
Bild: IMAGO / Christian Ohde
Seit dem 24. Februar tobt in der Ukraine ein brutaler Angriffskrieg. Doch während dort Bomben fallen und Raketen einschlagen, ganze Städte von den russischen Aggressoren dem Erdboden gleichgemacht und Zivilist*innen ermordet werden, während täglich ukrainische Soldat*innen und russische Soldaten sterben, geht das Leben in Russland auch fünf Monate nach Kriegsbeginn weitgehend weiter wie zuvor. Zwar ist der Krieg als „militärische Spezialoperation“ in der Propaganda der staatlich kontrollierten Medien allgegenwärtig. Im Alltagsleben spielt er jedoch kaum eine Rolle. Selbst das notorische „Z“ im Orange und Schwarz des nationalpatriotisch konnotierten Georgbands, das anfänglich an vielen Hauswänden oder auf Autos zu sehen war und Unterstützung für den Krieg signalisieren sollte, ist inzwischen wieder fast völlig aus dem Straßenbild verschwunden. Das Leben läuft weiter wie zuvor, die Restaurants und Sommerterrassen der Cafés sind gut gefüllt. Man tut, als gäbe es das Morden und Sterben in der Ukraine nicht – eine gigantische Verdrängungsleistung.
Die politische Führung unternimmt viel, um die kognitive Dissonanz, die diese Verdrängung ermöglicht, zu unterstützen. Dabei kommt ihr zugute, dass die Auswirkungen der vorwiegend westlichen Sanktionen gegen Russland im Alltag bisher kaum zu spüren sind. Zwar ist der Import nach Russland im März und Juni stark zurückgegangen und haben einige bekannte westliche Marken wie Ikea, McDonald‘s oder H&M das Land verlassen. An den Fassaden der großen Moskauer Einkaufzentren klaffen nun Lücken, wo vorher deren Logos und Schriftzüge prangten. Aber am Warenangebot der meisten Geschäfte hat sich wenig geändert, denn die Lager sind noch nicht leer.[1]
Bei all dem helfen auch die hohen Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport. Denn die stark gestiegenen Weltmarktpreise gleichen die gesunkenen Exportmengen bislang mehr als aus. Der Zentralbank ist es zudem gelungen, den Rubel, der in den ersten Kriegswochen rund 50 Prozent seines Wertes verloren hatte, durch eine schnelle Steigerung der Refinanzierungsrate von zuvor 4 auf jetzt 20 Prozent zu stabilisieren. Im Juni lag der Rubelkurs gegenüber US-Dollar und Euro dann sogar um rund 50 Prozent über dem Vorkriegskurs, so hoch wie seit Jahren nicht. Präsident Wladimir Putin nutzte dies, um ein „Scheitern“ der Sanktionen zu verkünden.[2] Doch der an der Moskauer Börse extrem starke Rubel ist wohl vor allem eine Folge des scharfen Importeinbruchs. In Russland fehlt schlicht die Nachfrage nach Dollar und Euro. Entsprechend ist dieser Kurs eher ein Zeichen für die Wirksamkeit der Sanktionen denn für ihr Scheitern.
Wirtschaftsexpert*innen wie Natalia Subarewitsch von der Moskauer Staatsuniversität erwarten, dass die Folgen der Sanktionen für die Bevölkerung erst gegen Ende des Sommers oder im Frühherbst bemerkbar sein werden.[3] Sie würden aller Voraussicht nach vor allem die Industrie treffen und erst mit Verzögerung sowie nur mittelbar die Bevölkerung. Russland hat sich in den vergangenen 30 Jahren so intensiv in die globale Wirtschaft integriert wie kaum ein anderes Land. Viele grundlegende Komponenten für die Industrieproduktion werden nicht in ausreichender Menge oder gar nicht hergestellt und werden importiert. Zwar hat die Regierung eine nationale Anstrengung zur „Importsubstitution“ angekündigt. Doch ob diese schnell und in einigen Fällen überhaupt möglich sein wird, ist laut Subarewitsch keineswegs sicher. Besonders starke Auswirkungen werden für die Luftfahrt, die Automobilindustrie, aber auch die Öl- und Gasförderung erwartet. Die russische Wirtschaft werde unter den Sanktionen zwar nicht zusammenbrechen, so Subarewitsch, aber das Land und seine Menschen dürften in den kommenden Jahren erheblich ärmer werden.
