008 noch größer geworden, so etwa JPMorgan oder die Bank of America.[4] Die Bilanzsumme von JPMorgan ist seit 2008 um über 400 Mrd. Dollar gestiegen und betrug 2018 sage und schreibe über 2600 Mrd. Dollar, was einem Zehntel der jährlichen Wirtschaftsleistung der USA in diesem Jahr entsprach. Die zu geringe Eigenkapitalquote der Banken, die damals viele in den Abgrund gerissen hat, wurde zwar verbessert. Allerdings haben Banken noch immer die Möglichkeit, sich durch komplexeste Rechenmodelle ihr Eigenkapital schön zu rechnen. Viel stabiler sind sie also nicht geworden. Stattdessen arbeiten sie immer noch mit viel zu viel Schulden. Nehmen wir als Beispiel die Deutsche Bank. In der Öffentlichkeit wird bei Banken gerne eine höhere Eigenkapitalquote genannt, die die Banken ins bessere Licht rückt (man spricht von der risikogewichteten Eigenkapitalquote, weil jeder Vermögensgegenstand der Bank mit einem Risikogewicht versehen wird). Demzufolge hätte die Deutsche Bank 2019 13,6 Prozent ihrer Geschäftsaktivitäten mit Eigenkapital finanziert, den Rest mit geliehenem Geld. Nimmt man aber die Eigenkapitalquote, wie sie auch sonst bei Unternehmen errechnet wird, nämlich Eigenkapital geteilt durch die Bilanzsumme (auf Englisch: Leverage Ratio), dann wären es nur 4,2 Prozent. Zum Vergleich: Unternehmen der Realwirtschaft finanzieren ihre Geschäfte meist mit 20 bis 30 Prozent Eigenkapital. Nun sind diese 4,2 Prozent zwar eine deutliche Steigerung gegenüber dem Wert von 2007 – in absoluten Zahlen verfügt die Deutsche Bank 2019 etwa über doppelt so viel Eigenkapital wie 2007, und das bei gesunkener Bilanzsumme –, aber stabil ist das nicht, wenn über 95 Prozent der Aktivitäten fremdfinanziert sind! Auch der Hochfrequenzhandel ist noch da. Nach wie vor setzen Hochfrequenzhändler Milliarden um. Dieses System schafft praktisch keinen gesellschaftlichen Mehrwert und ist nur darauf ausgelegt, andere Investoren zu übervorteilen. Zudem trägt es zur Instabilität des Finanzsystems bei.
Alles weiter wie gehabt
Ein weiterer putzmunterer Akteur der Krise von 2008 sind die Rating-Agenturen. Vieles, was von ihnen ein Top-Rating erhalten hatte, stellte sich in der Krise leider als vollkommen wertlos heraus. Problematisch an ihnen ist bereits, dass es sich um ein Oligopol von drei großen amerikanischen Unternehmen handelt. Das ganze Modell der Ratings baut zudem auf einem Interessenkonflikt auf: Derjenige, der bewertet wird, zahlt für diese Bewertung.
Nun haben diese von drei privaten US-Unternehmen vorgenommenen Ratings aber eine zentrale Bedeutung für die gesamte Finanzwelt. Viele institutionelle Käufer von Finanzprodukten oder Staatsanleihen schauen sich diese Ratings nämlich nicht nur an und bilden sich dann ihre eigene Meinung. Vielmehr sind etwa Pensionsfonds und Versicherungen, aber auch die Europäische Zentralbank dazu gezwungen, ihre Entscheidungen an einem solchen Rating festzumachen. Die Ratingagenturen haben also eine herausragende Stellung und großen Einfluss. Nach der Finanzkrise hat man sich hier an einer Regulierung versucht. Mit wenig Erfolg. Das Geschäftsmodell der Rating-Agenturen ist unverändert. Die Marktmacht der drei großen Gesellschaften hat sogar noch zugenommen.
Auch die Wirtschaftsprüfer haben heute dasselbe Geschäftsmodell wie vor 2008. Dabei sind die von ihnen geprüften Unternehmen in der Krise reihenweise umgekippt. Dass immer noch einiges in dieser Branche schiefgehen kann, zeigt der Skandal um Wirecard nur zu gut. Das Geschäftsmodell der Wirtschaftsprüfer basiert sogar auf einem noch gigantischeren Interessenkonflikt als das der Ratingagenturen. Denn sie werden nicht nur von demjenigen bezahlt, bei dem sie dafür sorgen sollen, dass keine Bilanztricks zum Einsatz kommen. Außer der Prüfung bieten sie auch noch lukrativere Beratungsleistungen wie etwa Steuerberatung an. Und genau wie bei den Rating-Agenturen herrscht auf diesem Markt ein Oligopol. Die Macht der vier größten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften hat seit 2008 sogar noch weiter zugenommen.
