Ausgabe Januar 2025

Das Undenkbare denken

Israel und Palästina: Wir brauchen einen Neustart

»Es wird kein Ende des Krieges geben, ohne dass die Geiseln zurückkehren«, schreibt Gershon Baskin. Man sieht eine Teilnehmende einer Demo für einen Geisel-Deal, 10.10.2024 (IMAGO / UPI Photo / Debbie Hill)

Bild: »Es wird kein Ende des Krieges geben, ohne dass die Geiseln zurückkehren«, schreibt Gershon Baskin. Man sieht eine Teilnehmende einer Demo für einen Geisel-Deal, 10.10.2024 (IMAGO / UPI Photo / Debbie Hill)

Der jüdische Israeli Gershon Baskin hat unter anderem die Freilassung der Hamas-Geisel Gilad Schalit mitverhandelt und ist Direktor der Nahostabteilung der International Community Organisation (ICO). Der Palästinenser Samer Sinijlawi aus Ostjerusalem leitet den Jerusalem Development Fund. Beide entwickeln gemeinsam Initiativen, um den Krieg zu beenden und letztlich eine Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen. In zwei sich ergänzenden Teilen schildern sie für die »Blätter« aus ihrer jeweiligen Perspektive die Traumata des 7. Oktober sowie des Gazakriegs und skizzieren, wie Schritte zu einer friedlichen Zukunft aussehen könnten. Die Übersetzung stammt von Ferdinand Muggenthaler.

Am 14. Oktober 2023, eine Woche nach dem entsetzlichen Angriff der Hamas auf Israel, schrieb ich Folgendes: „Ihr denkt vielleicht, ich sei verrückt, wenn ich das schreibe, aber glaubt mir, es wird einen Tag nach morgen geben. Dieser schreckliche Krieg wird zu einem Ende kommen. Wir werden alle traumatisiert sein von dem, was wir durchgemacht haben. Wir werden überall um uns herum Verwüstung, Zerstörung, verwundete Menschen – geistig und körperlich – und viele Tote sehen. Wir werden unsere Toten begraben und wir werden nicht vergessen, was getan wurde und wer es getan hat. […]

Für die Israelis ist der Angriff am 7. Oktober die schwerste militärische Invasion und der schwerste terroristische Angriff seit 75 Jahren. Für die Palästinenser sind dieser Tag und die darauf folgenden Tage die heftige und offensichtliche Fortsetzung der Nakba. Es sind sehr dunkle Tage, und wir alle sind von den Geschehnissen betroffen.

Ich hoffe auf das, was ich einen ‚Belfast-Moment‘ nenne. Vielleicht ist es ein falscher Begriff, und wenn ja, entschuldige ich mich bei den Menschen in Nordirland. Ich meine den Zeitpunkt, an dem wir, die Zivilbevölkerung, nicht unsere Regierungen, uns umsehen und all den Tod und die Zerstörung sehen und sagen: Schluss damit! Nie wieder. Genug!!! Wir müssen unsere Zeit, Energie, Ressourcen, unseren Glauben und unsere Hingabe nicht mehr in das gegenseitige Töten investieren, sondern in den Aufbau einer neuen Realität. Wir müssen erkennen, dass auch nach diesem schrecklichen Krieg Israelis und Palästinenser hier auf diesem Land zwischen dem Fluss und dem Meer bleiben werden und dass niemand ein größeres Recht hat, hier zu sein, als ein anderer.“[1]

Der Belfast-Moment blieb aus

Jetzt, im Dezember 2024, mehr als ein Jahr später, ist der Krieg noch immer nicht beendet, 100 israelische und einige ausländische Geiseln befinden sich noch immer in Gefangenschaft, mehr als 46 000 Menschen im Gazastreifen sind tot, Tausende werden vermisst und mehr als zwei Millionen Menschen in dem Gebiet sind obdachlos. Der „Belfast-Moment“ ist nicht eingetreten, und es gab keinen Wechsel der Führung – weder in Israel noch in Palästina. Die israelische Regierung hat keinen Plan für die Beendigung des Krieges. Premierminister Benjamin Netanjahu hat sein persönliches politisches Überleben über die Interessen der Nation gestellt.

Israel war ein Land, das für seine gesellschaftliche Solidarität bekannt war. Als im Jahr 2011 Israel 1027 palästinensische Gefangene für einen im Gazastreifen gefangen gehaltenen israelischen Soldaten freiließ, war die ganze Welt voller Ehrfurcht vor Israel. Fast 80 Prozent der Israelis unterstützten den Deal, den israelischen Soldaten Gilad Schalit nach fünf Jahren und vier Monaten in Gefangenschaft nach Hause zu bringen. Netanjahu, schon damals Premierminister, unterstützte das Abkommen zusammen mit 26 Mitgliedern seiner Regierung, obwohl mehr als 300 der freigelassenen Gefangenen Israelis ermordet hatten. Zum Ethos Israels gehörte damals „wir lassen niemanden zurück“. Dieses Ethos gibt es im Jahr 2024 nicht mehr.

Die meisten Israelis leben immer noch in dem Glauben, die israelische Armee sei „die moralischste Armee der Welt“. Das ist ein Widerspruch in sich. Die Hamas hat am 7. Oktober 2023 moralische rote Linien überschritten und Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Aber seit dem 8. Oktober 2023 hat Israel moralische rote Linien überschritten und Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.

