Ausgabe Januar 2023

Für die Bewohnbarkeit des Planeten: Wie die ökologische Klasse entsteht

Fridays for Future in Berlin, 23.9.2022 (IMAGO / IPON)

Bild: Fridays for Future in Berlin, 23.9.2022 (IMAGO / IPON)

Am 9. Oktober 2022 starb im Alter von 75 Jahren Bruno Latour, der bedeutende Wissenschaftssoziologe und Vordenker einer Theorie der Nachhaltigkeit. In seinem letzten Buch „Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum“, das soeben im Suhrkamp Verlag erschienen ist, beschäftigt er sich gemeinsam mit seinem Kollegen Nikolaj Schultz mit der Frage nach dem handelnden Subjekt in der ökologischen Transformation. Dieser Beitrag ist ein bearbeiteter Auszug aus dem Buch. Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Bernd Schwibs. – D. Red.

Ökologische Anliegen – das Klima, die Energie, die Biodiversität – sind heute allgegenwärtig. Dennoch hat die Vielzahl an Konflikten nicht, jedenfalls noch nicht, zu einer allgemeinen Mobilisierung geführt, wie es in früheren Zeiten durch die vom Liberalismus und vom Sozialismus in Gang gebrachten Veränderungen der Fall war. In diesem Sinne ist die Ökologie heute überall und nirgends.

Angesichts des enormen Ausmaßes der laufenden Katastrophe und der allgemeinen Unzufriedenheit über das politische Angebot der traditionellen Parteien, die sich unter anderem in mannigfacher Wahlenthaltung niederschlägt, muss die Ökologie unbedingt in ihrem Zusammenhalt und ihrer Autonomie gestärkt werden. Das haben sich zwar bereits viele ökologische Bewegungen und sogar Parteien auf ihre Fahnen geschrieben. Doch noch sind sie weit davon entfernt, auf ihre Weise und mit ihren eigenen Begriffen die Fronten um sie herum zu bestimmen und so die Gesamtheit ihrer Verbündeten und Gegner in der politischen Landschaft auszumachen. Noch Jahrzehnte nach ihren Anfängen sind sie in den alten Gräben gefangen. Das schränkt die Suche nach Allianzen ein und beeinträchtigt ihren Handlungsspielraum. Will die politische Ökologie existieren, darf sie sich nicht durch andere definieren lassen. Sie muss aus sich heraus und für sich die neuen Quellen von Ungerechtigkeit aufdecken sowie die neuen Fronten ausmachen, an denen sie zu kämpfen hat. Weil sie getragen war von der Sorge um eine Natur, die von der Wissenschaft erkannt wurde und der sozialen Welt äußerlich war, hat sich die politische Ökologie zu lange auf eine pädagogische Version ihres Handelns verlassen: Da man weithin um die Katastrophensituation wusste, würde die Tat zwangsläufig folgen. Doch mittlerweile ist offenbar geworden, dass der Aufruf „Zum Schutz der Natur“ weder die sozialen Konflikte beendet hat noch die Aufmerksamkeit von ihnen ablenkt. Im Gegenteil: Er befeuert diese noch. Von den Gelbwesten in Frankreich über die Proteste der indischen Bauern bis hin zu den indigenen Bewegungen in Nordamerika, die sich gegen das Fracking wehren, oder die Debatten um die Frage, welche Auswirkungen Elektroautos haben – der Befund ist eindeutig: Die Konflikte nehmen zu. Von der Natur zu sprechen heißt also nicht, einen Friedensvertrag zu unterschreiben. Es heißt vielmehr anzuerkennen, dass eine Vielzahl von Auseinandersetzungen zu allen möglichen Themen des alltäglichen Daseins, auf allen Stufen und auf allen Kontinenten, besteht. Die Natur eint nicht, sie trennt. Aktuell ist es wohl gerade die enorme Vielfältigkeit der ökologischen Konflikte, die den Versuch einer stimmigen Definition dieser Kämpfe verhindert. Nun ist diese Diversität jedoch kein Manko, sondern ein Trumpf. Und zwar deshalb, weil die Ökologie umfassend die Lebensbedingungen untersucht, die durch das obsessive Beharren auf der Produktion zerstört wurden. Will die ökologische Bewegung jedoch an Konsistenz und Autonomie gewinnen und soll sich dies in einem geschichtsträchtigen Elan gleich dem in der Vergangenheit niederschlagen, dann muss sie ihr Projekt erkennen, es fassen, begreifen und wirksam darstellen und diese Konflikte zu einer für alle verständlichen Aktionseinheit zusammenschweißen.

