
Bild: Gustavo Petro und Francia Márquez, 25.3.2022 (IMAGO/Sebastian Barros)
Es ist eine historische Zeitenwende in einem der konservativsten Länder Lateinamerikas: Mit der Wahl Gustavo Petros vom Parteienbündnis Pácto Histórico zum neuen Präsidenten Kolumbiens übernimmt im August erstmals ein Linker die Macht in dem von extremer Ungleichheit und Gewalt geprägten Land; mit der prominenten Umweltaktivistin und Bürgerrechtlerin Francia Márquez bekommt Kolumbien zudem die erste afrokolumbianische Vizepräsidentin. Das Kandidatenduo setzte sich nach einem extrem knappen Rennen in der Stichwahl mit 50,5 zu 47,3 Prozent der Stimmen gegen den Herausforderer Rodolfo Hernández durch, einen millionenschweren Bauunternehmer und Regionalpolitiker, der es mit einer populistischen Anti-Korruptionskampagne und ohne große Partei im Rücken im ersten Wahlgang überraschend auf den zweiten Platz geschafft hatte. Damit rückt Südamerika weiter nach links, im Oktober könnte Brasilien folgen.[1]
Für Kolumbien kommt das Wahlergebnis einem politischen Erdbeben gleich: Erstmals in der Geschichte des Landes stellt die etablierte politische Elite nicht mehr den Präsidenten. Über Generationen hatten sich Liberale und Konservative die Macht untereinander aufgeteilt. Seit Beginn des Jahrtausends dominierte der rechtskonservative Uribismo, benannt nach dem früheren und immer noch mächtigen Präsidenten Álvaro Uribe (2002-2010), die Politik des mit 51 Millionen Einwohnern drittbevölkerungsreichsten Landes Lateinamerikas. Diese Rechte wurde bereits im ersten Wahlgang abgewählt: Ihr Kandidat vom Bündnis Equipo por Colombia, Federico Gutiérrez, kam mit 24 Prozent der Stimmen nur auf den dritten Platz. Die Partei Centro Democrático des amtierenden Präsidenten und Uribe-Zöglings Iván Duque, der selbst laut Verfassung nicht noch einmal antreten durfte, hatte gar nicht erst einen eigenen Kandidaten aufgestellt. Zu zerstritten und in Korruptionsskandale verstrickt ist die Partei und zu desaströs die Regierungsbilanz Duques, der mit nur noch 20 Prozent Zustimmung als der unbeliebteste Präsident in der Geschichte des Landes gilt. Und auch der Kandidat des politischen Zentrums, Sergio Fajardo von der Coalición Centro Esperanza, landete im ersten Wahlgang mit nur vier Prozent der Stimmen weit abgeschlagen auf dem vierten Platz.
Damit spiegelt die Wahl vor allem eines wider: die weit verbreitete Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen im Land und insbesondere mit der alten politischen Elite, die von einem Großteil der Bevölkerung als abgehoben und korrupt wahrgenommen wird.
Für Unmut sorgt zum einen die schleppende Umsetzung des 2016 zwischen der Regierung des damaligen Präsidenten Juan Manuel Santos und der linksgerichteten Guerilla Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) ausgehandelten Friedensabkommens, das den jahrzehntelangen blutigen Bürgerkrieg im Land beenden sollte. Zwar hat das Gros der FARC-Rebellen ihre Waffen niedergelegt, eine Wahrheitskommission und eine Sonderjustiz kümmern sich um die Aufarbeitung der im Bürgerkrieg begangenen Verbrechen und die ehemalige Guerilla vertritt ihre Ziele nun über die Partei Comunes. Doch die Gewalt nimmt trotzdem vielerorts wieder zu. Vor allem in jenen ehemals von der FARC kontrollierten Regionen hat der Staat keine Präsenz aufgebaut. Stattdessen kämpfen dort heute rechte Paramilitärs, kriminelle, mit dem Drogenhandel verbundene Banden, aber auch die kleinere ELN-Guerilla und wiederbewaffnete FARC-Kämpfer*innen um die Vorherrschaft. Dabei geht es vor allem um Gebiete, die für den Kokaanbau, für Drogen- und Waffenschmuggel, für Bergbau oder Viehzucht von strategischer Bedeutung sind. Soziale und indigene Aktivist*innen, Umweltschützer*innen und Menschenrechtler*innen, die sich dem illegalen Treiben der bewaffneten Akteure und den dahinter stehenden Wirtschaftsinteressen in den Weg stellen, bezahlen dies immer wieder mit ihrem Leben: Weit über Tausend von ihnen sind seit dem Friedensschluss getötet worden, dazu Hunderte ehemalige FARC-Kämpfer*innen. Und auch Massaker und Vertreibungen nehmen wieder zu.
