
Bild: Rishi Sunak, Premierminister von Großbritannien, 30.11.2022 (IMAGO / i Images / Martyn Wheatley)
Für einen kurzen Moment schien es so, als ob die Vernunft und der Pragmatismus, für die die Welt Großbritannien immer so bewundert hatte, nach London zurückgekehrt seien. Als Rishi Sunak, der dritte Premierminister in diesem chaotischen Jahr, am 25. Oktober in seiner Antrittsrede vor der Downing Street versicherte, mit ihm werde nun ernsthafte Arbeit und moralische Integrität wieder ganz oben auf der politischen Agenda stehen, ging ein Seufzer der Erleichterung durch das gebeutelte Land. Doch es blieb ein kurzer Moment.
Nur knapp zwei Monate später wird zunehmend deutlich, dass auch Sunak nicht in der Lage sein wird, den gordischen Brexit-Knoten zu durchschlagen. Und dass seine Partei immer noch verblendet genug sein könnte, um den Mann zurückzubringen, der die Tories in den Rechtspopulismus getrieben, und damit jede pragmatische Lösung der durch den Brexit entstandenen Probleme unmöglich gemacht hatte, Boris Johnson.
Gewiss, nach dem spektakulären Scheitern von Liz Truss ist der Brexit in seiner „theokratischen“ Form erst einmal erledigt. Das unbedingte Vertrauen in die Märkte und die Idee der neoliberalen Tory-Ultras, dass man durch nicht gegenfinanzierte Steuersenkungen für Besserverdienende gleichsam magisch die Wirtschaft ankurbeln könne, ist vorerst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet und damit auch die Vorstellung von einem Brexit, der, wenn man nur fest genug an ihn glaubt, ganz von selbst blühende Landschaften herzaubern könne.
Die Phase der überhitzten leeren Drohungen Richtung Brüssel ist damit erst einmal vorbei. Die uneinlösbaren Versprechen des Brexit aber stehen weiter im Raum. Hinzu kommt, dass Großbritannien nach Truss in einer noch tieferen Wirtschaftskrise steckt als zuvor.[1]
Sunaks politisches Überleben hängt jetzt davon ab, ob er das Land aus der von seiner Partei selbstverschuldeten Krise führen kann. Womit er vor einem unlösbaren Problem steht: Als ehemaliger Banker und Ex-Finanzminister weiß er, dass jede Art von Wirtschaftswachstum ohne eine funktionierende Beziehung zur EU kurz- und mittelfristig so gut wie unmöglich ist. Versucht er hier pragmatisch zu agieren, gefährdet genau das aber sein Überleben an der Spitze der Partei. Denn da sind nach wie vor die Brexit-Ultras tonangebend, für die jede Art von Dialog mit Brüssel eine Todsünde bleibt, womit dem neuen Premier selbst kleinste Schritte, die Schäden des Brexit zu beheben, auf absehbare Zeit verstellt sein dürften.
Das jüngste Beispiel hierfür: Als ein bis heute anonymes Regierungsmitglied gegenüber der „Sunday Times“ Ende November laut darüber nachdachte, wie man die durch den Johnson-Deal entstandenen Zollbarrieren zur EU durchlässiger machen könne, und in diesem Zusammenhang das Schweizer Modell erwähnte, rauschte bereits am nächsten Tag ein Sturm[2] der Empörung durch die torynahen Medien. Sunak wurde als Verräter gebrandmarkt wie in guten alten Zeiten und das, obwohl mit ihm seit 2016 der erste echte Brexiteer als Premierminister in der Downing Street sitzt.