Die Regierung Netanjahu hat seit ihrem Amtsantritt darauf hingearbeitet, die Unabhängigkeit der israelischen Justiz zu beschneiden. Netanjahu weigerte sich, die Verantwortung für das Versagen Israels bei der Selbstverteidigung am 7. Oktober zu übernehmen und eine nationale Untersuchungskommission unter der Leitung eines Richters des israelischen Obersten Gerichtshofs einzusetzen. Auch das hat zu einer neuen Realität für Israel geführt, in der der Internationale Strafgerichtshof Haftbefehle gegen Netanjahu und den ehemaligen Verteidigungsminister Yoav Gallant wegen Kriegsverbrechen erlassen hat. Diese Haftbefehle ermöglichen es einzelnen Staaten, auch Haftbefehle gegen andere Israelis zu erlassen, darunter Politiker, Offiziere der Armee und israelische Soldaten, die nachweislich Kriegsverbrechen begangen haben.

Netanjahu führt Israel auf die schiefe Bahn der schwindenden Demokratie und in die Gefahren einer Autokratie. Das israelische Parlament hat so gut wie keine Kontrollmöglichkeiten gegenüber der Exekutive. Israels Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir, ist dabei, die israelische Polizei von einer Polizei des Volkes zu einer Polizei von Ben Gvir zu machen. Das Gleiche ist bereits bei der Gefängnisbehörde geschehen. Netanjahu arbeitet eifrig daran, den unabhängigen Generalstaatsanwalt abzusetzen. Sogar den Leiter des Inlandsgeheimdiensts Shin Bet will er loswerden, weil dieser sich weigert, Netanjahu seine volle Loyalität zu verschreiben statt dem Staat und seinen Gesetzen.

Das muss der letzte israelisch-palästinensische Krieg sein

Zurück zum Gazakrieg: Das Trauma, das beide Völker in diesem Krieg erlitten haben, wird ihnen vielleicht über Generationen hinweg in Erinnerung bleiben. Es scheint fast unmöglich, sich vorzustellen, dass es eines Tages Frieden zwischen ihnen geben könnte. Aber dies muss wirklich der letzte israelisch-palästinensische Krieg sein. Dank der Bemühungen der beiden Autoren dieses Artikels haben sich der ehemalige israelische Premierminister Ehud Olmert und der ehemalige Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde Nasser al-Kidwa zusammengefunden, um eine gemeinsame Vision für das zu entwickeln, was zwischen Israel und Palästina geschehen muss.[2] Ihr Plan umfasst drei Hauptelemente:

Erstens: Die sofortige Beendigung des Krieges im Gazastreifen; den Rückzug aller israelischen Streitkräfte aus dem Gazastreifen; die Freilassung aller von der Hamas festgehaltenen Geiseln; die Freilassung palästinensischer Gefangener aus Israel; die Schaffung eines neuen, vorübergehenden Führungsgremiums für die Hamas, dessen Leiter vom Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde ernannt wird, das aber unabhängig von der Autonomiebehörde bleibt, um Wahlen für alle palästinensischen Gebiete vorzubereiten; und die Entsendung einer arabisch geführten Sicherheitspräsenz, um Recht und Ordnung herzustellen und den Frieden zu bewahren.

Zweitens: Die Umsetzung der Zwei-Staaten-Lösung entlang der Waffenstillstandslinien vom 4. Juni 1967 mit einem Landtausch von 4,4 Prozent des Westjordanlandes, damit etwa 80 Prozent der israelischen Siedler bleiben können, wo sie sind, und um einen souveränen palästinensischen Korridor zwischen dem Westjordanland und dem Gazastreifen zu ermöglichen.

Drittens: Jerusalem als Hauptstadt beider Staaten, geteilt nach demographischen Gesichtspunkten. Die Altstadt von Jerusalem stünde dabei weder unter israelischer noch unter palästinensischer Souveränität, sondern fünf Nationen wären Treuhänder, von denen Israel und Palästina zwei wären. Die Religionsausübung wäre – entsprechend dem historischen Status quo in Jerusalem – für alle Konfessionen möglich.

Wie der Krieg enden kann

Es wird kein Ende des Krieges geben, ohne dass die israelischen und ausländischen Geiseln, lebend oder tot, zurückkehren. Es wird kein Ende des Krieges geben, wenn Israel sich nicht vollständig aus Gaza zurückzieht. Es wird kein Ende des Krieges geben, wenn die Hamas die Kontrolle über Gaza behält. Damit all dies geschehen kann, muss es ein ausgehandeltes Ende des Krieges geben, bei dem im Austausch für die Geiseln eine vereinbarte Zahl bestimmter palästinensischer Gefangener freigelassen wird. Der palästinensische Präsident Mahmud Abbas muss eine Person ernennen, die an der Spitze einer Übergangsregierung in Gaza steht, die aber unabhängig von der Palästinensischen Autonomiebehörde ist, die in Gaza nur sehr wenig Glaubwürdigkeit und Legitimität besitzt. Die neue palästinensische Regierung muss in der Lage sein, eine Sicherheitstruppe aufzustellen, die sie kontrolliert. Ehemalige Hamas-Mitarbeiter und Polizisten könnten in diese Truppe integriert werden, wenn sie die Legitimität des neuen Regierungsorgans anerkennen. Außerdem muss diese Regierung die arabisch geführte Sicherheitstruppe einladen können. Diese Einheiten könnten durch andere Soldaten, beispielsweise aus Europa, aufgestockt werden.

[1] Gershon Baskin, The day after tomorrow, gershonbaskin.org, 15.10.2023.

[2] Ehud Olmert und Nasser al-Kidwa, A way out of this endless war, washingtonpost.com, 4.10.2024.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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