Die Bezahlkarte für Geflüchtete und der autoritäre Sozialstaat

Bild: Markus Söder (CSU) präsentiert auf einer Pressekonferenz in München die bayerische Bezahlkarte für Geflüchtete, 20.3.2024 (IMAGO / Bihlmayerfotografie)
Seit Monaten wird bundesweit über die Einführung einer Bezahlkarte für Geflüchtete diskutiert, Ende April stimmte nun auch der Bundesrat einer entsprechenden Änderung des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) zu, auf die sich die Ampelkoalition erst Anfang März geeinigt hatte. Schon zuvor hatte eine europaweite Ausschreibung für die Herstellung der Bezahlkarte begonnen, und in den Kommunen wird das Thema allerorten medienwirksam auf die Tagesordnungen der Gremien gesetzt. Der Landkreis Märkisch-Oderland in Brandenburg und viele Kreise in Thüringen und Sachsen führten Anfang Mai die Bezahlkarte gar im Alleingang ein. In Hamburg und Bayern wiederum laufen seit Februar bzw. März Pilotprojekte. Im Juni wollen die Ministerpräsident:innen ein einheitliches Konzept beschließen. Damit zeigt die Bezahlkarte beispielhaft, wie es gelingen kann, eine rechtspopulistische Idee zum Mainstream zu machen. In einer ganz großen Koalition beteiligen sich mittlerweile fast alle daran, soziale Rechte für Nichtdeutsche – nicht nur im AsylbLG – einzuschränken und Diskriminierungen auszuweiten.
Das Asylbewerberleistungsgesetz und die Bezahlkarte dienen als symbolisch aufgeladenes Versuchslabor, in dem die Instrumente für den autoritären Umbau des Sozialstaats getestet werden. Dabei üben Rechtsextremist:innen, Neoliberale, Konservative und Linksnationale den Schulterschluss, um die Ideologie der Ungleichheit auch in anderen Bereichen in die Praxis zu überführen: vom Asylbewerberleistungsgesetz über das Bürgergeld bis zur (noch nicht verabschiedeten) Kindergrundsicherung – bei allem schwingt mehr oder minder offen ein rassistisches Narrativ mit. Die Rechtsextremist:innen sind schon in der Opposition überaus erfolgreich. Um es anders zu sagen: AfD wirkt, die „rohe Bürgerlichkeit“ (Wilhelm Heitmeyer) feiert fröhliche Urständ. Ein Antrag der Unionsfraktion im Bundestag für eine Verfassungsänderung macht deutlich, worum es im Kern geht[1]: Das Gleichheitsversprechen des Grundgesetzes soll geschleift, das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum entlang rassistischer und klassistischer Trennlinien relativiert, die soziale Exklusion für bestimmte Bevölkerungsgruppen zur Normalität werden. Dabei setzt man offen darauf, dass das Bundesverfassungsgericht seine bisher recht progressive Rechtsprechung über den Haufen werfen wird. Um sich den gesellschaftspolitischen Rollback und den Durchmarsch rechtsradikaler Positionen konkret vor Augen zu führen, sollte man sich die jüngere Historie der Leistungsformen im AsylbLG ansehen: Vor fast genau zehn Jahren, im September 2014, hat der damalige und heutige baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann dem sogenannten Kretschmann-Deal zugestimmt. Gegen den Willen seiner Partei stimmte er im Bundesrat der Einstufung von Serbien, Bosnien-Herzegowina und Mazedonien als „sichere Herkunftsstaaten“ zu. Im Gegenzug handelte er unter anderem aus, dass im AsylbLG außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen das diskriminierende Sachleistungsprinzip weitgehend gestrichen wurde. Stattdessen wurde der Vorrang von Geldleistungen im Gesetz verankert.
Die nun beschlossene Änderung des AsylbLG sieht nicht nur vor, die Bezahlkarte als eine mögliche Leistungsform einzuführen. Auch der Vorrang von Geldleistungen wird gestrichen und die seit Jahren scheintoten Sachleistungen werden wiederbelebt. Die Bezahlkarte soll sogar für Personen eingeführt werden, die schon viele Jahre gefestigt in Deutschland leben. Damit ist eine wichtige sozialpolitische Errungenschaft der letzten Jahre wieder rückgängig gemacht worden. Und, nur nebenbei bemerkt, gibt es seit dem Kretschmann-Deal vor zehn Jahren fünf weitere „sichere Herkunftsstaaten“.