Der Brexit-Graben innerhalb der Partei verläuft eben längst nicht mehr einfach zwischen Leavern und Remainern, sondern zwischen Pragmatikern und Verfechtern der reinen Lehre, für die jede ökonomische Realität weiterhin dem kompromisslosen Kampf gegen Brüssel unterzuordnen ist. Dabei interessiert es die „Ultras“ nur am Rande, dass die Schäden, die der Brexit angerichtet hat, jetzt, zwei Jahre nachdem er auch offiziell vollzogen wurde, immer deutlicher werden. Im Zweifelsfall macht sie es nur gereizter, denn die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Aus der Steuerschätzung des unabhängigen „Office for Budget Responsibility“, die auch Sunaks eigenem Mitte November vorgelegten Budget zugrunde liegt, geht hervor, dass der Brexit Grossbritannien dauerhaft rund vier Prozent des Bruttosozialprodukts kosten wird.[3] Einem OECD-Bericht zufolge rückt Großbritanniens Wirtschaft in den nächsten zwei Jahren damit auf den letzten Platz der G20 Länder, Russland ausgenommen.[4]
Rishi Sunak als ein blasser Premier
Sunak reagierte auf die Angriffe der Ultras nach dem „Sunday Times“-Leak blass und defensiv und zeigte dadurch, wie schwach sein Standing in der Partei wirklich ist. Statt die Probleme der britischen Wirtschaft offen anzusprechen, flüchtete er sich zurück in die alte ideologisch motivierte Bekenntniskultur: „Ich glaube an den Brexit“, beteuerte er am Tag danach auf einer Tagung des CBI, des britischen Unternehmerverbands, und fügte wörtlich hinzu: „Unter meiner Führung wird das Königreich keinerlei Beziehung zur EU aufnehmen, die darin bestünde, dass wir uns der Brüsseler Gesetzgebung annähern könnten.“[5] Die dringenden Fragen der anwesenden Unternehmer, wie die Handels- und Zollbarrieren zur EU denn dann von seiner Regierung abgemildert würden, ließ er damit unbeantwortet. Sein Finanzminister, Jeremy Hunt, reagierte noch vorsichtiger bzw. inszenierte eine Wiederaufführung der alten Johnson-Taktik, unbequeme Fakten einfach zu leugnen. In einem Interview erklärte er lächelnd, er akzeptiere die Zahlen des OBR schlicht nicht. Er „glaube“ stattdessen daran, dass der Brexit sich langfristig schon auszahlen werde. Eine Antwort auf die Frage, wie er dann aber der britischen Wirtschaft mit ihren akuten Problemen im Hier und Jetzt helfen wolle, blieb er so ebenfalls schuldig. Stattdessen versuchte er das Interview mit der erstaunlichen Aussage zu beenden, „das Land hat nun einmal als Ganzes mit dem Brexit klar für andere Handelsbeziehungen mit der EU gestimmt.“ Und damit müsse man jetzt eben leben.[6]
An dieser Aussage sind gleich zwei Dinge falsch. Das Land hat erstens nicht als Ganzes klar für den Brexit gestimmt und zweitens schon gar nicht für andere Handelsbeziehungen mit der EU. Im Gegenteil: Vor dem Referendum 2016 wurde vom „Leave“-Lager unisono immer wieder beteuert, dass sich an der Mitgliedschaft des Landes zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion nichts ändern werde. Die Idee eines harten Brexit kam erst Monate nach dem Referendum auf Druck der Ultras mit Theresa Mays „Lancaster-House Rede“ auf.
Ich erwähne das hier so detailliert, weil es ein Beispiel für das permanente Gaslighting rund um den Brexit ist, das auch unter Sunak und seinem Finanzminister ungehindert weiterläuft. Rishi Sunak mag auf den ersten Blick seriöser, sympathischer und aufgeräumter daherkommen als ein Boris Johnson oder eine Liz Truss. Die Methoden und Probleme, die durch das Abdriften der Tories in den Rechtspopulismus unter Johnson entstanden sind, aber bestehen weiter, und Sunak hat weder die Kraft noch die innere Entschlossenheit, sich dem zum Wohle des Landes entgegenzustemmen.