Die Regierung des Amtsinhabers Duque hat dieser Gewalt nichts entgegengesetzt und stattdessen die Umsetzung des Friedensabkommens bewusst sabotiert und verzögert, etwa indem sie die Budgets für die Wahrheitskommission und die Sondergerichtsbarkeit kürzte. Noch gravierender aber ist, dass die Ursachen des Bürgerkriegs nicht angegangen wurden. Die im Friedensvertrag vereinbarte Landreform, die die extrem ungleiche Verteilung des Landes – ein Prozent der Bevölkerung besitzt 80 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche – lindern sollte, ist ausgeblieben. Und auch die versprochenen Subventionen, die Bauern dabei helfen sollten, vom Kokaanbau auf legale Alternativen umzusteigen, kamen oft nur unzureichend oder gar nicht an – mit der Folge, dass das Geschäft der Drogenkartelle – eines zentralen Treibers der Gewalt – floriert: Kolumbien ist nach wie vor der größte Kokainproduzent der Welt.
Zum anderen ist es die enorme soziale Ungleichheit, die den Wunsch nach Wandel antreibt, und diese hat sich im Zuge der Pandemie noch einmal verschärft. In keinem anderen Land Lateinamerikas sind die Einkommen so ungleich verteilt wie in Kolumbien. Fast 40 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Vor allem der Jugend fehlt es an Perspektiven: Die Hälfte der unter 25jährigen gilt als arm, gut ein Drittel der knapp elf Millionen Jugendlichen im Land ist arbeitslos oder ohne Ausbildung. Aber auch die Mittelschicht macht sich angesichts der Inflation Sorgen um ihre Zukunft, während sich die kleine Oberschicht des Landes schonungslos bereichert – und dabei nicht selten gemeinsame Sache mit den rechten Paramilitärs und der Drogenmafia macht.
Eine Mehrheit der Kolumbianer*innen fühlte sich angesichts dessen schlicht nicht mehr repräsentiert von einer politischen Elite, die nur die Interessen ihrer eigenen Klientel im Blick hat und eine neoliberale Wirtschaftspolitik inklusive maximaler Ausbeutung der Bodenschätze und verheerender Umweltzerstörungen betreibt.[2]
Vor allem die junge Generation, aber auch Gewerkschaften, Rentner*innen und Indigene, tragen ihren Unmut darüber seit Jahren auf die Straße. Als die Regierung Duque Ende April 2021 eine Steuerreform umsetzen wollte, die die Kosten für die pandemiebedingten Wirtschaftshilfen auf die breite Masse der Bevölkerung abgewälzt und die Reichen geschont hätte, entlud sich der angestaute Frust in den größten Protesten seit Jahrzehnten; Millionen Menschen forderten die Absetzung der Regierung. Es sind nicht zuletzt diese Proteste, die dem linken Kandidatenduo Petro/Márquez zu seinem historischen Erfolg verholfen haben.