Nach 2008 ist viel darüber diskutiert worden, wie enorm aufgebläht der Derivatemarkt ist. Tatsächlich ist er seit 2014 etwas geschrumpft, weil einige Regeln in den USA und in Europa in Kraft traten, die den schwungvollen Derivatehandel etwas gebremst haben. Nach einem Spitzenwert von 656 Billionen Dollar im Jahr 2007 ist der Bestand von börslich und außerbörslich gehandelten Derivaten im Jahr 2016 auf 540 Billionen Dollar zurückgegangen, während sich die globale Wirtschaftsleistung in dieser Zeit von 58 auf 76 Billionen Dollar gesteigert hat. Trotzdem ist das Missverhältnis natürlich immer noch enorm, wenn der Derivatemarkt ein Vielfaches der globalen Wirtschaftsleistung beträgt, auf die er sich bezieht. Die großen Banken haben nach wie vor Billionen an Derivaten in ihren Büchern stehen. Allein bei der Deutschen Bank türmten sich 2018 noch 48 Billionen Euro an Derivaten, das Vierzehnfache der deutschen Wirtschaftsleistung.[5] Das kann nicht gesund sein.
Und auch der Finanzvertrieb macht im Prinzip einfach so weiter wie in den guten alten Zeiten, als man Kleinanlegern Lehman-Zertifikate verkaufen konnte. Allein in Deutschland werden über 1,8 Mio. komplexe Finanzprodukte vertrieben. Nach wie vor drehen Verkäufer, die sich Berater nennen, den Bankkunden Produkte an, die gut für die Verkäufer und schlecht für die Anleger sind. Dafür bekommen sie vom Produkthersteller eine Provision. Der Interessenkonflikt ist offensichtlich. Auch hier hat man sich an einer Regulierung versucht. Die geht aber, wie das Beispiel Altersvorsorge zeigt, am Kern der Sache vorbei.
Too much finance
Vor allem aber sind zwei große Fehlentwicklungen weitergegangen, die schon 2008 eine wichtige Rolle gespielt haben und das Finanzsystem destabilisieren: Erstens haben wir zu viel Finanzmarkt im Verhältnis zur realen Wirtschaftsleistung, und zweitens haben wir eine zu ungleiche Verteilung von Vermögen und ihrem Spiegelbild, den Schulden. Im Kern liegt die mangelnde Stabilität des gesamten Finanzsystems darin begründet, dass der realen Wertschöpfung, also der Produktion von Gütern und der Bereitstellung von Dienstleistungen, eine zu große Menge an Finanzprodukten, an Schuldpapieren, an Derivaten, an Finanztransaktionen überhaupt gegenübersteht. „Too much finance?“, fragten 2012 Experten des Internationalen Währungsfonds in einem Arbeitspapier.[6] Genau das ist der Punkt. Es gibt zu viel Finanzmarkt im Verhältnis zur realen Wirtschaft. Umso mehr kommt es darauf an, den Finanzmarkt stabiler, ökologischer, sozialer und integrer zu machen, denn nur dann wird er im Verhältnis zum Rest der Wirtschaft kleiner. Weil der Finanzmarkt schon heute relativ zu groß ist, halte ich auch nichts davon, unser Rentensystem noch weiter in Richtung Kapitaldeckung umzubauen, denn das würde den Finanzmarkt noch weiter vergrößern und instabiler machen, mit möglicherweise dramatischen Folgen für unsere Absicherung im Alter.
Gut sehen kann man die Fehlentwicklung zwischen Realwirtschaft und Finanzmarkt an den Aktienrückkäufen der Unternehmen. Normalerweise nehmen Unternehmen Geld am Kapitalmarkt auf, um ihre Investitionen zu finanzieren. Die Ökonomen Robert Ayres und Michael Olenick sind in einer Studie jedoch auf eine andere Realität gestoßen: So hatten zwischen 2010 und 2015 amerikanische Unternehmen mehr Geld für Dividenden und Aktienrückkäufe ausgegeben, als netto verdient wurde. Im Jahr 2018 gaben die 3 000 größten US-Unternehmen über eine Billion Dollar aus, um eigene Aktien zurückzukaufen. Allein Apple nahm von 2014 bis 2018 ziemlich genau jede fünfte Aktie vom Markt – Kostenpunkt 2018: 70 Mrd. Dollar.[7] Wozu das gut sein soll? Einmal steigt so der Aktienkurs. Gleichzeitig sinkt das Eigenkapital der Firmen. Das erhöht den Profit pro Aktie.
