
Bild: Ein Kind wird in einen Lastwagen gehoben, der Menschen, die vor dem Krieg im Sudan fliehen, nach Renk im Südsudan bringt. Der Krieg im Sudan, der im April 2023 begann, hat zu einer der größten Vertreibungskrisen der Welt geführt. Joda, Sudan, 20.3.2024 (IMAGO / SOPA Images / Sally Hayden)
Die Horrornachrichten aus dem Sudan halten an, dringen jedoch kaum durch, obwohl es sich nach Angaben der Vereinten Nationen weltweit um die aktuell größte humanitäre Krise handelt. Von den rund 51 Millionen Menschen im Sudan ist fast die Hälfte dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Zahl der gewaltsam Vertriebenen wird auf über zehn Millionen geschätzt, von denen mehr als zwei Millionen in Nachbarländer geflohen sind. Das Welternährungsprogramm warnt bereits seit Monaten vor einer Hungersnot, die in ihren Dimensionen sogar diejenige übertreffen könnte, welche Mitte der 1980er Jahre verheerend in Äthiopien wütete.
Zehntausende haben schon seit Beginn des Krieges zwischen der regulären Armee und den Milizionären der Rapid Support Forces (RSF) im April vergangenen Jahres ihr Leben verloren.[1] Manche Schätzungen halten gar die Zahl von 150 000 Toten für realistisch. In El Geneina, der Hauptstadt des Teilstaates West-Darfur, befürchtet Human Rights Watch einen Genozid.[2] Dort haben RSF-Kämpfer laut einer Untersuchung im Auftrag des UN-Sicherheitsrates bis zu 15 000 Menschen ermordet. Das wären beinahe doppelt so viele Opfer wie bei dem Völkermord 1995 in Srebrenica.[3]
Und dennoch schafft es der Sudan so gut wie nie in die Top-Meldungen internationaler Massenmedien. Weder in Deutschland noch in anderen westlichen Staaten – mit Ausnahme der ehemaligen Kolonialmacht Großbritannien – gestehen die Redaktionen dem Konflikt auch nur annähernd den gleichen Stellenwert zu wie den Kriegen in der Ukraine oder im Gazastreifen. Diese Ignoranz gegenüber der größten Fluchtkrise der Welt in einem nicht allzu fernen Land ist umso paradoxer, als sich der öffentliche Diskurs gerade in ganz Europa in erster Linie um das Thema Flucht und Migration zu drehen scheint. Wie also lässt sich das allgemeine Desinteresse erklären?
Die 2021 verstorbene Journalistin Bettina Gaus widmete dieser Frage bereits 2004 ein ganzes Buch und ging darin auch speziell auf den Sudan ein. Aufgrund ihrer Erfahrungen als langjährige Afrika-Korrespondentin der „taz“ schlussfolgerte sie zum einen, dass die zermürbenden Auseinandersetzungen kaum fernsehtaugliche Bilder lieferten, weil logistische Probleme die Berichterstattung aus extrem entlegenen und gefährlichen Frontgegenden nahezu unmöglich machten.[4] Doch dieses Manko besteht in jüngerer Zeit nicht mehr im gleichen Ausmaß, da die Kämpfer von RSF und Armee mit ihren Mobiltelefonen Unmengen an – wenn auch einseitigem – Bildmaterial produzieren und dieses freimütig im Internet verbreiten.
Zum anderen führte Gaus einen Grund an, der auch heute noch aktuell sein dürfte: dass nämlich die Fotos und Videos aus den afrikanischen Krisengebieten aussähen, als ob sie von einem anderen Planeten stammten. Im Gegensatz dazu hätten viele Europäer einen direkten Bezug zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gefunden, weil die dortigen Häuser und Menschen denen in der eigenen Mehrheitsgesellschaft ähnelten. Der gleiche Effekt sorgt heute wohl – neben der viel direkteren Bedrohung der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung – mit dafür, dass der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ein vielfach größeres Echo in westlichen Ländern findet als der Krieg im Sudan und die humanitäre Hilfe für die Ukraine nicht derart unterfinanziert ist wie die für das nordostafrikanische Land, obwohl dieses eine ähnliche Bevölkerungszahl hat.
