Ausgabe Dezember 2024

Die Arktis: Vom Friedenshort zum Kampffeld?

Soldat:innen bereiten sich in Norwegen auf die NATO-Übung Nordic Response vor, 25.2.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire / U.S. Marines)

Bild: Soldat:innen bereiten sich in Norwegen auf die NATO-Übung Nordic Response vor, 25.2.2024 (IMAGO / ZUMA Press Wire / U.S. Marines)

Am 18. September verabschiedete die Bundesregierung neue Leitlinien für die deutsche Arktispolitik. Das Dokument ist stark sicherheitspolitisch geprägt. Im Kontext von Ukrainekrieg und „Zeitenwende“ möchte Deutschland sich künftig mehr für die „Wahrung von Sicherheit und Stabilität“ in der Arktis einsetzen und im Nato-Rahmen auch sein militärisches Engagement in der Region ausbauen. In der bisherigen Arktisstrategie von 2019 spielten militärische und strategische Aspekte nur eine untergeordnete Rolle, der Fokus lag auf Klimaschutz und Forschung. Die neuen Leitlinien hingegen nennen sicherheitspolitische Herausforderungen an erster Stelle, insbesondere im Hinblick auf die arktischen Aktivitäten Russlands und Chinas. Woraus resultiert diese Neuausrichtung – und ist sie gerechtfertigt?

Seit dem Ende des Kalten Krieges gilt die Arktis als einmaliger Friedenshort. Dies war jedoch nicht immer so. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Region zum Kriegsschauplatz. Und während des Ost-West-Konflikts war die Arktis eine stark bewachte Grenzzone zwischen den Supermächten. Dies änderte sich erst, als Michail Gorbatschow 1987 eine neue arktische Sicherheitsordnung vorschlug. Moskau bot an, die Arktis weitgehend zu entmilitarisieren. Die Sowjetwirtschaft stand kurz vor dem Zusammenbruch. Gorbatschow wollte den Rüstungsetat verringern und friedliche Rahmenbedingungen für die Ausbeutung von Rohstoffen in den sowjetischen Arktisgebieten schaffen. Nach dem Untergang der UdSSR versandeten diese Entwicklungspläne jedoch vorübergehend, da der Russischen Föderation der 1990er Jahre sowohl der Wille als auch die Mittel dazu fehlten, den dünn besiedelten Norden des Landes weiter zu erschließen.

Katastrophale innere Zustände erzwangen zu diesem Zeitpunkt auch einen militärischen Rückzug Russlands aus der Region. Zugleich traten geopolitische Rivalitäten in den Hintergrund, militärische Entscheidungsträger im Westen verloren ihr Interesse an der Arktis. Dadurch wurden die Rahmenbedingungen für eine Neugestaltung der arktischen Ordnung geschaffen. Der arktische Sicherheitsbegriff wurde umdefiniert. Aspekte wie Umwelt- und Klimaschutz, maritime Sicherheit und die Rechte indigener Völker gewannen an Bedeutung. Die Arktisstaaten Norwegen, Dänemark, Schweden, Finnland, Island, Kanada, Russland und USA institutionalisierten zunehmend ihre Zusammenarbeit zu diesen Themen.

Ende 1996 gründeten sie den Arktischen Rat, zu dessen Aufgaben bewusst keine militärischen Fragen gehören sollten. Man verließ sich darauf, die Stabilität in der Arktis mittels des UN-Seerechtsübereinkommens und anderer für die Region wichtiger Vereinbarungen wahren zu können. In dieser kooperativen Atmosphäre gedieh die Theorie des „arktischen Exzeptionalismus“: Der Norden sei eine Oase der internationalen Kooperation. Er bliebe selbst dann von weltpolitischen Dynamiken abgekoppelt, wenn die arktischen Staaten bei anderen Themen aneinandergeraten sollten. 

Dieser Gedanke beflügelte über mehr als zwei Jahrzehnte die Kooperation in der Arktis. Dabei geriet jedoch aus dem Blick, dass die politische Ordnung der Region auf einer fragilen sicherheitspolitischen Grundlage fußte. Die Entmilitarisierung der Arktis in den 1990er Jahren war kein diplomatischer Zufall, sondern vor allem ein Nebenprodukt des militärischen Abstiegs Russlands. Zudem war die Arktis aus wirtschaftlicher Sicht zu dieser Zeit kaum von globaler Bedeutung. Beide Umstände änderten sich jedoch im Laufe der vergangenen anderthalb Jahrzehnte. 