Überall Konflikte und Gleichgültigkeit

Wenn es stimmt, dass die Ökologie sowohl überall als auch nirgends ist, dann trifft auch und nicht minder zu, dass es einerseits hinsichtlich aller möglichen Themen zu Konflikten kommen kann, während andererseits eine Art Gleichgültigkeit, ein Hang zur Aussöhnung, ein Abwarten und ein trügerischer Friede herrschen. Jede Veröffentlichung des Weltklimarats löst exaltierte Reaktionen aus, doch wie in der Oper versetzen die Kriegsgesänge „Marschieren wir, marschieren wir, bevor es zu spät ist!“ die Chöre auch nur um wenige Meter. „Alles muss sich radikal ändern“ – und nichts verändert sich.

Wenn es also dringend geboten ist, anzuerkennen, dass ein allgemeiner Kriegszustand herrscht, so muss doch auch eingestanden werden, dass eindeutige Frontlinien zwischen Freunden und Feinden gegenwärtig nur schwer zu ziehen sind. Bei einer ganzen Menge von Themen sind wir selbst gespalten, sind wir zugleich Opfer und Komplizen.

Unter welchen Bedingungen könnte die Ökologie aber die Politik um sich herum organisieren, statt nur eine Bewegung unter anderen zu sein? Darf sie tatsächlich hoffen, den politischen Horizont so zu definieren, wie es einst der Liberalismus, dann die Sozialismen sowie der Neoliberalismus taten, und wie es seit kurzem die illiberalen oder neofaschistischen Parteien tun, deren Aufstieg sich ungebremst fortsetzt? Kann sie von der Sozialgeschichte lernen, wie neue politische Bewegungen entstehen und wie diese den Kampf der Ideen gewinnen, noch bevor sie ihre Fortschritte in Parteistrukturen und Wahlergebnisse übersetzen können?

Während sich die Klassenkonflikte im vorigen Jahrhundert, wenn auch nur grob, nachzeichnen lassen, die es zum Beispiel ermöglichten, Parteien mit erkennbaren Ideologien zu wählen, ist das heute, solange der ökologische Kriegszustand nicht geklärt ist, ungeheuer schwer. Und wie kann man überhaupt von Klassenkonflikten sprechen, wenn noch nicht einmal die ökologische Klasse an sich klar definiert ist?

Was heißt heute Klasse?

Es ist stets ein wenig beängstigend, den Begriff der „Klasse“ wieder zu verwenden. Deshalb muss man der Versuchung widerstehen, den Ausdruck „Klassenkampf“ unverändert aufzugreifen, auch wenn man zugeben muss, dass er im vorigen Jahrhundert insofern sehr große Dienste leistete, als er die Mobilisierungsbemühungen erleichterte und einte. Der Vorteil dieses Begriffs lag darin, dass er die Grenzen der Struktur der sozialen und der materiellen Welt festzulegen erlaubte, indem er politische Dynamiken in der Begrifflichkeit sozialer Konflikte, der Herausbildung von Erfahrungen und kollektiver Horizonte vorantrieb. Seine Rolle innerhalb der sich vollziehenden Geschichte war klar deskriptiv und performativ. Er beanspruchte, die soziale Realität zu beschreiben und damit den Menschen zu ermöglichen, sich in der Landschaft, die sie bewohnten, zu positionieren. Gleichzeitig war er nie zu trennen von einem Projekt der gesellschaftlichen Transformation.