Konflikte um Macht und Ressourcen
Viele sudanesische Intellektuelle wiederum führen die internationale Ignoranz, die sie auch in arabischen Ländern beobachten, auf rassistische Ressentiments gegenüber Afrikanern zurück.[5] Tatsächlich dominierte auch in deutschen Medien lange Zeit das Narrativ von archaisch-primitiven Stammeskonflikten. Aber selbst wenn die Auseinandersetzungen wie beim Massaker von El Geneina teilweise ethnische Komponenten haben, so verschwimmen doch bei näherer Betrachtung die Grenzen zwischen Volksgruppen, und der Versuch von klaren Kategorisierungen driftet schnell in letztlich völkisches Denken ab. Ähnlich problematisch ist ein Topos, der unter den Eliten aus der Hauptstadt Khartum und dem nordsudanesischen Niltal weit verbreitet ist und wonach die RSF eigentlich ausländische Invasoren seien, weil viele ihrer – mit aus Syrien stammenden Drogen aufgeputschten – Krieger aus dem Tschad, Niger oder Mali kämen. All diese Klischees verstellen den Blick darauf, dass nicht etwa ethnisch-kulturelle Unterschiede die Ursache der Gewalt sind, sondern es sich vielmehr um Auseinandersetzungen um den Zugang zu Macht und Ressourcen handelt, die in einem globalen Kontext stattfinden und dabei ethnisiert werden.
So komplex die Ursachen für den Krieg sind, so klar ist doch, dass er von den marginalisierten Peripherien der Westregion Darfur aus das ganze Land erfasst. Und anders als es die früheren Kampagnen von US-Stars wie George Clooney weismachen wollten, ging es in Darfur nicht primär um die Aggression von „bösen Arabern“ gegen „gute Afrikaner“. Stattdessen eskalierten die dortigen Spannungen schon ab Mitte der 1980er Jahre, als sesshafte Kleinbauern und Viehnomaden wegen der Dürre im Sahel zunehmend um Agrarflächen konkurrierten. Der damalige, mehr oder minder demokratisch gewählte, Ministerpräsident Sadik Al-Mahdi lagerte die Unterdrückung dieser Konflikte an nichtstaatliche Akteure aus und bewaffnete seine traditionelle Klientel. Aus diesen Murahalin-Milizen gingen schließlich die RSF hervor.
Der unwiederbringliche Verlust großer landwirtschaftlicher Flächen durch den Klimawandel war neben dem demographischen Wachstum der wichtigste Katalysator in der Gewaltspirale. Zwar wäre es angesichts der katastrophalen Regierungsführung von Mahdi und seinem Nachfolger Omar Al Bashir, die beide nach dem Prinzip „teile und herrsche“ vorgingen, irreführend, Darfur als den ersten Klimakrieg unseres Zeitalters zu bezeichnen, aber es ist unter Sudan-Analysten weitgehend unstrittig, dass sowohl die lokal durch Abholzung ausgelöste Desertifikation als auch der global durch Treibhausgasemissionen verursachte Klimawandel zu zentralen Konfliktfaktoren wurden.
Der Druck auf die Darfuris stieg noch weiter infolge der dramatischen Schuldenkrise, die den Sudan wie viele Länder Afrikas in den 1980er Jahren erfasste. Das Militärregime von Mahdis Vorgänger Jafar Nimeri, der von 1969 bis 1985 an der Macht war, hatte große Kredite für Entwicklungsprojekte aufgenommen, die nicht nachhaltig waren und dem Land seither eine riesige Verschuldung aufbürden. Zudem verschlang der Kampf gegen die Sudan People‘s Liberation Army (SPLA), die seit 1983 gegen die Marginalisierung der südlichen Gebiete rebellierte und dabei zunächst von Ostblockstaaten wie der DDR unterstützt wurde, gewaltige Ressourcen. Unter dem Einfluss der Gläubiger, insbesondere des Internationalen Währungsfonds, schaffte der sudanesische Staat Subventionen für Sozialleistungen weitgehend ab und forcierte den Export von Lebendvieh nach Saudi-Arabien und in andere erdölreiche Golfländer, um an Petrodollars zu gelangen.