»Wandel für das Leben«
In ihrem Programm versprechen die beiden einen grundlegenden politischen Kurswechsel, einen „Wandel für das Leben“. Sie wollen das Friedensabkommen mit der FARC vollständig umsetzen und Verhandlungen mit der kleineren ELN-Guerilla aufnehmen, umfassende Sozialprogramme aufsetzen, das weitgehend privatisierte Renten- und Gesundheitswesen wieder in staatliche Hände legen und mehr Geld in die öffentliche Bildung stecken. Auch eine Stärkung von Frauen und Minderheiten sieht das Programm an zentraler Stelle vor. Vor allem aber wollen Petro und Márquez eine Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell einleiten und den Umweltschutz forcieren. Hatte Iván Duque zu Beginn des Ukraine-Krieges noch vorgeschlagen, die Kohleförderung auszuweiten, um den weltweiten Bedarf zu decken,[3] wollen die beiden die Erschließung neuer Öl- und Gasvorkommen stoppen. Beides macht heute rund die Hälfte der Exporteinnahmen des Landes aus. Stattdessen setzen sie auf grüne Energie, die Entwicklung des ländlichen Raums und des Tourismus, um Ernährungssicherheit und wirtschaftliche Perspektiven für alle zu schaffen. Finanziert werden soll all das unter anderem durch eine Reichensteuer und eine stärkere Besteuerung von großen Unternehmen.
Dass es Petro und Márquez mit dieser Agenda bis an die Spitze geschafft haben, ist ein enormer Fortschritt für ein Land, in dem progressive Präsidentschaftskandidaten und Politiker*innen in der Vergangenheit immer wieder als Terroristen angeprangert und ermordet wurden. Allerdings musste auch Petro Wahlkampfveranstaltungen aufgrund von Morddrohungen absagen, öffentliche Kundgebungen der beiden fanden nur unter strengen Sicherheitsvorkehrungen und hinter gepanzerten Schutzschilden statt.
Und auch heute ist die wirtschaftliche und rechtskonservative Elite des Landes angesichts eines solchen Programms alarmiert, stellt es doch den neoliberalen Konsens der vorherigen Regierungen grundsätzlich infrage. Sie schürte im Wahlkampf massiv Ängste vor möglichen Enteignungen und einem „zweiten Venezuela“, sprich eines autoritär regierten und wirtschaftlich ruinierten Landes. Ihr Kandidat, Federico Gutiérrez, schlug sich nach seiner Niederlage im ersten Wahlgang flugs auf die Seite des zweitplatzierten Multimillionärs Hernández, von dem sich die Elite – zu Recht – einen deutlich wirtschaftsfreundlicheren Kurs versprach.
Dabei ist auch der 62jährige Ökonom Petro, der sich als Jugendlicher der Stadtguerilla M-19 angeschlossen hatte und nach deren Demobilisierung in die Politik ging, längst kein radikaler Revolutionär mehr. Jahrzehntelang arbeitete er als Abgeordneter in Kongress und Senat, zwischenzeitlich war er Bürgermeister der Hauptstadt Bogotá, 2018 schaffte er es erstmals in die Stichwahl um die Präsidentschaft. Heute gibt sich Petro gegenüber der Wirtschaft gemäßigt und hat sogar einige einflussreiche Vertreter des Mitte-rechts-Lagers in seine Kampagne eingebunden.
Für noch größeres Unbehagen bei den Eliten dürfte seine Vizekandidatin Francia Márquez sorgen. Sie repräsentiert jene Schichten, die seit jeher von der Politik im Land ausgeschlossen waren: die Millionen von armen, oft schwarzen oder indigenen Gemeinschaften angehörenden Kolumbianer*innen. Die heute 40jährige alleinerziehende Mutter stammt aus der im Südwesten des Landes gelegenen Konfliktregion Cauca; als Jugendliche begann sie sich dort gegen den illegalen Bergbau und für den Schutz der Umwelt einzusetzen. Später studierte sie Jura, verdiente zugleich ihren Lebensunterhalt als Hausangestellte. Für ihr Engagement als Umweltaktivistin wurde sie 2018 mit dem Goldman-Preis ausgezeichnet, es brachte ihr aber auch Morddrohungen ein. Sie musste fliehen, 2019 überlebte sie unverletzt ein Attentat. Ihre Kandidatur sprach vor allem Junge, Frauen, Afrokolumbianer*innen und Indigene an und ist ein klares Signal dafür, dass die von Klassismus, Rassismus und patriarchalen Verhältnissen geprägten Strukturen im Land langsam aufzubrechen beginnen.