Die Bundesländer mit Ministerpräsident:innen jeder Couleur wollten allerdings nicht auf die bundesgesetzliche Einführung der Bezahlkarte warten: Stattdessen haben 14 von 16 Ländern sich schon vor Wochen auf Vorgaben geeinigt und eine europaweite Ausschreibung gestartet. In dieser schreiben die Bundesländer den Kartenbetreiber:innen sogenannte Mindeststandards vor – so soll mit der Bezahlkarte nur ein geringer Geldbetrag abgehoben werden können, Überweisungen sollen nicht möglich sein und bestimmte Händlergruppen und Branchen von der Benutzung ausgeschlossen werden können. Zudem soll die Nutzung der Karte innerhalb des Bundesgebiets regional begrenzt werden können – was einer Einschränkung der Bewegungsfreiheit gleichkommt. Völlig zu Unrecht werden diese Diskriminierungsvorgaben als „Mindeststandards“ bezeichnet. Das Gegenteil ist der Fall: Die Bundesländer und Kommunen werden weitgehend freie Hand haben, wie weit sie die Einschränkungen fassen wollen. Die Gewährleistung des menschenwürdigen Existenzminimums wird somit in den politischen Wettbewerb gestellt. „Wir machen‘s für die Ausländer noch schlimmer als die anderen!“, wird in Zukunft ein erfolgversprechender Wahlkampfslogan lauten. Die CSU in Bayern macht es schon vor, Ministerpräsident Markus Söder poltert: „Unsere Bezahlkarte kommt schneller und ist härter.“[2]
Für die Betroffenen wird das heißen: Sie können kein Deutschlandticket erwerben, keine Mietüberweisungen tätigen, keine Handyverträge abschließen, keine Raten an Rechtsanwält:innen zahlen, nicht auf dem Flohmarkt oder im Internet einkaufen, keine Haftpflichtversicherung bekommen. In Hamburg und Bayern etwa, die bereits vorgeprescht sind, können nur 50 Euro monatlich für Erwachsene und in Hamburg 10 Euro für Kinder abgehoben werden – pro Abhebung fallen dabei zwei Euro Gebühr an. Zugleich kann keineswegs in allen Geschäften mit Karte gezahlt werden – zumal für Buchungen mit Bezahlkarte wie bei einer Kreditkarte viel höhere Gebühren erhoben werden als bei einer Girokarte. Eine freie Disposition, wie und wo die geringen Sozialleistungen eingesetzt werden, ist somit nicht mehr möglich. Der Regelsatz wäre nicht mehr in nachvollziehbarer Höhe berechnet, da er auf Statistiken von Personen beruht, die ihr Geld in freier Entscheidung einsetzen können. Aus diesem Grund ist die Bezahlkarte nicht nur politisch falsch, sondern auch verfassungsrechtlich hoch bedenklich[3], wie auch der Deutsche Anwaltverein in einer Stellungnahme feststellt.[4]
Das falsche Versprechen des geringeren Verwaltungsaufwands
Bayern versucht, dieses Problem zu umgehen, indem die Sozialbehörden sogenannte Whitelists erstellen sollen – es werden „vertrauenswürdige“ Empfänger:innen festgelegt, an die die Leistungsberechtigten ausnahmsweise doch Überweisungen vornehmen können. Abgesehen von der paternalistischen Gutsherrenart, nach der diese Entscheidungen vermutlich getroffen werden: Eine Entlastung der Verwaltung sieht anders aus. Wenn nicht alle Bedarfe mit der Bezahlkarte gedeckt werden können, muss die Sozialbehörde laut dem nun beschlossenen Gesetz dafür sorgen, dass ein höherer Betrag abgehoben werden kann. Jede Entscheidung darüber ist dann ein Verwaltungsakt, gegen den jeweils mit Widerspruch, Klage und eventuell Eilantrag beim Sozialgericht vorgegangen werden kann. Auch dies führt zu mehr Verwaltungsaufwand statt zu weniger, wie immer versprochen wurde.