Die Islamisten unter Führung von Hassan Al Turabi, der 1989 seinen Schwager Sadik Al Mahdi stürzte und den bis dahin kaum bekannten General Omar Al Bashir als formalen Regimechef installierte, setzten verstärkt auf einen neoliberalen Umbau der Volkswirtschaft. Zugleich heizten sie mit der Islamisierung des Landes und ihrer arabischen Überlegenheitsideologie die SPLA-Rebellion im damaligen Südsudan wie auch die Spannungen in Darfur an. Nach dem Bruch mit Turabi erreichte Bashir zwar 2005 ein Friedensabkommen mit den südsudanesischen Aufständischen, doch zur gleichen Zeit explodierten die schon lange schwelenden Konflikte in Darfur mit der Revolte von Milizen, die sich als Vertreter von sesshaften Kleinbauern betrachten.
Bashir nutzte einen Teil der nunmehr aus dem Südsudan strömenden Erdöleinnahmen, um die Niederschlagung der Revolte in Darfur an arabisierte Milizen auszulagern, die sich vor allem aus Viehnomaden rekrutierten. Seine reguläre Armee konzentrierte sich währenddessen auf eigene Wirtschaftsaktivitäten, um sich einen großen Teil des neuen Reichtums zu sichern. Millionen Darfuris wurden zu Vertriebenen im eigenen Land, Zehntausende verloren ihr Leben. Den höchsten Schätzungen zufolge wurden bis zu 300 000 Menschen ermordet. Der Aufstand endete 2016 mit dem Sieg der RSF unter ihrem Anführer Mohamed Hamdan Dagalo, besser bekannt unter seinem Spitznamen „Himedti“.
Himedti und seine Familienmitglieder wurden durch den militärischen Erfolg reich und gewannen weiter an Macht, indem sie die Kontrolle über die Goldminen in Darfur übernahmen und Söldner als Bodentruppen für den Krieg der saudisch-emiratischen Koalition im Jemen bereitstellten. Während die Volkswirtschaft von einer produktiven zu einer destruktiven Ökonomie mutierte, sorgte Himedti so auch dafür, dass sich der Arbeitsmarkt militarisierte. Für viele junge Männer ist es mittlerweile die einzige Möglichkeit, den Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen, indem sie sich als Kämpfer verdingen. Die EU sowie die Schweiz verliehen den RSF derweil insofern internationale Anerkennung, als dass sie im Rahmen des Khartum-Prozesses mit ihnen kooperierten, um Flucht und Migration nach Europa einzudämmen.
Deutsche Waffen im Sudan
Darüber hinaus hat gerade Deutschland für die Militarisierung des politischen Marktplatzes, auf dem die Teilhabe an Macht und Ressourcen nur bewaffneten Gruppen offensteht, eine besondere historische Verantwortung. Denn es war die alte Bundesrepublik, die mit Beginn der sudanesischen Unabhängigkeit im Jahr 1956 die verschiedenen Regime in Khartum hochrüstete, um den „Hinterhof“ Ägyptens als Bollwerk gegen östliche Einflüsse aufzubauen. Zum einen leisteten Bundesnachrichtendienst und Bundeskriminalamt über Jahrzehnte wichtige Anschubhilfen beim Aufbau des sudanesischen „Sicherheitsapparates“, der sich immer mehr in eine Unterdrückungsmaschine verwandelte. Zum anderen und vor allem gewährten alle Bundesregierungen während des „Kalten Krieges“, der in der gesamten Region zu einem heißen Stellvertreterkrieg geworden war, der sudanesischen Armee Rüstungs- und Ausbildungshilfen in Rekordumfang. Herzstück war bis in die 1980er Jahre der Aufbau und Betrieb einer Munitionsfabrik bei Khartum durch die damals bundeseigene Firma Fritz-Werner. Sie bildete den Nukleus für den militärisch-industriellen Komplex des Sudans.[6]
Sinnbildlich für diese historische Erblast sind zahllose G3-Sturmgewehre von Heckler & Koch, die auf von RSF-Kriegern geposteten Bildern zu sehen sind. Sie stammen offenbar aus dem Krieg im Jemen und waren aus Saudi-Arabien oder den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) dorthin geliefert worden. Überdies liegen auch Belege dafür vor, dass sogar der moderne G3-Nachfolger G36 in den Sudan gelangt ist. Armeechef Abdelfatah Al Burhan persönlich ist in einem Video zu sehen, als er das aktuelle Standardgewehr der Bundeswehr testet. Allerdings gibt es keine Hinweise darauf, dass die Bundesregierung Nachforschungen zu den betreffenden Verletzungen von Regelungen über den Endverbleib ihrer Waffenexporte anstellt.