Von „Klasse“ zu sprechen heißt also immer, Schlachtordnung einzunehmen. Und davon zu sprechen, eine „ökologische Klasse“ entstehen zu lassen, bedeutet also unvermeidlich, zugleich eine neue Beschreibung und neue Handlungsperspektiven anzubieten. Will sie an Autonomie gewinnen, muss die Ökologie also bereit sein, dem Klassenbegriff eine neue Bedeutung zu verleihen. Richtet man sich an der Marxschen Tradition der „Klassenkämpfe“ aus, sind diese zutiefst an den Begriff und das Ideal der Produktion gebunden. Auch wenn es immer verführerisch ist, eine neue Situation in einen anerkannten Rahmen einzufügen, gebietet es die Vorsicht, nicht übereilt geltend zu machen, dass die ökologische Klasse einfach nur die „antikapitalistischen Kämpfe“ fortführt. Zahlreiche analytische Köpfe haben zwar den Klassenbegriff entsprechend den Formveränderungen des Gesellschaftsgefüges im 20. Jahrhundert überarbeitet, aber Marx bleibt doch für jeden, der sich auf dieses Gelände wagt, eine leitende Figur. Die „Klassentheorie“ bot den Menschen für eine ganz bestimmte historische Periode einen Kompass, an dem sie klar ablesen konnten, was ihre Subsistenz ermöglichte, wo ihr Ort in der sozialen Landschaft war und gegen wen sie kämpften.

In der modernen Bedeutung der Begriffe wurden „Klasse“, „Klasseninteresse“ und „Klassenkampf“, nicht zu vergessen das höchst umstrittene „Klassenbewusstsein“, verwendet, um zu beschreiben, wie unterschiedliche Personen ihre Subsistenzbedingungen mit anderen teilten oder aber nicht; wie soziale Gruppen innerhalb einer geschichteten materiellen und sozialen Landschaft unterschiedliche Positionen innehatten; wie schließlich die antagonistischen Beziehungen zwischen den Interessen dieser Gruppen diese unausweichlich in konflikthafte soziale und politische Auseinandersetzungen trieben. Wie der Liberalismus verlieh der Marxismus der Geschichte einen Sinn. Will die ökologische Klasse existieren, muss sie es mindestens genauso gut machen und insbesondere ebenfalls den Sinn der Geschichte definieren – allerdings den ihrer Geschichte!

Der Beitrag der marxistischen Definition von Klasse liegt im Verständnis der materiellen Bedingungen; die sozialen Bedingungen sind nur deren Ausdruck. Brauchbar war der Marxsche Kompass, weil er auf einer verhältnismäßig klaren Beschreibung der zum kontinuierlichen Fortbestand der Gesellschaft notwendigen Prozesse beruhte. Ausgangspunkt ist die Beschreibung der Mechanismen, durch die Gesellschaften sich reproduzieren; danach wird klassifiziert, wie die Akteure in diesem Reproduktionsprozess auf antagonistische Weise verortet sind. In diesem Sinne kann die auf Klassen bezogene Analyse als eine materialistische bezeichnet werden.

Will die ökologische Klasse diese Tradition als Erbschaft übernehmen, muss sie also diese marxistische Lektion akzeptieren und sich ebenfalls im Verhältnis zu den materiellen Bedingungen ihrer Existenz definieren. Der neue Klassenkampf muss auf einem nicht minder materialistischen Ansatz wie der alte beruhen. In diesem wesentlichen Punkt herrscht durchaus Kontinuität. Nur handelt es sich heute nicht mehr um dieselbe Materialität! Daraus erwächst die relative Diskontinuität zwischen den sozialistischen Traditionen und dem, was heute zum Entstehen gebracht werden muss.

Über Produktion und Reproduktion hinausdenken

Für Marx war das Überleben und die Reproduktion der Menschheit erstes Prinzip aller Gesellschaften und ihrer Geschichte. Dementsprechend bestand der erste Schritt jeder Analyse menschlicher Gesellschaften und der sozialen Geschichte notwendig in der Klärung sowohl der materiellen Voraussetzungen – was die Menschen aßen, das Wasser, das sie tranken, die Kleidung, die sie trugen, die Behausungen, in denen sie lebten, usw. –, die es den Gesellschaften und menschlichen Kollektiven ermöglichten zu überleben, als auch der Prozesse, denen sie ihre Entstehung verdanken. Die Produktion dieser materiellen Reproduktionsbedingungen galt Marx als Fundament der sozialen Geschichte. Allerdings ging es vorrangig um die Reproduktion der Menschenwesen.