Das knappe Wahlergebnis zeigt allerdings auch, wie gespalten die kolumbianische Gesellschaft sechs Jahre nach dem Friedensschluss noch immer ist. Viele, die sich Wandel wünschen, können sich dies noch längst nicht mit einem gemäßigten Ex-Guerillero und einer schwarzen Umweltschützerin aus der Unterschicht vorstellen.
Wandel mit Widerständen
Über zehn Millionen Wähler*innen votierten daher für den unabhängigen Baumogul und ehemaligen Bürgermeister der mittelgroßen Stadt Bucaramanga, Rodolfo Hernández, der sich ebenfalls als Kandidat des Wandels präsentierte. Hauptthema des ob seines populistischen Diskurses oft als „kolumbianischer Trump“ bezeichneten 77jährigen ist der Kampf gegen die Korruption. Im Wahlkampf stilisierte er sich konsequent als politischer Außenseiter und Antipolitiker, der die „Diebe aus der Regierung vertreiben“, den Staatshaushalt verschlanken und Armut bekämpfen will – freilich ohne die Wohlhabenden dafür in die Pflicht zu nehmen. Seinen rasanten Aufstieg verdankte er vor allem einer selbst-finanzierten und sehr erfolgreichen Social-Media-Kampagne. Gerade bei den Jungen kamen die simplen Botschaften des „TikTok-Opas“ gut an. Dass er selbst in einem Korruptionsprozess angeklagt ist, über kein ausgearbeitetes Programm verfügt, einmal Hitler als „großen Denker“ bezeichnete, mit dem autoritär regierenden Präsidenten El Salvadors, Nayib Bukele, liebäugelt und letztlich just von einem Gutteil jener Politiker*innen unterstützt wurde, von denen er sich abzugrenzen sucht, tat seinem Aufstieg keinen Abbruch. Aus dem Stand schaffte er es mit seiner eigens gegründeten Anti-Korruptionsliga fast bis in die Casa de Nariño, den Regierungspalast in der Hauptstadt Bogotá.
Wollen Petro und Márquez das Land versöhnen und den Frieden voranbringen, müssen sie auch dieses „andere Kolumbien“ mitnehmen. Vor allem aber werden sie sich auf massiven Gegenwind von rechts einstellen müssen, auf eine unerbittliche Blockadepolitik der konservativen Parlamentsfraktionen wie der Wirtschaftseliten; auch ein erneuter Anstieg der Gewalt ist keineswegs ausgeschlossen. Zudem ist Petro, dessen Parteienbündnis weder im Senat noch im Repräsentantenhaus über eine Mehrheit verfügt, für seine Reformvorhaben auf Kompromisse mit den Liberalen angewiesen. Das aber könnte ihn die Unterstützung von Teilen seiner Anhängerschaft kosten, die von Gewerkschaften über verschiedene soziale Bewegungen bis ins grüne und liberale Lager reicht. Also alles andere als leichte Voraussetzungen für den versprochenen Wandel. Die Situation ist vergleichbar mit der von Gabriel Boric in Chile: Auch er kam mit Unterstützung einer breiten Protestbewegung an die Macht, verfügt aber über keine eigene Mehrheit im Parlament. Das zeigt, vor welch immensen Herausforderungen die Linke in Lateinamerika steht. Sollte es Petro und Márquez gelingen, auch nur einen kleinen Teil ihrer ambitionierten Vorhaben umzusetzen, wäre für Kolumbien dennoch schon eine Menge gewonnen.
[1] Vgl. Ulrich Brand und Kristina Dietz, Chile, Kolumbien, Brasilien: Lateinamerika vor einer neuen Linkswende?, in: „Blätter“ 3/2022, S. 99-108.
[2] Vgl. Armin Paasch, Gefährliche Abhängigkeit: Der Krieg und die Rohstoffe, in: „Blätter“ 5/2022, S. 25-29.
[3] Was von der Bundesregierung prompt aufgenommen wurde, siehe: Fabian Grieger, Scholz-Plan „koloniale Ausbeutung“?, www.tagesschau.de, 25.5.2022.