Ob und wie sich das langfristig auf die Zustimmung zu Putin und zum Krieg auswirken wird, wagt momentan kaum jemand vorherzusagen. Bisher scheint die Unterstützung in der russischen Bevölkerung Umfragen zufolge weiter hoch zu sein. Kremlnahe Institute, aber auch das renommierte Lewada-Zentrum sehen sie bei 80 Prozent und mehr. Der Mitgründer und wissenschaftliche Leiter des Lewada-Zentrums, Lew Gudkow, unterscheidet bisher drei Phasen der gesellschaftlichen Reaktion:[4] Zu Beginn des Krieges habe es eine „unzureichende Konsolidierung“ aufgrund einer in der Gesellschaft vorherrschenden großen Angst vor einem Krieg gegeben. Im März und April sei die Unterstützung für den Krieg am größten gewesen. Im Mai schließlich habe eine Phase der „Gewöhnung“ eingesetzt. Das Interesse an Nachrichten über den Krieg sei gesunken. Das gelte vor allem für junge Menschen und Kriegsgegner*innen. Gleichzeitig sei die Besorgnis über die Folgen des Kriegs, die Zahl der Opfer speziell auf russischer Seite und darüber, dass der Krieg lange dauern könne, leicht gestiegen. Über die Zahl der in der Ukraine getöteten Soldaten gibt es keine verlässlichen Angaben. Die russische Regierung spricht von etwa 3000, die Ukraine von über 30 000. Nachprüfen lässt sich beides kaum. Medien berichten von Soldatenbegräbnissen meist nur auf regionaler oder kommunaler Ebene. Ausnahmen sind posthume Auszeichnungen, auch durch Putin. Die meisten toten Soldaten kommen aus ärmeren Regionen, in denen die Armee einer der wenigen stabilen Arbeitgeber mit Aufstiegsmöglichkeiten ist. Widerstand gegen den sinnlosen Tod der jungen Männer gibt es kaum, auch keine Initiativen ähnlich der Soldatenmütter aus dem Afghanistan- und Tschetschenienkrieg.[5]
Angst vor politischer Repression
Noch in den ersten zwei Kriegswochen war es in Russland dagegen in einem Umfang zu öffentlichen Protesten gekommen, mit dem kaum jemand gerechnet hatte. In zahlreichen offenen Briefen sprachen sich Journalist*innen, Wissenschaftler*innen und Lehrer*innen gegen den Krieg aus, obwohl klar war, dass sie sich damit Probleme einhandeln würden. Der unerwartet laute Protest zeugte zudem davon, dass auch in Russland die meisten Menschen nicht mit einem russischen Angriffskrieg gerechnet hatten. Nicht nur das Ausland, auch Teile Russlands standen unter Schock.
Die Reaktion des Staates auf die Proteste ließ jedoch nicht lange auf sich warten: Nach Zählung der Menschenrechtsorganisation OWD-Info wurden binnen zwei Wochen über 12 000 Menschen bei Demonstrationen gegen den Krieg festgenommen, seither weitere 4000. Die meisten von ihnen wurden wegen „Verletzung der Versammlungsgesetze“ zu Geldstrafen oder bis zu 30 Tagen sogenannter Administrativhaft verurteilt.[6] Im Schnellverfahren verabschiedete das Parlament Anfang März Gesetze, die die Verbreitung von „Fake News“ über die russische Armee und die „Diskreditierung der russischen Armee“ unter Strafe stellen. Als „Fake News“ gilt alles, was nicht den offiziellen Verlautbarungen des russischen Verteidigungsministeriums entspricht. Bis Anfang Juli zählte OWD-Info bereits über 900 Verfahren auf Grundlage dieser neuen Gesetze. In den meisten Fällen wurden die Beschuldigten dabei zu Geldstrafen verurteilt, in 170 Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet.[7] So wurde am 8. Juli der Moskauer Kommunalabgeordnete Alexej Gorinow zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil er sich im März während einer Sitzung des Kommunalparlaments gegen den Krieg ausgesprochen hatte. Seine Kollegin Jelena Kostenotschkina konnte vor ihrer geplanten Verhaftung rechtzeitig das Land verlassen.[8] Etwa 20 weitere Menschen sitzen derzeit in Untersuchungshaft. Diese Abschreckung wirkt – größere Straßenproteste gibt es schon seit Mitte März nicht mehr.