Wir befinden uns heute in einer ganz anderen historischen Konstellation. Unser Horizont wird nicht mehr ausschließlich durch die Produktion bestimmt. Und vor allem: Wir sind nicht mehr mit derselben Materie konfrontiert. Was aber geschieht, wenn die Definition der materiellen Existenz selbst sich verändert? Da er ein Denken nahezu ausschließlich in Begriffen von „Produktion“ und „Reproduktion“ voraussetzt, ist der sozialistische Kompass außerstande zu erklären, wie sich heute die Form der Klassenlandschaft verwandelt. Wie bei der Entstehung der mechanischen Zivilisation zwingt uns das Neue Klimaregime, die Prozesse neu zu beschreiben, kraft deren sich die Gesellschaften reproduzieren und weiterbestehen. Einmal mehr: „Alles Ständische und Stehende verdampft.“

Wie im 19. Jahrhundert wohnen auch wir heute einer gewaltigen Transformation der materiellen Basis der Gesellschaften bei. Das zwingt uns dazu, uns nicht mehr allein bei den alten Beschreibungen aufzuhalten, um die Fragen zu beantworten, wie die Kollektive weiterleben, wie ihre Subsistenzmittel sich langfristig erhalten können und wie ihre Geschichte geschrieben werden soll. Die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse bleibt materialistisch, aber sie muss sich anderen Phänomenen als der alleinigen Produktion und der alleinigen Reproduktion ausschließlich der Menschen zuwenden. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese Produktionssysteme derart stark beschleunigt, dass dadurch das Erd- und das Klimasystem destabilisiert wurden. Das ist in Begriffen wie „Anthropozän“ oder „Große Beschleunigung“ recht treffend zusammengefasst. Momentan werden wir Zeugen davon, wie die klimatischen Veränderungen auf dramatische Weise die Kräfte intensivieren und verwandeln, die die Kontinuität und das Überleben der Gesellschaften sicherstellen. Das Produktionssystem ist zu einem Synonym für „Zerstörungssystem“ geworden.

Was es heute bedeutet, Materialist zu sein

Was aber könnte eine marxistische Analyse bedeuten, die sich auch auf die Reproduktion des Nichtmenschlichen konzentrierte? Heute Materialist zu sein heißt, zusätzlich zur Reproduktion der für die Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen. Diese zwingen dazu, nicht allein das in Erwägung zu ziehen, was die politische Ökonomie der traditionellen Parteien unter dem Namen „Ressource“ zu vereinfachen suchte, sondern eine neue materielle Realität des Planeten. Die Ökonomie richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Einsatz von Ressourcen zum Zwecke der Produktion. Aber existiert eine Ökonomie, die in der Lage ist, sich zurückzuwenden in Richtung des Erhalts der Bewohnbarkeitsbedingungen der terrestrischen Welt? Mit anderen Worten, die imstande ist, jener ausschließlichen Aufmerksamkeit für die Produktion den Rücken zu kehren und sie neu auszurichten an der Suche nach den Bewohnbarkeitsbedingungen? Vor dieser Herausforderung steht die neue ökologische Klasse. In diesem Punkt besteht verständlicherweise eine erhebliche Diskrepanz zum traditionellen „Klassenkampf“.

Dieser Dissens hinsichtlich der materialistischen Klassenanalyse macht letztlich verstehbar, inwieweit die Analyse in Begriffen der ökologischen Klasse die traditionellen Kämpfe der Linken fortführt und erneuert – freilich auf ihre Weise. Es geht in der Tat darum, sich von der ausschließlichen Konzentration auf die Produktion abzuwenden, um so den Widerstand der Gesellschaft (um ein Motiv von Karl Polanyi aufzugreifen) gegen die Ökonomisierung auszuweiten.

Bestimmte Kämpfe im 20. Jahrhundert waren natürlich von der marxistischen Tradition inspiriert, doch viele andere wurden schlicht im Namen der Absage an eine Expansion der Produktion geführt und gegen ihren ständig zur Schau getragenen unerträglichen Anspruch, sich vom Rest des gesellschaftlichen Lebens abzukoppeln. Wie es der Ökonom Lucas Chancel formuliert: „Die Abschaffung der Sklaverei, die Sozialversicherung, das allgemeine Wahlrecht, die kostenlose Schulbildung, das sind im eigentlichen Sinn keine Fragen der Organisation der materiellen Produktion.“ Das waren die vitalen Äußerungen der Unmöglichkeit für eine menschliche Gesellschaft, sich durch die Ökonomisierung allein definieren zu lassen. Folglich ermöglicht die Kritik bestimmter Grenzen des marxistisch inspirierten Materialismus auch, die vielfältigen Traditionen des Kampfes gegen die Ökonomisierung zu erneuern. Bis auf diese freilich entscheidende Nuance kann die ökologische Klasse mithin durchaus den Anspruch erheben, an die Geschichte der emanzipatorischen Linken, sie erweiternd, anzuknüpfen. Ein Zeichen, dass diese Wiederaufnahme bereits stattgefunden hat: Die Zahl getöteter Umweltaktivisten ist heute höher als die der Gewerkschafter.

