Ausgabe Februar 2025

Nicht ein Wort des Erschreckens

Francesca Melandri: Kalte Füße, Cover: Wagenbach Verlag

Bild: Francesca Melandri: Kalte Füße, Cover: Wagenbach Verlag

Franco Melandri diente als Leutnant der Alpini, der italienischen Gebirgsjäger, in Mussolinis Armee. Als solcher marschierte er in die Sowjetunion ein und trat später den chaotischen Rückzug an. Anders als in Deutschland, wo sich die Kriegsgeneration öffentlich in Schweigen hüllte, wurde in Italien über diese Ritirata di Russia, den „Rückzug aus Russland“ gesprochen. Die Veteranen erzählten ihn als Opfergeschichte junger Männer, die sich nur mit Pappsohlen unter den Stiefeln durch den harten russischen Winter bis nach Hause schleppten und sich dabei oft Gliedmaßen abfroren. „Kalte Füße“ nennt Francesca Melandri, die Tochter des körperlich heil zurückgekehrten Leutnants, denn auch ihr Buch, das fulminant Erinnerung mit politischem Essay verbindet.

Ihr Ausgangspunkt ist eine jähe Erkenntnis im Vorfrühling des Jahres 2022. Als Melandri, zu diesem Zeitpunkt schon eine international bekannte Schriftstellerin, die Nachrichten über die russische Invasion der Ukraine verfolgt, stellt sie fest, dass sie die Namen der heutigen Kriegsschauplätze aus den Erzählungen und Büchern ihres Vaters kennt: Isjum, Dnipro, Charkiw. Der Soldat Franco Melandri, das realisierte seine Tochter erst in jenen Tagen, hatte nicht den Rückzug aus Russland angetreten, sondern aus der Ukraine.

»Blätter«-Ausgabe 2/2025

Sie haben etwa 15% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 85% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (2.00€)
Digitalausgabe kaufen (12.00€)
Druckausgabe kaufen (12.00€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Allzu perfekte Opfer

von Olga Bubich

„Das normale Vergessen ist der programmierte Zelltod des geistigen Lebens. Es formt die Erfahrung zu einer nützlichen Geschichte“, schreibt der amerikanische Schriftsteller Lewis Hyde. Da es keinen Grund gibt, ihm zu widersprechen, stellt sich eine nicht minder logische Frage – nützlich für wen?

Befreiung als Zusammenbruch

von Klaus-Dietmar Henke

Im August 1941 wandte sich Thomas Mann in einer seiner berühmten Radiobotschaften aus dem amerikanischen Exil wieder einmal an die deutschen Hörer. Die Sowjetunion schien fast besiegt, die Vereinigten Staaten befanden sich noch nicht im Krieg, Präsident Roosevelt und Winston Churchill hatten mit der Atlantik-Charta eben ihren Gegenentwurf zu Hitlers Pax Germanica der totalen Unterwerfung verkündet.

Kein »Lernen aus der Geschichte«

von Alexandra Klei, Annika Wienert

Wofür steht der 8. Mai 1945 in der deutschen Erinnerungskultur? Bereits zum 70. und zum 75. Jahrestags beschäftigten wir uns ausführlich mit dieser Frage. Ist dem jetzt, am 80. Jahrestag, etwas Neues hinzuzufügen?

Auschwitz vor Gericht oder: Nach den Wurzeln des Bösen fragen

von Fritz Bauer

Die Frage „Dienen KZ-Prozesse der politischen Aufklärung?“ unterstellt den wegen NS-Verbrechen eingeleiteten Strafverfahren einen instrumentalen Charakter; sie werden als Mittel zu einem Zweck, etwa dem Zweck der politischen Bewusstseinsbildung verstanden. Mündlich und schriftlich wird den Staatsanwälten der Bundesrepublik oft die Frage vorgelegt: Was bezweckt ihr denn eigentlich mit dem Auschwitz-Verfahren?