Aber darum geht es in Wahrheit auch gar nicht. Denn obwohl fast alle Betroffenen in den Kommunen über ein Konto verfügen, sollen die Sozialleistungen künftig auf das Parallelsystem der Bezahlkarte überwiesen werden. Ein immenser zusätzlicher Aufwand für die Behörden und erhebliche zusätzliche Kosten werden in Kauf genommen, um Diskriminierung und Kontrolle zu erreichen. Das Institut für Finanzdienstleistungen bezeichnet die Bezahlkarte daher völlig zu Recht als „ein Lehrstück, wie man finanzielle Inklusion verhindert und rechtspopulistische Narrative bedient“.[5]
Das falsche Versprechen der „Verwaltungsvereinfachung“ diente offensichtlich nur als Köder, um Unterstützer:innen für die Bezahlkarte zu gewinnen. Ebenso wie die haltlosen Behauptungen, mit der Bezahlkarte würden „Überweisungen ins Ausland oder an Schlepper“ verhindert, die die Geflüchteten angeblich bisher aus den Transferleistungen tätigten, oder es würden „Pull-Faktoren“ für Migration reduziert. Für beides gibt es keine wissenschaftlichen Belege. „Gerade bei sensiblen Eingriffen in die Existenzsicherung sollten sich Bund und Länder in ihren Entscheidungen auf fachliche Evidenz statt auf Anekdoten und Annahmen stützen, die nicht plausibel sind“, urteilt denn auch Herbert Brücker vom Forschungsinstitut der Bundesagentur für Arbeit in einem Gutachten für das Deutsche Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung.[6]
Aber die Bezahlkarte ist nur der erste, symbolisch aufgeladene, Schritt: Einen recht detaillierten Fahrplan für einen noch weitergehenden Umbau des Sozialstaats für Nichtdeutsche stellt ein knapp 60-seitiges Gutachten[7] vom September 2023 auf, das die CDU/CSU-Bundestagsfraktion beim Konstanzer Rechtsprofessor Daniel Thym in Auftrag gegeben hatte. Das Gutachten gibt konkrete Handlungsempfehlungen, an welchen Stellen Sozialleistungen unter anderem für Asylsuchende und Geduldete gekürzt oder am besten ganz gestrichen werden können. Seine erste Anregung, die Grundleistungen nach dem AsylbLG noch länger zu reduzieren – statt bisher 18 Monate, 24 oder 30 Monate –, wurde bereits zum 27. Februar umgesetzt: und zwar gleich noch restriktiver, als Thym es vorgeschlagen hatte. 36 Monate dauert seitdem der abgesenkte Bezug von Sozial- und Gesundheitsleistungen. Für Betroffene bedeutet das unter anderem, dass sie lediglich Anspruch auf medizinische Versorgung bei akuten Schmerzen, Schwangerschaft und Geburt haben. Verfassungsrechtlich dürfte die Verlängerung kaum haltbar sein.
Zweitens wird in dem Gutachten angeregt, die Sanktionen nach dem AsylbLG auszuweiten, um ihnen zu „einer größeren Durchschlagskraft“ zu verhelfen. Thym will diese vor allem auf Geduldete übertragen, die ihrer „Ausreisepflicht nicht nachkommen“. Da er weiß, dass das Bundesverfassungsgericht nur Sanktionen zulassen würde, die durch das eigene Verhalten jederzeit abwendbar wären, deutet er diese Leistungskürzung ebenso geschickt wie unzutreffend in eine „verhaltensbasierte“ Sanktion um – was sie nicht ist. Vielmehr ist es eine rein repressive Leistungskürzung, die die bloße Anwesenheit im Bundesgebiet mit dem Entzug des gesamten sozialen Existenzminimums bestraft. Thym biegt die Ausreise gedanklich zu einer Art Hilfe zur Selbsthilfe zurecht, auch wenn sie dazu führt, dass nach der Ausreise der Anspruch auf Leistungen erst recht entfallen würde. Darüber hinaus schlägt er, drittens, für Fälle von „Sekundärmigration“ vor, das physische und soziale Existenzminimum komplett zu streichen, wenn Personen bereits Schutz in einem anderen EU-Staat genießen – selbst wenn eine Abschiebung unmöglich ist. Dies kann zum Beispiel der Fall sein, wenn Menschen, die in Griechenland oder Italien – im Unterschied zu den „Dublin-Fällen“ – schon als Flüchtlinge anerkannt sind, nach Deutschland weiterfliehen, weil sie dort obdachlos und ohne Versorgung am Rande der Verelendung leben müssen. Auch für Geduldete aus „leicht erreichbaren Drittstaaten“ schlägt er einen vollständigen Leistungsentzug vor – betroffen davon wären einmal mehr Angehörige der Rom:nja aus den Westbalkanstaaten. Thym nutzt als Blaupause für diesen Vorschlag den bereits bestehenden Leistungsausschluss bestimmter, etwa nicht erwerbstätiger oder arbeitsuchender EU-Bürger:innen. In den Beratungsstellen für diese sind die Folgen dieser vollständigen sozialen und wirtschaftlichen Exklusion nur zu gut bekannt: Verelendung, Straßenobdachlosigkeit, Schutzlosigkeit, fehlende medizinische Versorgung, staatlich verursachte Kindeswohlgefährdung, moderne Sklavenarbeit.