Russisch-chinesische Kooperation

Moskau entdeckte zum einen sein strategisches Interesse an der Arktis wieder. Mehr als die Hälfte der arktischen Landgebiete und ein Gros der arktischen Küstengewässer gehören zu Russland. Die Arktisgebiete sind von enormer Bedeutung für die Zukunft des russischen Wirtschaftsmodells, da Moskau plant, seinen Export fossiler Brennstoffe auf unbestimmte Zeit fortzusetzen. 80 Prozent des russischen Gases und 17 Prozent des Erdöls werden in der Arktis produziert – mit steigender Tendenz: Etwa 70 Prozent der unerschlossenen Öl- und Gasvorkommen des Landes befinden sich nördlich des Polarkreises. Russland möchte diese Rohstoffvorkommen militärisch bewachen. 2007 verabschiedete die russische Regierung ein großes Aufrüstungsprogramm. Die Modernisierung der russischen Armee begünstigte vor allem auch Streitkräfte in der Arktis. Russlands Militär bildete vier neue arktische Brigaden und eine Eisbrecherflotte, richtete neue Tiefseehäfen und Flugplätze ein und erweiterte den Einsatzbereich der Nordflotte. Denn Moskau sorgt sich über den Rückgang des arktischen Meereises, der die Nordflanke des Landes öffnen und die nuklear bewaffnete U-Boot-Flotte auf der Halbinsel Kola für Angriffe verwundbar machen könnte.

Neben militärischen Problemen und massiver Umweltzerstörung schafft der Rückgang des arktischen Meereises zum anderen aber auch wirtschaftliche Möglichkeiten. Für Russland ist besonders interessant, dass der Klimawandel kommerziell nutzbare Wasserstraßen entlang arktischer Küstengewässer freilegen wird. Die Nördliche Seeroute wird voraussichtlich ab dem kommenden Jahrzehnt ganzjährig nutzbar sein. Bereits jetzt wird die Route ausgiebig befahren, um Erdöl und Flüssiggas aus der russischen Arktis abzutransportieren. Moskau investiert Milliarden in den Ausbau von Häfen und anderer Infrastruktur. Die Aussicht, Schiffe über die Nördliche Seeroute zwischen Atlantik und Pazifik passieren zu lassen, ist aber auch für viele Drittländer attraktiv. Neben Indien, Südkorea oder Japan interessiert sich insbesondere China für Zeiteinsparungen auf maritimen Transportrouten. Peking sieht zudem einen klaren taktischen Vorteil darin, die von den USA kontrollierten strategischen Meerengen in Asien und Afrika über die Arktisroute umschiffen zu können.

Darüber hinaus verfolgt China seit einigen Jahren auch eine eigene, ambitionierte Arktisstrategie. Das Land forscht in der Region zum Klimawandel und den Meeresspiegeln, möchte arktische Ressourcen nutzen und als angehende Supermacht Einfluss auf internationale Regelwerke nehmen. Nach langen Debatten wurde China 2013 als Beobachterstaat in den Arktischen Rat aufgenommen. Daraufhin baute das Land seine Eisbrecherflotte aus und machte wirtschaftliche Angebote an europäische Arktisländer. Vor allem kooperiert China in der Arktis aber mit Russland. Nach der Annexion der Krim von 2014 kauften chinesische Staatsunternehmen sanktionierte Wirtschaftsgüter in der russischen Arktis auf und investierten in russische Energieprojekte. Dadurch bekam die chinesische Präsenz in der Arktis eine solide materielle Basis. 2018 veröffentlichte das chinesische Außenministerium ein „Arktisches Weißbuch“, in dem China sich als „arktisnahen Staat” definierte und weitreichende Interessen in der Region anmeldete.