Und während früher der Rückkauf eigener Aktien überwiegend aus Gewinnen erfolgte, nutzen die Unternehmen heutzutage verstärkt Kredite. Somit wird das haftende Eigenkapital reduziert, die Schulden wachsen an. Dieses Vorgehen jedoch verringert die Haftungsbasis der Unternehmen und erhöht die Krisenanfälligkeit. Und diese Verschlechterung der Finanzierungsstruktur könnte sich zeitverzögert rächen. Im schlimmsten Fall durch einen Crash. Wie schnell es bei einzelnen Unternehmen angesichts dünner Kapitaldecke eng werden kann, zeigt auf dramatische Weise die Coronakrise.
Der Schuldenstand der amerikanischen Unternehmen beträgt heute insgesamt 9,1 Billionen Dollar. 2007 waren es „nur“ 4,9 Billionen. Gleichzeitig ist die gesamte Wirtschaftsleistung der USA nur von 14,5 auf 21,4 Billionen Dollar angestiegen.[8] Der Unternehmenssektor der USA ist also heute im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung weitaus stärker verschuldet als vor der Krise.
Die OECD berichtet Anfang 2020, dass nicht nur der globale Bestand der Unternehmensanleihen mit 13,5 Billionen Dollar ein Rekordvolumen hat, sondern seit 2008 doppelt so viele Anleihen emittiert wurden wie in den Jahren vor 2008. Vor allem aber warnt sie, dass die Qualität der Unternehmensanleihen deutlich gesunken sei. Damit sei die Gefahr von Zahlungsausfällen bei einer künftigen Rezession deutlich größer als bei früheren Abschwüngen.[9] Das ist die Lage, in der die Wirtschaft vom Corona-Schock getroffen wurde.
Aber Schulden sind doch nicht immer etwas Schlechtes, werden manche vielleicht einwerfen. Und das stimmt. Dienen Schulden dazu, produktive unternehmerische Investitionen oder staatliche Infrastrukturen zu finanzieren, dann erhöhen sie die Wirtschaftsleistung oft dauerhaft. Damit wächst auch die Fähigkeit, die Schulden zurückzuzahlen. Werden Schulden allerdings gemacht, um bestehende Vermögensgegenstände wie Aktien, schon gebaute Immobilien oder Gold zu kaufen, steigt lediglich die Instabilität des Gesamtsystems. Die rein quantitative Betrachtung der absoluten Höhe von Schulden kann also in die Irre führen. Deswegen ist es so wichtig, sie immer ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung zu setzen. Denn natürlich kann ein Land mit starker Wirtschaftsleistung mehr Schulden bedienen als ein Land mit schwacher Wirtschaftsleistung. Doch auch an diesem Punkt ist keine Entwarnung zu verzeichnen. Weltweit sind auch seit 2008 die Schulden schneller angestiegen als die Wirtschaftsleistung. Die globale Schuldenquote hat 2019 mit 322 Prozent einen neuen Rekord erreicht.[10] Der Wert der privaten und öffentlichen Schulden beträgt also inzwischen deutlich mehr als das Dreifache der jährlichen Wirtschaftsleistung. Dieser Trend ist nicht nachhaltig.
Die ungleiche Verteilung von Vermögen und Schulden
Die zweite zentrale Ursache für die mangelnde Stabilität unseres Weltfinanzsystems ist zwar eigentlich gut erforscht, spielt aber in der öffentlichen Diskussion häufig eine zu geringe Rolle: die ungleiche Verteilung von Vermögen und ihrem Spiegelbild, den Schulden. Nicht nur ist der heutige Finanzmarkt eine Umverteilungsmaschine von unten nach oben und trägt zu einer krassen Konzentration des Vermögens bei wenigen bei. Umgekehrt bläht die starke Konzentration von Vermögen bei wenigen auch den Finanzmarkt auf und macht ihn instabil. Im Extremfall, in dem nur noch eine Handvoll Milliardäre ganz viel Geldvermögen hätte und die Masse der Menschen mit ihrem Geld nicht das Monatsende erreicht, droht der Kollaps. Denn die Schulden der ärmeren Bevölkerung sind dann keine werthaltige Geldanlage mehr, egal wie elegant man sie in Finanzprodukte verpackt. Genau das geschah 2007 bei den US-Subprime-Krediten. Denn die Finanzkrise begann ja, als die amerikanischen Immobilienkäufer ihre Kredite nicht mehr zurückzahlen konnten.