Für Geflüchtete, für deren Asylverfahren gemäß des Dublin-Systems[8] ein anderer Staat, nämlich jener der Ersteinreise, zuständig ist, sollen ebenfalls sämtliche Leistungen gestrichen werden, wenn sie in einen anderen Staat weiterfliehen. Hierfür hat die EU mit Zustimmung der Bundesregierung bereits die Grundlagen geschaffen: Die künftige Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement als Teil des berüchtigten neuen Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) sieht vor, dass im unzuständigen Dublin-Staat kein Anspruch auf Sozialleistungen mehr besteht. Der sozialrechtliche „Squeeze-out“ wird gleichsam unionsrechtlich flankiert. Die Verordnung soll im Jahr 2026 in Kraft treten.
In welcher Gesellschaft wollen wir leben?
Würde das Bundesverfassungsgericht all die angedachten Einschränkungen oder Streichungen des Existenzminimums für bestimmte Bevölkerungsgruppen mittragen? Hat es nicht immer wieder betont, dass die Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren, das menschenwürdige Existenzminimum „stets“ und unabhängig von Staatsangehörigkeit oder Aufenthaltsstatus zu sichern ist? Thym setzt darauf, dass das Bundesverfassungsgericht aufgrund der rechten Hegemonie im gesellschaftlichen Diskurs seine eher progressive Rechtsprechung schon von selbst über Bord werfen werde. Um dem Nachdruck zu verleihen, stellt er scheinbar wissenschaftlich-neutral in den Raum: „Öffentliche Forderungen nach Rechtsprechungswandel können sich auch auf ,weniger‘ Grundrechtsschutz richten.“
Sicherheitshalber will das Gutachten das autoritäre Projekt jedoch parallel mit einer Verfassungsänderung flankieren. Dadurch könnten nicht nur bei den Leistungen für Geflüchtete, sondern auch im Bürgergeld und in der Kindergrundsicherung effektivere Ungleichbehandlungen verwirklicht werden. Thym schlägt vor, den Art. 20 GG – das Sozialstaatsgebot und damit eine der Grundlagen für die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum menschenwürdigen Existenzminimum – zu ergänzen: „Für Personen ohne deutsche Staatsangehörigkeit sind bei der Bestimmung des Existenzminimums und der Anwendung des Gleichheitssatzes die Dauer des bisherigen Aufenthalts, dessen Rechtmäßigkeit und das Leistungsniveau in anderen EU-Mitgliedstaaten zu berücksichtigen […]. Soweit ein anderer EU-Mitgliedstaat für die Existenzsicherung zuständig ist, können Leistungen nicht zusätzlich im Bundesgebiet beansprucht werden.“ Die Gewährleistung des Existenzminimums (und in diesem Zusammenhang auch der Gleichheitsgrundsatz) soll für Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit also nur noch eingeschränkt gelten. Die Menschenwürde in ihrer praktischen Ausformung wäre dann auch verfassungsrechtlich nicht mehr unantastbar; für Nichtdeutsche gälte sozialrechtlich eine Art Menschenwürde light. Wie explosiv das Fass ist, das da geöffnet werden soll, mag man sich kaum ausmalen. Hier würde tatsächlich die Axt an den Kern des Grundgesetzes gelegt. Die CDU/CSU hindert das indes nicht, den Vorschlag für diese Verfassungsänderung teils wörtlich zu übernehmen und in einem Bundestagsantrag „Leistungen für Asylbewerber senken – Rechtliche Spielräume nutzen“ einzubringen.[9] Hier wird es zentrale Aufgabe der progressiven Kräfte sein, die Verfassung, im besten Sinne konservativ, gegen die Konservativen zu verteidigen.