Die USA reagierten gereizt auf die arktischen Ambitionen Chinas. Während die amerikanische Arktispolitik sich unter Barack Obama noch vornehmlich auf Klima- und Umweltschutzfragen konzentriert hatte, vollzog sie unter Donald Trump eine radikale Kehrtwende. Auf dem Ministergipfel des Arktischen Rates von 2019 hielt US-Außenminister Mike Pompeo eine Wutrede auf die arktischen Aktivitäten Russlands und Chinas. Die Amerikaner warfen Peking vor, die Arktis in ein „zweites Südchinesisches Meer“ verwandeln zu wollen. Der Gipfel endete ohne gemeinsame Abschlusserklärung.

Militärische Problematiken, vor allem zu den möglichen „Dual-Use-Aspekten“ chinesischer Forschungstätigkeiten, dominierten fortan den amerikanischen Blick auf die Region. 2018 hatte Trump zudem einen Handelskrieg mit Peking vom Zaun gebrochen. Die bilateralen Beziehungen zwischen den Supermächten verschlechterten sich rasant. Die USA sahen in China zunehmend eine allumfassende Bedrohung. Sie erhöhten ihren Druck auf die europäischen Arktisstaaten, die wirtschaftlichen Kooperationen mit chinesischen Firmen in der Arktis zu unterbinden – auch unter der Nachfolgeregierung von Joe Biden.

Die Lähmung des Arktischen Rates

Bereits vor Russlands Invasion der Ukraine zeichnete sich daher eine Verschlechterung der sicherheitspolitischen Gesamtlage in der Arktis ab. Nach der Annexion der Krim belegten USA und EU Unternehmen in der russischen Arktis mit Sanktionen. Die Zusammenarbeit im Arktischen Rat setzte sich fort, auch wenn die Beziehungen zwischen Russland und den anderen Arktisstaaten sich deutlich verschlechtert hatten. Die westlichen Arktisstaaten zeigten sich allerdings zunehmend alarmiert über die russisch-chinesische Zusammenarbeit in der Region, die 2022 von Xi Jinping und Wladimir Putin zu einem Teil der „strategischen Partnerschaft ohne Grenzen“ zwischen beiden Ländern erklärt wurde.

Ihre Belastungsgrenze erreichte die arktische Regionalordnung im März 2022. Nach dem russischen Einfall in der Ukraine beschlossen die westlichen Arktisstaaten, die Zusammenarbeit mit Russland in der Region auszusetzen. Der Arktische Rat wurde zwar nicht aufgelöst, verfiel aber in einen dauerhaften Lähmungszustand. Insbesondere die nordischen Staaten unter Federführung Norwegens bemühen sich seither, ein Mindestmaß an regionaler Zusammenarbeit mit Russland wiederherzustellen. Dies scheiterte bisher aber vor allem daran, dass Moskau seine Bereitschaft zur arktischen Zusammenarbeit als Faustpfand einsetzt, mit dem es eine Verringerung westlicher Sanktionen erzwingen will. 2023 strich Russland sämtliche Erwähnungen des Arktischen Rates aus seinen Strategiedokumenten zur Arktis. Wladimir Putin verkündete zudem bereits 2022, er wolle in der arktischen Zusammenarbeit künftig „freundlichen Staaten“ Vorrang geben. China bringt sich inzwischen aus Furcht vor westlichen Sanktionen zwar etwas weniger stark in der russischen Arktis ein als nach der Annexion der Krim. Russland konnte das weltweit steigende Interesse an der Arktis jedoch erfolgreich dazu nutzen, neue Partner wie Indien, die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate oder Vietnam für arktische Projekte zu gewinnen.

Die nordischen Staaten betrachten den Krieg gegen die Ukraine als historischen Wendepunkt. Sowjetische Militärplaner sahen für den Fall eines Konflikts mit dem Westen einen sofortigen Truppeneinmarsch in Nordnorwegen vor. Oslo fühlt sich auch heute akut durch Russland bedroht. Auch Finnland und Schweden wären im Kriegsfall schnell russischen Angriffen ausgesetzt und traten kürzlich der Nato bei. Bereits seit 2014 bauen die Nato-Staaten ihre militärischen Fähigkeiten in der Arktis aus. Dieser Prozess wurde durch Russlands Krieg weiter beschleunigt. Die USA reaktivierten die 2. Flotte der US Navy und die 11. Luftlandedivision in Alaska und unterzeichneten bilaterale Militärabkommen mit den nordischen Staaten. Norwegen, Finnland, Schweden und Dänemark erhöhten massiv ihre Militärausgaben. 2024 hielt die Nato mit 20 000 Soldaten eine groß angelegte Militärübung in Nordskandinavien ab, um für einen Ernstfall oberhalb des Polarkreises zu proben.