Zugespitzt formuliert: Der immense Reichtum, der sich ganz oben ballt, ist zum volkswirtschaftlichen Problem geworden. Es geht hier nicht um Gerechtigkeit oder darum, ob diese Leute ihr Geld fair verdient haben. Es ist einfach so, dass diese Geldmassen, die nach Anlagemöglichkeiten suchen, das ganze System ins Schwanken bringen. Würden dagegen die Vermögenden ihr Geld ausgeben oder an diejenigen verteilen, bei denen am Ende vom Geld noch Monat übrig ist, dann müssten die Unternehmen mehr produzieren und deshalb zusätzlich investieren. Würden die Vermögenden mehr Steuern zahlen, so dass die Staaten mehr in die Infrastruktur investieren könnten, gäbe es ebenfalls mehr reale Nachfrage und eine größere Wirtschaftsleistung. In den vergangenen Jahren jedoch hatten wir eine Situation, in der jede Menge Leute, die gerne genauso viel wie bisher konsumiert hätten, das gar nicht mehr konnten. Denn sie haben real weniger verdient oder ihnen ist von ihrem Verdienst nach Abzug der steigenden Miete real weniger übriggeblieben. Zusätzlich haben viele Staaten nach Übernahme der Bankschulden in der Finanzkrise ihre Investitionen wie auch viele andere Ausgaben stark zurückgefahren. Das alles zusammen erzeugt die anormale Finanzmarktsituation, in der wir uns befinden.
Akademiker sind oft ein Leben lang verschuldet
Schaut man sich die Schulden der Amerikaner heute an, dann fragt man sich, ob Konsumkredite für eine neue Krise das sein könnten, was die Hypotheken für 2008 waren. Allein 2018 nahmen die Amerikaner 584 Mrd. Dollar an Autokrediten auf. Schon vor der Coronakrise waren über 7 Mio. amerikanische Autobesitzer mehr als drei Monate in Zahlungsverzug mit ihren Kreditraten. Seit 2015 ist der Anteil von Autokrediten mit Zahlungsverzug ständig gestiegen. Bei vielen wachsen die Schulden sogar mit jedem neuen Auto an. Denn wer den alten, noch nicht abgestotterten Wagen in Zahlung gibt und dafür etwas Neues anschafft, dem wird der Restkredit einfach auf das neue Darlehen draufgeschlagen. In etwa einem Drittel aller Fälle führt das dazu, dass der Kredit, der zurückgezahlt werden muss, inzwischen höher ist als der Wert des Autos. Wer in dieser Situation in Not gerät, bei dem reicht es nicht mal mehr aus, das Auto zu verkaufen, um von den Schulden runterzukommen.[11] Diese Summe aus Krediten wird dann zum systemrelevanten Problem, wenn wie bei der Subprimekrise im Immobilienmarkt auf einmal viele ihre Kredite nicht mehr bedienen können. Ein Problem in der Realwirtschaft kann so leicht auf den Finanzmarkt übergreifen. Etwa weil eine Bank, die dann wieder mit allen anderen Banken vernetzt ist, zu viele faule Kredite vergeben hat. Oder weil die Kredite zu Wertpapieren verbrieft wurden und längst in den Portfolios der Anleger stecken. Angesichts der hohen Zahlungsausfälle müssten diese Papiere hohe Risikoaufschläge haben, also deutlich besser verzinst werden als sehr sichere Staatspapiere. Das ist aber nicht der Fall.[12] Weil so viel Geld nach Anlagemöglichkeiten sucht, werden die Risiken nicht angemessen bepreist. Das weckt böse Erinnerungen an die geringen Risikoaufschläge für Wertpapiere auf Subprime-Kredite oder auch auf griechische Staatsanleihen.
Alarmierend sind auch die von den Amerikanern angehäuften Studienkredite. In den vergangenen 25 Jahren sind die Studiengebühren inflationsbereinigt um durchschnittlich 85 Prozent gestiegen. 1,6 Billionen Dollar schulden die Studierenden dem Staat. Für viele Akademiker bedeutet dies, dass sie ihr Leben lang verschuldet sind. Nur jeder vierte Schuldner bedient mehr als die Zinsen. Schon vor Corona waren 20 Prozent mit ihren Zahlungen im Rückstand. Bei insgesamt 43 Prozent der ausstehenden Kredite sah es mit einer Rückzahlung schlecht aus.[13] Für Hypotheken und Studienschulden beim Staat hat der US-Kongress wegen der Coronakrise den Schuldnern erlaubt, die Zahlungen auszusetzen, manche privaten Finanzdienstleister stunden von sich aus die Raten, um Insolvenzen zu verhindern.[14] Aber eine dauerhafte Lösung des Problems ist das natürlich nicht.