Noch schwerer wiegt indes die Tatsache, dass die Bundesregierung ausgerechnet mit dem größten Kriegstreiber verbündet ist. Denn es ist völlig unstrittig, dass die VAE der Hauptunterstützer der RSF sind. Wie in etlichen anderen afrikanischen Ländern entlang der Ostküste bis weit in den Kontinent hinein ist es offensichtlich das geostrategische Ziel der Emiratis, sich den Zugang zu Häfen und Hinterland zu sichern. Doch obwohl die VAE Ende 2021 eine entscheidende Rolle bei Burhans und Himedtis Putsch gegen die zivile Regierung von Abdallah Hamdok spielten, vereinbarte Bundeskanzler Olaf Scholz ein Jahr später mit VAE-Präsident Mohamad bin Zayed die Revitalisierung einer bereits 2004 beschlossenen strategischen Partnerschaft. Dass die Ampelkoalition allein im ersten Halbjahr 2024 Rüstungsexporte im Umfang von über 51 Mio. Euro an die VAE genehmigte, muss für einen Großteil der Sudanesen wie blanker Zynismus wirken.
Auf der anderen Seite bewilligte die Bundesregierung Saudi-Arabien, das wie Iran und Russland die reguläre Armee unterstützt, im gleichen Zeitraum Rüstungslieferungen im Wert von über 132 Mio. Euro.[7] Wie für die US-Diplomatie ist es demnach auch für die Berliner Geostrategen offenbar wichtiger, mit Blick auf den übergeordneten Nahostkonflikt ein gutes Verhältnis zu den Herrschern in Riad und Abu Dhabi zu bewahren, statt sich mit Kritik am verheerenden Stellvertreterkrieg im Sudan um die regionale Vorherrschaft am Roten Meer zu exponieren.
Womöglich hängt die westliche Sudan-Fatigue also auch mit der unbequemen Wahrheit zusammen, dass dieser Krieg sehr viel mehr mit „uns“ zu tun hat, als man wahrhaben will. Da die Hauptleidtragenden wie zumeist Frauen und Kinder sind, ist diese Haltung jedenfalls kein Paradebeispiel für eine werteorientierte oder gar feministische Außenpolitik.
[1] Vgl. dazu Andreas Bohne, Krieg im Sudan: Der Hunger der Millionen, in: „Blätter“, 4/2024, S. 21-25.
[2] „The Massalit Will Not Come Home”. Ethnic Cleansing and Crimes Against Humanity in El Geneina, West Darfur, Sudan, hrw.org, 9.5.2024.
[3] Vgl. den Beitrag von Marion Kraske in dieser Ausgabe.
[4] Bettina Gaus, Frontberichte. Die Macht der Medien in Zeiten des Krieges, Frankfurt a. M. und New York 2004, S. 55-64 sowie 151-154.
[5] Vgl. etwa Omnia Mustafa und Ghaida Hamdun, Keep eyes on Sudan, africasacountry.com, 11.3.2024.
[6] Roman Deckert, Deutschlands Sonderbeziehungen am oberen Nil, in: Torsten Konopka (Hg.), Wegweiser zur Geschichte. Sudan und Südsudan, im Auftrag des ZMSBw, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Paderborn 2018, S. 193-202.
[7] Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Rüstungsexportpolitik der Bundesregierung im 1. Halbjahr 2024, Pressemitteilung vom 5.7.2024, bmwk.de.