Fasst man die gegenwärtige Situation zusammen, kann man sagen, dass mittlerweile die ganze Welt verstanden hat, dass entschiedenes Handeln nötig wäre, um der Katastrophe Einhalt zu gebieten, es dafür aber an Mittlern, an Motivation, an Führung zum Handeln fehlt. Bis zum Überdruss ist von „Revolution“, von „radikaler Transformation“, von „Kollaps“ die Rede, aber es ist nur zu sichtbar, dass nichts diese Ängste in ein mobilisierendes Aktionsprogramm, das den Herausforderungen entspräche, umsetzt. Insofern ähnelt dieser Aufruf zum Handeln beileibe nicht dem, den unsere Vorgänger aus Kriegszeiten oder den Zeiten des Wiederaufbaus, der Entwicklung und der Globalisierung kannten. Die Energien knüpften damals wirksam an die Ideale an; Einsicht in die jeweilige Lage genügte zur Mobilisierung. Heute scheint die Gewissheit der Katastrophe das Handeln eher zu lähmen. Jedenfalls werden die Vorstellungen von der Welt, die aufzubietenden Energien und die zu verteidigenden Werte nicht instinktiv miteinander in Einklang gebracht. Alle Instinkte sind vielmehr auf die identische „Wiederaufnahme“ der überkommenen Auffassung von Produktion gerichtet.

Aufgabe der ökologischen Klasse ist es dagegen, die Quelle dieser Lähmung zu diagnostizieren und die Ängste, das kollektive Handeln, die Ideale und den Sinn der Geschichte neu miteinander in Einklang zu bringen.

Man begreift, woher die Lähmung stammt, wenn man bemerkt, dass die Richtung des Handelns selbst sich umgekehrt hat. Vereinfachend lässt sich sagen, dass in den letzten zwei Jahrhunderten die Energien dann leicht zu mobilisieren waren, wenn es darum ging, die Produktion zu erhöhen und die dabei gewonnenen Reichtümer etwas weniger ungerecht zu verteilen. Zweifellos kam es zu zahllosen Konflikten zwischen den diversen Formen des Liberalismus und den vielfältigen sozialistischen Traditionen. Aber ihnen lag eine vollständige Übereinstimmung hinsichtlich einer Erhöhung der Produktion zugrunde. Uneinigkeit herrschte eher über die gerechte Verteilung der Erträge. Die Entwicklung war unbestreitbar historisch vorgegeben. Man konnte stets auf die Energien bauen, die mit der Losung entfacht wurden: „Vorwärts!“ Aus der Sicht des alten Modells klingt die Losung heute dagegen eher wie: „Alles zurück!“ Auf einmal erscheinen die Erhöhung der Produktion, der Begriff der Entwicklung selbst, der des Fortschritts als Wahnwitz, der abgestellt werden müsste.

Die Verbindung von Produktion und Zerstörung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten zieht eine Krise der Fähigkeiten zur Mobilisierung nach sich. Wen wundert es da, dass die Warnungen der Expertinnen und Experten vor den enormen Bedrohungen so wenige praktische Folgen zeitigen. Die mentale, moralische, organisatorische, verwaltungsmäßige, rechtliche Ausstattung, so lange mit Entwicklung assoziiert, büßt ihre Nützlichkeit ein, weil sie die Aufmerksamkeit auf das lenken sollte, was sich in eine Sackgasse verwandelt hat. Die Verfahrensweise hat sich sichtbar geändert, aber noch ist die neue Ausstattung nicht erarbeitet, die es ermöglichte, in Aktion zu treten. Was bleibt, sind Angst, Schuldgefühle und Ohnmacht. Es ist die Aufgabe der ökologischen Klasse, diese Ausstattung zu liefern.