Die nächste Finanzkrise kommt bestimmt
Eine Finanzkrise kann auch auf einem Feld auftauchen, das noch niemand auf dem Radar hat. Durch ein unerwartetes Ereignis, das die Finanzmärkte aus den Angeln hebt. Einen sogenannten schwarzen Schwan, wie der Autor und ehemalige Börsianer Nassim Nicholas Taleb diese sehr seltenen und höchst unwahrscheinlichen Ereignisse nennt, die aber drastische Konsequenzen haben.[15] Eine Pandemie, die Tourismus, Welthandel, ja das gesamte gesellschaftliche Leben für Monate zum Erliegen bringt, ist für manche ein solcher „schwarzer Schwan“. Das stimmt allerdings nicht wirklich. Wissenschaftler haben seit Jahren vor den Möglichkeiten einer Pandemie gewarnt. Auch das Szenario, dass ein Virus von einer Tierart auf den Menschen überspringt, ist dabei sehr deutlich genannt worden. SARS war ein Beispiel, aus dem man hätte lernen können. Außerdem hätten die Staaten bei guter Vorbereitung mit klaren und eingeübten Notfallplänen vermeiden können, dass der gesellschaftliche Lockdown nötig wird und das Virus so dramatische wirtschaftliche Folgen hat. Trotzdem ist natürlich der genaue Zeitpunkt und Verlauf einer solchen Pandemie ungewiss. Es gibt im Finanzwesen nur eine Möglichkeit, sich auf schwarze Schwäne vorzubereiten: Das System muss so stabil sein, dass möglichst viele Verluste von den einzelnen Banken und Fonds abgepuffert werden können und dass die Märkte auch bei stärkeren Verwerfungen funktionstüchtig bleiben. Dann muss aus einem externen Schock wie Corona keine lange, schwere Weltfinanzkrise werden. Doch genau das ist derzeit leider nicht der Fall. Das Virus trifft heute auf ein hoch instabiles Finanzsystem wie eine Kugel auf ein Kartenhaus. Momentan beruhigen sich alle damit, dass der Impfstoff uns alle alsbald retten könnte. Bezogen auf das Finanzsystem ist das jedoch nur die nächste Illusion. Denn ohne fundamentale Änderungen steht hier nur eines fest: Die nächste Finanzkrise kommt bestimmt.
Der Beitrag basiert auf dem neuen Buch des Autors, „Die Bank gewinnt immer. Wie der Finanzmarkt die Gesellschaft vergiftet“, das vor Kurzem im Campus Verlag erschienen ist.
[1] Nick Dunbar, How JP Morgan broke the repo market, www.riskyfinance.com, 17.12.2019.
[2] Herbert Fromme, Lieber nicht haften, in: „Süddeutsche Zeitung“ (SZ), 20.3.2019.
[3] Kosten der Bankenrettung: Wir sorgen für Transparenz, www.gerhardschick.net, 13.9.2018.
[4] Patrick Jenkins und Ian Bott, What happened to the „too big to fail“ banks?, www.ft.com, 24.8.2017.
[5] Meike Schreiber und Jan Willmroth, Wie gefährlich ist die Deutsche Bank?, in: SZ, 27.4.2018.
[6] Jean-Louis Arcand, Enrico Berkes und Ugo Panizza, Too Much Finance?, in: „IMF Working Paper“, www.imf.org, 2012.
[7] Hartmut Walz, Einfach genial entscheiden im Falle einer Finanzkrise, Freiburg 2020, S. 94.
[8] Lukas Zdrzalek und Christian Kirchner, „Das könnte die größte Blase der Welt sein“, in: „Capital“, 2/2019.
[9] S. Çelik, G. Demirtas¸ und M. Isaksson, Corporate Bond Market Trends, Emerging Risks and Monetary Policy, OECD Capital Market Series, www.oecd.org, Paris 2020.
[10] Emre Tiftik u.a., Global Debt Monitor – Sustainability Matters, Institute Of International Finance, www.iif.com, 13.1.2020.
[11] Claus Hulverscheidt, Auf Crashkurs, in: SZ, 24.1.2020.
[12] Robert Armstrong, Yield-crazed investors pile into US subprime car loans, www.ft.com, 25.11.2019.
[13] Ines Zöttl, Sanders’ Billionen-Plan für Amerikas Schuldenstudenten, www.spiegel.de, 4.7.2019.
[14] Ines Zöttl, Ohne Airbag in den Crash, www.spiegel.de, 4.5.2020.
[15] Nassim Nicholas Taleb, Der Schwarze Schwan: Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse, Hamburg 2007.