Aus Angst vor politischen Repressionen verließen in den ersten Wochen des Kriegs nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 250 000 und 300 000 Kriegsgegner*innen das Land, darunter zahlreiche Journalist*innen und politische Aktivist*innen. Die russische Regierung behauptet zwar, der Großteil dieser Menschen sei inzwischen wieder zurückgekehrt, aber nachprüfen lässt sich weder die Zahl der Ausreisen noch die der Rückkehrer*innen.
Während jene, die das Land verließen, sich im Ausland ein realistisches Bild der Kriegshandlungen verschaffen können, sind die allermeisten Russ*innen nunmehr ununterbrochen der staatlichen Propaganda vor allem über die landesweiten Fernseh- und Rundfunksender ausgesetzt.
Verlust der unabhängigen Medien
Denn die wenigen in Russland verbliebenen unabhängigen Medien wurden mit Kriegsbeginn geschlossen. Zu ihnen zählen der Internetfernsehsender „TV-Rain“, der zwar zu Gasprom gehörende, aber offen berichtende populäre Radiosender „Echo Moskaus“ und die „Nowaja Gaseta“, deren Chefredakteur Dmitrij Muratow im vergangenen Jahr den Friedensnobelpreis erhalten hatte. Auch eine Reihe von sozialen Netzwerken, darunter Facebook und Twitter, wurden verboten und der Zugang zu ihnen gesperrt. Der Chat-Dienst Telegram kann zwar weiterhin genutzt werden, aber auch dort sind staatsnahe Nachrichtenkanäle inzwischen in der Überzahl. Seither sind unabhängige Informationen fast nur noch über VPN-Netzwerke erreichbar.
Zum Effekt der Zensur hinzu kommt das berühmte „Putin-Rating“. Auf die Frage, ob sie die Arbeit von Präsident Putin gutheißen, antworteten laut dem russischen Soziologen Alexej Lewinson vom Lewada-Zentrum im langjährigen Mittel etwa zwei Drittel der Befragten positiv. Nach den Kriegen gegen Georgien 2008 und dem Beginn des Kriegs gegen die Ukraine mit der Annexion der Krim und der Besetzung von Teilen des Donbas‘ 2014 sei diese Zustimmung auf über 80 Prozent gestiegen, um dann sukzessive wieder auf etwa 60 Prozent zu sinken. Das werde voraussichtlich auch diesmal nicht anders sein, schätzt Lewinson.[9]
Die Zustimmungsrate zu Putin und seinem Krieg hänge stark von den bevorzugten Informationsquellen der Befragten ab. Wer sich vorwiegend aus dem Internet informiere, sei doppelt so kritisch wie diejenigen, die auf traditionelle Medien und vor allem das Fernsehen zurückgriffen. Auch das Alter der Befragten spiele eine Rolle. Ältere Menschen seien doppelt so oft wie Jüngere der Meinung, die „Ukraine sei nicht selbstständig, sondern von der Nato/dem Westen angestiftet“. Umgekehrt bezeichneten Jüngere sechsmal häufiger als Ältere Russland als einen „Aggressor“, der internationales Recht verletze. Drei Viertel der Befragten seien der Meinung, Russland werde in diesem Krieg einen „Sieg“ davontragen. Eine Niederlage sei für viele Menschen in Russland schlicht „undenkbar“. Das gelte auch für die russischen Kriegsverbrechen. Sie würden nicht geglaubt, als ukrainische oder westliche Propaganda abgetan und den Ukrainer*innen zugeschrieben.