Die entscheidende Wende besteht darin, der Aufrechterhaltung der Bewohnbarkeitsbedingungen des Planeten Priorität einzuräumen und nicht der Entwicklung der Produktion. In diesem Sinne geht es nicht nur um eine Beschränkung des „Produktivismus“, sondern darum, wie es der Anthropologe Dusˇan Kazik fordert, sich völlig vom Horizont der Produktion als Prinzip der Analyse der Beziehungen zwischen den Menschen und zwischen den Menschen und dem, von dem abzuhängen sie lernen, abzuwenden. Tatsächlich hatte die ausschließliche Konzentration auf die Produktion die unheilvolle Konsequenz, dass alles zu ihrer Entwicklung Erforderliche auf die bloße Rolle von Ressourcen reduziert wurde. Doch der in Jahrmillionen von Lebewesen erzeugte Planet umgibt, umhüllt, gestattet, ermächtigt, gewährleistet mehr als nur Ressourcen für menschliches Handeln.

Die große Wende: Wie die Produktion aus dem Zentrum an den Rand rückt

Wie es die Langzeitgeschichte der Erde belegt, waren es die Lebewesen, die den kontinuierlichen Fortbestand der von ihnen in Milliarden von Jahren geschaffenen terrestrischen Existenz ermöglicht haben – einschließlich Klima, Atmosphäre, Boden und Ozeane. Das Produktionssystem ist nur ein Teil und nicht einmal der wichtigste dieser Gesamtheit. Es ist aus dem Zentrum an den Rand gerückt; dagegen nimmt die Peripherie den ganzen Platz ein. Tatsächlich ist das Produktionssystem eingebettet, eingehüllt in eine ganz andere Organisation, die die Aufmerksamkeit auf Praktiken richten lässt, die die für die Wahrung der Lebensbedingungen notwendige Erzeugung begünstigen – oder aber vernichten. Produzieren heißt zusammenstellen und kombinieren, nicht erzeugen, will heißen: mit Sorgfalt den Fortbestand der Wesen entstehen lassen, von denen die Bewohnbarkeit der Welt abhängt. Um diese Umkehrung zu fassen, wäre es sinnvoller, von Einwicklung zu sprechen, statt die sonderbare Metapher der Entwicklung im Mund zu führen: Alle auf die Produktion bezogenen Fragen sind umgeben von, eingepackt in Erzeugungspraktiken, von denen sie abhängen.

Doch wir sind es gewohnt, Wachstum als einziges Mittel zu begreifen, um uns aus der Affäre zu ziehen, wobei wir vergessen, welche Zerstörungen es anrichtet. Dabei hing Prosperität immer schon von den Erzeugungspraktiken ab. Es geht somit nicht um „weniger Wachstum“, sondern darum, endlich wirklich zu prosperieren. Und doch hat noch kein einziger bedingter Reflex, noch kein Instinkt, noch kein Affekt diese Umkehr derart umgesetzt, dass sie zum neuen Sensus communis, zum neuen Gemeinsinn geworden wäre.

Da aber die Geschichte der Klassenkonflikte in den letzten beiden Jahrhunderten ausschließlich auf die Produktion und die Verteilung ihrer Erträge fokussiert war, blieb sie willentlich und systematisch blind für die Grenzen der materiellen Bedingungen des Planeten. Aus diesem Grund kann sich die ökologische Klasse nicht mehr allein anhand der Analyse der Produktionsweise definieren. Der Punkt, an dem sich die neue ökologische Klasse von allen anderen scheidet, besteht darin, dass sie die Stellung der Produktionsverhältnisse vermindern will, während die anderen sie verstärken wollen.

Der reizvolle Euphemismus des „Übergangs“ bezeichnet auf die denkbar schlechteste Weise, was im Grunde eine gewaltsame Umkehr ist. Diese Spannung bildet die Grundlage für den neuen Klassenkampf. Von zentraler Bedeutung sind nicht mehr wie einst allein die Klassenkonflikte innerhalb des Produktionssystems, sondern die notwendig konflikthafte Beziehung zwischen dem Erhalt der Bewohnbarkeitsbedingungen und dem Produktionssystem. Diese sekundäre Spannung macht den neuartigen Charakter der gegenwärtigen Lage aus. Die althergebrachten Klassen, die von Marx und die der Liberalen – die von einer ökonomisch geprägten Deutung der Geschichte abhängigen Klassen –, ordnen die Fragen der Bewohnbarkeit den Produktionsverhältnissen unter. Die im Entstehen begriffene ökologische Klasse verfährt umgekehrt. Im grellen Licht der modernen Ordnung offenbart sie die wirklichen Trennlinien: Unter dem Klassenkampf ein anderer Klassenkampf.