Aufgebauschte Flüchtlingsprobleme
Besonders deutlich wird das am Fall der neuen Innenministerin, Suella Braverman. Bereits als Generalstaatsanwältin hatte sie sich nicht nur als erstaunlich inkompetent erwiesen, sondern ganz nebenbei auch all die Prinzipien des britischen Rechtsstaats bewusst ignoriert, die nicht in ihr Weltbild passten.[7] Eine typische Personalie aus der Johnson-Zeit, der die Partei 2019 von den „Centrists“, den gemäßigten Konservativen, „gereinigt“, und deren Sitze mit Kandidaten besetzt hatte, die bis dahin dem extremeren rechten Parteienspektrum wie Ukip oder der Brexit-Partei angehörten, wodurch die Partei als Ganzes weit nach rechts gerückt und zunehmend rechtspopulistisch wurde.[8]
Sunak nun machte Braverman, die zu diesem neuen Kern der Tories gehört, zur Innenministerin, auch um diesen Flügel einzubinden – was bei Braverman und ihren Unterstützern aber das Gegenteil bewirkte. Stattdessen fühlten sie sich ganz offensichtlich ermutigt, nun auch ganz offen rechtsextremes Terrain zu betreten. So erklärte Braverman Ende Oktober die Flüchtlinge, die in kleinen Booten an der englischen Südküste ankommen, zu „Invasoren“, ein Begriff, der bis dato nur von der rechtsextremen Szene auf der Insel benutzt wurde, und machte ihn so hoffähig. Die BBC berichtete kurz darauf, die Innenministerin werde nun selbst vor Ort überprüfen, „wie sich das Vereinigte Königreich an der Front gegen Migranten verteidigen könne“.[9] Braverman bediente diese Sprache anschließend mit den dazu passenden Bildern, als sie ein Flüchtlingszentrum mit einem militärischen Helikopter anflog. Ein ganz bewusst inszenierter Auftritt, denn sie kam an dem Tag aus dem nur 20 Meilen entfernten Dover; mit einem Auto wäre sie schneller und einfacher vor Ort gewesen.
Das eigentliche Problem für Sunak hierbei ist, dass die Flüchtlingsproblematik von Braverman künstlich aufgebauscht wird, während sie gleichzeitig zunehmend hilflos und inkompetent bei der Bearbeitung der Anträge agiert und damit für unhaltbare Zustände in den Flüchtlingszentren sorgt, was zusätzliche Unruhe in der Bevölkerung auslöst.[10] Wie beim Brexit selbst werden hier Probleme erst geschaffen, für die man dann keine Lösungen hat.
Sunak sieht all dem tatenlos zu und übernimmt sogar Teile dieser Rhetorik, weil er weiß, dass er ohne Bravermans Unterstützung in der Partei auf gefährlichem Eis wandelt. Und hier beißt sich die Katze dann wieder in den Schwanz: Denn sein Versprechen, mit ihm komme jetzt eine neue, professionell agierende Regierung, kann Sunak auf diese Weise nicht einlösen. Und so haben sich die katastrophalen Umfragewerte für die Tories – nur knapp zwei Jahre vor der nächsten Wahl – auch kaum entscheidend verbessert.[11]
Damit dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die zahlreichen Rebellen in seiner Partei wieder unruhig werden. Denn auch Sunaks eigentlicher Rettungsring, die Tatsache, dass mit einem erneuten „Königsmord“ die von den Tories so gefürchteten Neuwahlen nun wirklich unausweichlich würden, könnte ihm leicht abhandenkommen.
Womit wir bei Boris Johnson wären, der ja immerhin zu Beginn dieser Legislaturperiode mit großer Mehrheit gewählt wurde. Nicht nur die in der Tory-Partei gut vernetzte „Daily Mail“ spekuliert derzeit ganz offen darüber, dass seine Rückkehr zumindest wahrscheinlich bleibt.[12] Mit ihm an der Spitze könnte die Partei noch am ehesten Neuwahlen entgehen, indem sie die vergangenen Monate dann als kurzes Intermezzo abschütteln und behaupten könnte, einfach da weiterzumachen, wo sie 2019 mit Johnson gestartet ist.
Man braucht natürlich eine gehörige Portion Wunschdenken und eine gute Dosis Amnesie, um diesen Gedanken ernsthaft zu verfolgen, aber zu beidem ist die Tory-Partei durchaus in der Lage, sollte sich ein Wahlsieg unter Sunak als zunehmend illusorisch herausstellen, und zwar spätestens dann, wenn die Partei im Mai 2023 bei den Regionalwahlen eine erdrutschartige Niederlage erleiden sollte. Johnson wurde zwar innerhalb von nur zwei Jahren von seiner Partei und dem Land als der chronische Lügner entlarvt, der er immer war, seine größte Lüge, der Brexit als angeblicher nationaler Befreiungsschlag, aber wurde nie wirklich enttarnt, und die Parteibasis glaubt daher unbeirrbar weiter an ihn.