Russischer Fatalismus
All diese Feststellungen des Instituts, das angesichts der Zensur und Angst vor Strafverfolgung wegen verbotener Meinungsäußerungen vor besonderen Schwierigkeiten steht, decken sich mit den zahlreichen Gesprächen, die ich in den vergangenen Monaten in Russland geführt habe: mit Befürworter*innen und Gegner*innen des Kriegs, politischen und zivilgesellschaftlichen Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Expert*innen in internationaler Politik, aber auch Menschen ohne direkten Bezug zur Politik.
Vor allem in privaten Unterhaltungen tun sich oft unüberwindbare Gräben auf. Es scheint, als ob Befürworter*innen und Gegner*innen in zwei parallelen, sich nirgendwo berührenden Welten leben. Die einen glauben Putins Erzählung von dem Russland bedrohenden Westen, sind überzeugt, „Faschisten“ hätten die Ukraine gekapert und behaupten, die Verbrechen in Butscha, Isjum oder Mariupol hätten die Ukrainer*innen selbst begangen. Die anderen fassen sich ungläubig und hilflos, ja verzweifelt an den Kopf. Für viele Menschen aus beiden Gruppen hat der Krieg inzwischen existenzielle Dimensionen angenommen – sie sehen sich allerdings vorwiegend selbst als Opfer. Selbst viele Kriegsgegner*innen beklagen vor allem die eigene Misere, anstatt Empathie mit der Ukraine zu zeigen.
Sowohl die Umfragen des Lewada-Zentrums als auch meine Beobachtungen deuten darauf hin, dass weder die Unterstützung Putins noch die Gegnerschaft zum Krieg besonders stark verankert sind. Den meisten Menschen ist eher ein Fatalismus eigen, der jegliche Möglichkeit auf politische Beteiligung und Einwirkung negiert, analysiert auch der Moskauer Soziologe Gregorij Judin.[10] Damit weist ein Großteil der Bevölkerung auch alle Verantwortung für den Krieg von sich, denn nicht sie, sondern „die da oben“ hätten das alles entschieden. Judin führt dieses Verhalten auf die systematische Entpolitisierung und Entmündigung der russischen Gesellschaft in den inzwischen über 22 Jahren von Putins Herrschaft zurück, die allerdings auf sowjetische Residuen zurückgreifen kann. Mit einer starken Opposition im Innern, die das politische System Russlands ins Wanken bringen könnte, ist angesichts dessen in naher und wohl auch ferner Zukunft nicht zu rechnen.
[1] Vgl. dazu Janis Kluge, Russia’s Economy under Sanctions: Early Impact and Long Term Outlook, in: „Russian Analytical Digest“, www.css.ethz.ch, 30.6.2022.
[2] Vgl. Putin: Sanktionen des Westens sind gescheitert, www.zdf.de, 17.6.2022.
[3] Vgl. Natalja Subarewitsch im Programm „Osoboje Mnenije“ im Podcast von Echo Moskwy: Живой Гвоздь: Наталья Зубаревич. Особое мнение, www.ru.player.fm, 8.7.2022.
[4] Vgl. Lew Gudkow, Три фазы адаптации. Война с Украиной в российском общественном мнении, www.re-russia.org, 4.7.2022.
[5] Vgl. Кто гибнет на войне с Украиной. Иссле-дование „Медиазоны“, in: www.zona.media, 25.4.2022.
[6] Vgl. www.ovdinfo.org.
[7] „Knowingly false.“ It has been three months since the law on „fakes“ about the Russian army came into force. How and against whom is it used?, www.ovdinfo.org, 29.6.2022.
[8] Vgl. Мундепа Алексея Горинова приговорили к семи годам колонии по делу о „фейках“ про российскую армию, www.ovd.news, 8.7.2022.
[9] Alexey Levinson, „Why continuing polling in Russia?“, www.ridl.io, 21.6.2022.
[10] So Grigorij Judin auf einer Diskussionsveranstaltung in Berlin am 5.7.2022, www.youtube.com/watch?v=DgkxuoH0I4k.