Die drohende Militarisierung der Arktis

Die Sicherheitslage in der Arktis ist heute angespannter als vor fünf Jahren. Die regionale Ordnung ist angeschlagen, an ihre Stelle treten Aufrüstungsdynamiken. Neben dem Konflikt mit Russland strahlt auch der Großmachtwettstreit zwischen China und den USA auf die Arktis aus. Es herrscht Unklarheit über die politische Zukunft der Region. All dies geschieht zu einem Zeitpunkt, an dem das Interesse an der Arktis weltweit steigt.

Es ist daher richtig, dass die Bundesregierung auf diese veränderten Umstände reagiert. Als Nato-Mitglied steht Deutschland in der Pflicht, einen Beitrag zur Abschreckung Russlands in Nordskandinavien zu leisten. Gleichzeitig gilt es jedoch, die nordischen Staaten in ihrem Bestreben zu unterstützen, die Arbeit des Arktischen Rates aufrechtzuerhalten. Wichtige Aspekte der Forschung zu Klimawandel, Permafrost und Meereisschmelze sind beispielsweise ohne Daten aus Russland kaum durchführbar.

Zudem gilt es zu verhindern, dass die Militarisierung der Arktis zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung wird. Experten sind sich größtenteils einig, dass das militärische Dispositiv Russlands in der Arktis eher defensiver Natur ist. Maritime Grenzziehungen in der Region sind weitestgehend geklärt. Ein von Russland ausgehender Konfliktfall in der Arktis kann im Lichte von Putins Entscheidung, die Ukraine anzugreifen, zwar nicht ausgeschlossen werden, er bleibt aber vergleichsweise unwahrscheinlich, da die Kriegsführung im unerbittlichen Klima des Nordpolarkreises schwierig und teuer ist. Zudem verfolgt Russland auch weiterhin hauptsächlich das Interesse, die Arktis wirtschaftlich zu nutzen. Ein Krieg in der Region würde diese Pläne zunichte machen. Bedrohungsszenarien sollten daher grundsätzlich mit Vorsicht bedacht werden.

Russland ist zur Umsetzung seiner wirtschaftlichen Ziele in der Arktis außerdem auf die Unterstützung williger Drittstaaten angewiesen. China, Indien oder die Emirate interessieren sich aber nicht nur für arktische Ressourcen, sondern möchten auch Forschung zum Klimawandel betreiben und sich in die arktische Umweltdiplomatie einbringen. Der Westen sollte in Erwägung ziehen, wie die Zusammenarbeit mit Russland für diese Länder weniger attraktiv gestaltet werden könnte. Neben der „Peitsche“ aus Sanktionen und Abschreckungspolitik sollte dabei das „Zuckerbrot“ wissenschaftlicher und wirtschaftlicher Alternativangebote zum Einsatz kommen. So könnte verhindert werden, dass Russland seine Arktisgebiete wirtschaftlich entwickeln kann, ohne dabei seine Nachbarstaaten mit einzubinden. Russland könnte dadurch zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden. Für Mensch und Umwelt in der Arktis wäre das eine gute Nachricht.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Die Rückkehr des Besatzers

von Sergej Lebedew

Vor fünfzig Jahren, am 1. August 1975, wurde mit der Unterzeichnung des Abkommens von Helsinki die Unverletzlichkeit der nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Grenzen anerkannt. Wie wir wissen, dauerte die Ordnung von Helsinki etwa fünfzehn Jahre. Die Sowjetunion hörte auf zu existieren, und die Länder Ost- und Mitteleuropas fanden ihren Weg zu Freiheit und Eigenstaatlichkeit.

Was der Westen nicht wissen will

von Steffen Vogel

Es ist eine von jenen scheinbar unwichtigen Nachrichten, die rückblickend wie ein übersehenes Vorzeichen wirken können: Anfang Mai erschien in Russland ein Buch, zu dem Außenminister Sergej Lawrow ein Vorwort beisteuerte. Die These des von Regimeseite derart gewürdigten Werkes: Eine litauische Nation und Sprache gebe es nicht.