Mit der vorgeschlagenen Verfassungsänderung wäre man übrigens nicht mehr sehr weit weg von den Vorschlägen der AfD. Diese will nichtdeutschen Staatsangehörigen den Zugang zum Bürgergeld in vielen Fällen gleich ganz streichen, wie sie in einem Bundestagsantrag vom Januar forderte.[10] Zwar sind die Vorschläge der AfD nicht identisch mit denen der Union, aber es fallen doch die Ähnlichkeiten in der Argumentation, etwa bezüglich des Nachrangs der deutschen Sozialleistungen, ins Auge. Letztlich geht es bei all dem darum, den Sozialstaat unter Nationalvorbehalt zu stellen. Wie konkret das alles ist, konnte man am 8. April bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales im Bundestag miterleben. Dort haben die Abgeordneten von Union und FDP die geladenen Sachverständigen, unter ihnen Daniel Thym und der Bonner Juraprofessor Gregor Thüsing, interessiert nach den rechtlichen Möglichkeiten von Sozialleistungskürzungen oder -streichungen für Geflüchtete gefragt. Die Antwort der beiden Juristen war im Kern: Juristisch ist ganz vieles denkbar, es müsse nur politisch gewollt sein.
Und da haben sie recht. Wir müssen den national-autoritären Angriff auf den Sozialstaat politisch beantworten und dürfen uns nicht darauf verlassen, dass die Gerichte das Schlimmste schon verhindern würden. Denn es geht um die zutiefst politische Frage: In welcher Gesellschaft wollen wir leben? In einer Gesellschaft, in der die Sicherung der sozialen Teilhabe oder gar des physischen Überlebens vom richtigen Aufenthaltsstatus und der richtigen Staatsangehörigkeit abhängig gemacht werden? In der sich der Sozialstaat seiner Verantwortung für einige vollständig entzieht und sie auf Suppenküchen, Almosen, das Sammeln von Pfandflaschen, Mülltonnen, ehrenamtliche Unterstützer:innen und solidarische Hilfsstrukturen verweist? In der Menschen aus Angst vor einer Denunziation an die Ausländerbehörde nicht zur Ärzt:in gehen und sich nicht trauen, einen Sozialhilfeantrag zu stellen? In der manche nicht wissen, wovon sie morgen das Essen für sich und ihre Kinder bezahlen sollen? In der Sozialstaat, Flucht und Migration systematisch gegeneinander ausgespielt und Grund- und Freiheitsrechte weiter eingeschränkt werden? Wer all dies nicht möchte, sollte sich dem weiteren national-autoritären Umbau des Sozialstaats entschieden entgegenstellen.
[1] Drucksache 20/9740, 12.12.2023.
[2] br.de, 4.2.2024.
[3] Julian Seidl, Bar oder mit Karte? Zur bevorstehenden Einführung der Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsrecht, verfassungsblog.de, 7.3.2024.
[4] Deutscher Anwaltverein, Stellungnahme Nr.: 18/2024, April 2024.
[5] Stellungnahme zur Bezahlkarte für Geflüchtete, iff-hamburg.de.
[6] Wissenschaftliche Einschätzung der Bezahlkarte für Geflüchtete, dezim-institut.de, 8.4.2024.
[7] Daniel Thym, Gutachten über Spielräume zur Einschränkung von Asylbewerberleistungen und die Ausweitung des Sachleistungsprinzips, dx.doi.org/10.2139/ssrn.4623444, 4.9.2023.
[8] Mit dem sogenannten Dublin-System wird die Zuständigkeit für die Behandlung eines im Dublin-Raum gestellten Asylgesuchs bestimmt. Der Dublin-Raum besteht aktuell aus 31 Staaten: Den 27 EU-Staaten sowie vier assoziierten Staaten: Schweiz, Island, Liechtenstein und Norwegen.
[9] Drucksache 20/9740, 12.12.2023.
[10] Drucksache 20/10063, 16.1.2024.