Die ökologische Klasse, die um ihre mit der Produktion brechende Definition kämpft, ergänzt also die Produktionsverhältnisse durch die Erzeugungspraktiken, die schon immer das Äußere des menschlichen Handelns definierten, insofern sie schon immer die Produktionsverhältnisse umgaben und umschlossen und sie erst ermöglichten.

Dem Philosophen Pierre Charbonnier zufolge ist die ökologische Klasse dadurch bestimmt, dass sie die Welt, in der man lebt, und die Welt, von der man lebt, in ein und demselben Raum miteinander verbindet. Sie ergänzt mithin die Produktion durch den Rückgriff auf die Bewohnbarkeitsbedingungen, in denen der Produktionswille immer schon eingebettet war. Zwar war die Definition der sozialen Klassen in Wirklichkeit immer schon abhängig von der Schlüsselfrage der Reproduktion (sogar bei Marx), doch hat das Gewicht der Ökonomisierung die marxistischen wie die liberalen Traditionen dazu gedrängt, deren Bedeutung zu leugnen oder zu minimieren. Klassenkampf ist seit je ein Knäuel geosozialer Konflikte gewesen – und wird es heute wieder explizit –, für die die Formatierung durch die Ökonomisierung nicht mehr angemessen ist, da sie den terrestrischen Wesen, einschließlich der Menschen, keinen Platz einräumen kann. Die ökologische Klasse ist also diejenige, die sich der Frage der Bewohnbarkeit annimmt. Aus diesem Grund greift ihre Vision der Geschichte und sogar der Geogeschichte auch weiter aus, ist umfassender und komplexer. Was zunächst als Rückschritt, als Rückwärtsbewegung, fast wie eine „reaktionäre“ Position erschien, erweist sich jetzt als eine enorme Erweiterung der Sensibilität für die lebensnotwendigen Bedingungen. Daraus erwächst ihr Konflikt mit den alten Klassen, die nicht in der Lage waren, die realen Voraussetzungen ihres Projekts zu erfassen.

Weder Liberalismus noch Sozialismus haben ernsthaft die Bedingungen der Bewohnbarkeit auch für sie selbst in Betracht gezogen – einmal ganz zu schweigen von den Neofaschisten. In diesem Sinne darf sich die ökologische Klasse – weil sie weiter blickt, weil sie mehr Werte berücksichtigt, weil sie bereit ist, an mehr Fronten für sie zu kämpfen – als rationaler als die anderen Klassen betrachten, in jener Bedeutung, die Norbert Elias diesem Adjektiv verliehen hat. Ihr Ehrgeiz ist also, den Prozess der Zivilisation wieder aufzunehmen, den die anderen Klassen aufgegeben oder verraten haben. Auf alle Fälle geht es darum, wie die Zivilisation aktiv fortgesetzt werden kann.

Die Erweiterung des Horizonts

Bereit zu sein, für jedes Subjekt, für jedes Territorium, die Welt, in der man lebt, zu unterstützen, indem man sie ausdrücklich mit der Welt verbindet, von der man lebt, erweitert den Horizont des Handelns. Diese Erweiterung des Horizonts ermächtigt die ökologische Klasse, sich als legitimer zu erachten, den Sinn der Geschichte zu definieren.