Absurderweise leistet die Opposition den Tories in dieser Frage unerwartet Schützenhilfe. Labourchef Keir Starmer hat sich nämlich jetzt für die Taktik entschieden, die Regierung beim Brexit gewissermaßen von rechts zu überholen. Starmer wird neuerdings nicht müde zu betonen, dass eine Rückkehr in die EU mit ihm klar ausgeschlossen sei. Stattdessen zieht er mit der Parole „We will make Brexit work“ durch die Lande und wettert gegen Truss und Sunak, die die Chancen des Brexit bis heute nicht wirklich genutzt hätten.
Das alles mag eine clevere Taktik sein, um die vom Brexit begeisterten Labour-Wähler zurückzuholen, die 2019 in Massen zu den Tories abgewandert waren und die bei der nächsten Wahl entscheidend sein dürften. Aber eine echte Strategie, um das Land aus der gegenwärtigen Krise zu steuern, ist das nicht. Im Gegenteil: Indem auch Starmer die inhärenten Widersprüche des Brexit nicht offen benennt, verlängert er so nur den Zeitraum, in dem das Land noch tiefer in die Krise rutscht. Zusätzlich erhöht er dadurch den Druck auf Rishi Sunak, sich zum „reinen Glauben“ zu bekennen. Dessen Spielraum, die Brexit-Probleme stattdessen anzugehen und offen zu benennen, wird durch Starmers Taktik nur noch stärker eingeschränkt.
So dürfte Sunak, wenn seine Partei ihn nicht doch noch vorher erledigt, die Zeit bis zu den nächsten Wahlen als müde Fußnote der Geschichte verbringen. Ein Technokrat, der sich zum reinen Brexit-Glauben bekennt, obwohl er die Faktenlage genau kennt. Einer, der versucht, pragmatisch Probleme zu lösen, während die politische Landschaft rundherum ihn zwingt, an der Realität vorbeizuregieren. Ein Premierminister, der sein Land nicht aus der Krise führen kann, sondern hilflos zuschauen muss, wie es sich weiter schlafwandelnd im Kreis dreht.
[1] Vgl. Faye Brown, UK economy made worse by „own goals“ like Brexit and Truss mini-budget, IFS economist says, www.news.sky.com, 18.11.2022.
[2] Vgl. Jack Walters, Brexit betrayal as „sellout“. Sunak considers Swiss relationship with EU, www.express.co.uk, 20.11.2022.
[3] Vgl. Office for Budget Resposibility, Brexit analysis, www.obr.uk, 26.5.2022.
[4] Vgl. OECD-Wirtschaftsausblick, www.oecd-ilibrary.org, 22.11.2022.
[5] Prime Minister’s Office, 10 Downing Street und The RT Hon Rishi Sunak MP, PM speech to the CBI conference, www.gov.uk, 21.11.2022.
[6] Vgl. Sky News, Beth Rigby Interviews... Chancellor Jeremy Hunt, www.youtube.com, 24.11.2022.
[7] Vgl. Nick Cohen, The attorney general’s office was worthy of respect. Suella the stooge disgraces it, www.theguardian.com, 14.5.2022.
[8] Vgl. Tim Bale, Die Chaosmacher. Zerstrittene Tories in Großbritannien, www.spiegel.de, 5.11.2022.
[9] A BBC reporter talking about the UK „defending itself on the frontline against migrants“, www.twitter.com, 3.11.2022.
[10] Dabei war die Zahl der an der Südküste Englands ankommenden Flüchtlinge im Vergleich zu anderen europäischen Ländern auch 2022 mit rund 33 000 Menschen bis September immer noch sehr gering. Vgl. Home Office Statistics, Irregular migration to the UK, year ending September 2022. Statistics on irregular migration to the UK, including small boats, www.gov.uk, 24.11.2022.
[11] Vgl. Poll of Polls, United Kingdom. National parliament voting intention, www.politico.eu, 30.11.2022.
[12] Vgl. Dan Hodges, If Rishi Sunak is going to save the Tories, he must start acting like a leader – not a project manager, www.dailymail.co.uk, 26.11.2022; John Rentoul, Has the Conservative Party decided it wants to lose the next election?, www.independent.co.uk, 26.11.2022.