Die durch den alleinigen Horizont der Produktion und der Nationalstaaten beschränkten anderen Klassen bleiben dabei: Sie leugnen weiterhin die Wichtigkeit der Erzeugungspraktiken. Um die bei Elias angedeutete Parallele fortzuführen: Ähnlich wie die aufsteigende bürgerliche Klasse der Aristokratie deren allzu enge Wertvorstellungen ankreidete, spricht heute die neue ökologische Klasse den alten führenden Klassen die Legitimität ab, da sie durch die Krise gelähmt und außerstande sind, für das Abenteuer der modernen Politik einen glaubwürdigen Ausweg zu finden. Daraus schöpft diese neue Klasse ihre Energie, ihre potenzielle Fähigkeit zum Zusammenschluss und, kurzum: ihren Stolz. Indem sie die Definition dessen akzeptiert, was rational ist, um den Lauf der Geschichte zu verändern, macht die ökologische Klasse den gegenwärtig führenden Klassen die Rolle der, wie der Soziologe Bruno Karsenti sie nennt, classe-pivot, der Schlüsselklasse, die Rolle derjenigen also streitig, um die herum sich die politischen Positionen organisieren. Die Ökologie wächst aus ihren Kinderschuhen heraus. Sie ist keine Nebenbewegung mehr, vor allem hört sie auf, sich auf die alten sozialen Klassen zu beziehen, die in den alleinigen Produktionsverhältnissen gefangen sind. Mit ihrer Kritik an den bislang „führenden“ Klassen befindet sie sich insofern im Recht, als diese weder die Grenzen der Produktion durch eine Beschränkung der Ökonomisierung erkennen noch das Umschwenken auf Praktiken der Erzeugung vorbereiten, noch einen Ausweg finden konnten, der nicht einfach national fundiert war.

Definitionsgemäß verändert die ökologische Klasse die Aufteilung zwischen Innen- und Außenpolitik: Die äußere Erde wird Teil der Innenpolitik. In klassischen Begriffen formuliert, kann man sagen, dass die liberale Tradition, die weithin auch von den sozialistischen Traditionen geteilt wurde, ihr eigenes Projekt der Entwicklung und des Fortschritts verraten hat. Angesichts des Ausmaßes der Katastrophe, die diese führenden Klassen nicht vorherzusehen wussten, haben sie jeden Anspruch verloren, im Namen gleich welcher Rationalität zu handeln. Deshalb fehlt ihnen nunmehr auch jede Legitimität, den Sinn der Geschichte zu definieren und den Respekt der anderen Klassen einzufordern, die sie bislang angeblich hinter sich sammelten. Das erklärt den Hohn, den sie bei den anderen Klassen auslösen.

Ein Kampf an zwei Fronten

Den Horizont des Handelns über die Produktion hinaus und jenseits des von den Nationalstaaten definierten Rahmens zu erweitern: Das wird von jetzt an die Aufgabe der sich formierenden ökologischen Klasse sein. Durch dieses Projekt kann sie ihrerseits hoffen, die anderen Klassen hinter sich zu bringen. Diese Neuausrichtung muss schnellstens geklärt werden, denn als Reaktion auf den Verrat der führenden Klassen sind zahlreiche Bewegungen freigesetzt worden, die eine Bindung an Identität fordern und Schutz innerhalb von mehr oder weniger engen Grenzen suchen, dem überkommenen Schlagwort des nationalistischen Schriftstellers und Politikers Maurice Barrès folgend: „la terre et les morts“, die Erde und die Toten.

Das derart eng definierte Territorium liegt allerdings fernab der Richtung, die es einzuschlagen gilt; denn der Boden der Reaktionäre ist noch abstrakter und steriler als jener der Globalisierer. Er ist allein durch die Identität, die Toten bestimmt, und nicht durch die zahllosen Lebenden, die ihm Konsistenz verleihen. Die ökologische Klasse muss daher an mindestens zwei Fronten kämpfen: gegen die illusorische Globalisierung und gegen die Rückkehr in ein von Grenzen umgebenes Inneres. Diese beiden Bewegungen sperren sich gegen die Fragen der Bewohnbarkeit. In beiden Fällen ist die ökologische Klasse genötigt, die Natur der Territorien neu zu definieren, die Beschaffenheit dessen, wovon die Produktion umgeben ist, was sie ermöglicht, beschränkt und kontrolliert. Indem sie innen und außen neu aufteilt, darf sie hoffen, Teile der alten Klassen überzeugen zu können, sich mit ihr zu verbünden, um andere Formen der Förderung ihrer Interessen zu entdecken.

Die ökologische Klasse, im Kampf mit den alten Schlüsselklassen begriffen, erkennt sich mithin das Recht zu, „Boden“, „Territorium“, „Land“, „Nation“, „Volk“, „Bindung“, „Tradition“, „Beschränkung“, „Grenze“ in ihrer eigenen Begrifflichkeit zu definieren – und auf diese Weise selbst zu entscheiden, was „fortschrittlich“ ist und was nicht.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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