Ausgabe Januar 2025

Unsere Geschichte darf nicht unsere Zukunft entscheiden

Israel und Palästina: Wir brauchen einen Neustart

Zwei Männer sitzen in den Trümmern von Nuseirat in Gaza, 29.11.2024 (IMAGO / NurPhoto / Majdi Fathi)

Bild: Zwei Männer sitzen in den Trümmern von Nuseirat in Gaza, 29.11.2024 (IMAGO / NurPhoto / Majdi Fathi)

Der jüdische Israeli Gershon Baskin hat unter anderem die Freilassung der Hamas-Geisel Gilad Schalit mitverhandelt und ist Direktor der Nahostabteilung der International Community Organisation (ICO). Der Palästinenser Samer Sinijlawi aus Ostjerusalem leitet den Jerusalem Development Fund. Beide entwickeln gemeinsam Initiativen, um den Krieg zu beenden und letztlich eine Zwei-Staaten-Lösung zu erreichen. In zwei sich ergänzenden Teilen schildern sie für die »Blätter« aus ihrer jeweiligen Perspektive die Traumata des 7. Oktober sowie des Gazakriegs und skizzieren, wie Schritte zu einer friedlichen Zukunft aussehen könnten. Die Übersetzung stammt von Ferdinand Muggenthaler.

Der Krieg im Libanon ist beendet. Wir alle haben nun die moralische Verpflichtung, den Krieg in Gaza zu beenden und die Geiseln zu den Bedingungen freizulassen, die die amerikanische Regierung bereits vor Monaten dargelegt hat. Es ist an der Zeit, eine neue Seite in unserer Geschichte aufzuschlagen und Millionen von Palästinensern und Israelis zu helfen.

Ganz gleich, wie lange dieser Krieg andauern wird, er wird nie etwas an einer einfachen Tatsache ändern: sieben Millionen Palästinenser und sieben Millionen Juden leben weiterhin auf diesem Stück Land. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir nur eine einzige echte Option haben: den Frieden. Es gibt keine andere Wahl.

Ich habe mir den israelisch-palästinensischen Konflikt oft als eine Art DNA vorgestellt. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist der eine Strang, der andere ist der Wunsch nach Würde. Um dies zu lernen, brauchte ich keine besondere Ausbildung. Es gehört zur Realität des Palästinenserdaseins. Wir leben in einem Zustand ständiger Demütigung: an jedem Kontrollpunkt, jedes Mal, wenn wir eine Grenze überqueren müssen, wenn Siedler im Westjordanland unser Volk angreifen und unsere Felder ungestraft niederbrennen. Die Hälfte unseres Lebens scheinen wir damit zu verbringen, in einer Schlange zu warten, während ein israelischer Soldat mit einem Gewehr über uns steht. Uns fehlt Freiheit, die grundlegende Menschenwürde wird uns verweigert. Und dieses Dasein, das Gefühl, für immer mit Füßen getreten zu werden, besteht nun schon seit mindestens drei Generationen.

Dies ist die DNA, der Wunsch nach Sicherheit und Selbstbestimmung. Indem wir diese beiden Wünsche anerkennen und beachten – anstatt Recht und Unrecht säuberlich trennen zu wollen oder die Geschichte zu wiederholen –, können Menschen guten Willens den Konflikt lösen.

Als Palästinenser bin ich endlosen Kummer gewöhnt

Die meisten Israelis und Juden scheinen das nicht zu wissen, aber ich kann ihnen versichern: Für die überwältigende Mehrheit der Palästinenser sind Frieden und ein eigener Staat alles, was wir je wollten. Wir wurden von einem Führer wie Präsident Mahmud Abbas im Stich gelassen, als ein realisierbarer Plan vorgelegt wurde. Wir hatten jahrzehntelang die falschen Repräsentanten. Wir wurden und werden von korrupten Regimen, die nur ihre eigenen Ziele verfolgen, als politische Schachfiguren benutzt. Was wir wirklich wollen, ist das, was die meisten Menschen wollen: politische Grundrechte, eine lebensfähige Zukunft, das Versprechen auf etwas Besseres.

Ich weiß, wie schwer es sein wird, die Hindernisse auf dem Weg dahin zu überwinden. Als Palästinenser bin ich endlosen Kummer gewöhnt. Die Zwei-Staaten-Lösung erscheint mir im Moment unmöglich, also müssen wir sie Schritt für Schritt aufbauen, indem wir für jede Verbesserung von der einen Seite auch etwas mehr auf der anderen anbieten. Die Menschen müssen sehen, wie Vertrauen entstehen kann. Dann werden wir auch bereit sein für die harten Entscheidungen.

Wir Palästinenser müssen mehr politische Reife zeigen und dazu gehört auch, selbstkritisch zu sein. Wir können uns von einer unwahrscheinlichen Quelle inspirieren lassen. Ahmed Abu Artema, ein junger Anführer der Hamas und einer der Organisatoren der „Großen Rückkehrmärsche“ in Gaza 2018/2019, äußerte sich kürzlich wie folgt: „Ja, ich entschuldige mich, und ich habe kein Problem damit. Ich entschuldige mich für viele meiner Überzeugungen in den vergangenen zwei Jahren, von denen ich festgestellt habe, dass sie eher auf Emotionen als auf politischer Weisheit beruhten.“

Viele Überzeugungen beruhen auf der Annahme, dass sich derjenige, der recht hat, durch ein übernatürliches Wunder durchsetzen wird, ohne Rücksicht auf die Machtverhältnisse oder die Gesetze von Politik und Gesellschaft. Wie viele andere habe ich diese Überzeugung durch eine stereotype Erziehung entwickelt, die uns Begriffe wie Loyalität, Verleugnung und Entschlossenheit bei gleichzeitiger Ignoranz gegenüber entscheidenden Teilen der Realität vermittelte.

Später wurde mir jedoch klar, dass das Leben viel komplizierter ist und dass die Überzeugung, ein Anrecht zu haben, nicht bedeutet, dass man ohne Rücksicht auf die regionalen und internationalen Kräfteverhältnisse siegreich sein wird. Im Prinzip recht zu haben beinhaltet nicht das Recht, der ganzen Welt den Krieg zu erklären. Derjenige, der mit dem Kopf gegen eine Wand schlägt, zerstört nicht die Wand, sondern den Kopf.

In der Politik sind nicht Glaube und Recht entscheidend

Mir wurde klar, dass Sieg und Ermächtigung durch das Sammeln von Punkten und ein langsames und stetiges Voranschreiten erreicht werden, nicht durch den einen entscheidenden Schlag oder einen großen Sprung. Mir wurde klar, dass in der Politik nicht Recht und Unrecht, Glaube und Unglaube entscheidend sind, sondern Kräfte- und Interessenverhältnisse, und dass die politische Arbeit darin besteht, verschiedene Kräften zu vernetzen, um gemeinsame Interessen zu erreichen und Schaden zu verringern. Mir ist klar geworden, dass unkalkulierbare Abenteuer und ungleiche Konfrontationen eine Form des Wahnsinns sind und dass die Begriffe Opfer und Märtyrertum nichts anderes als Selbstmord bedeuten, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden. Mir ist klar geworden, dass die Weisheit verlangt, sich im Sturm zu beugen, damit er uns nicht entwurzelt, ohne dass dieses Beugen eine innere psychologische Niederlage bedeutet.

Mir ist klar geworden, dass es kein Mangel oder eine Niederlage ist, die neue Realität anzuerkennen, sondern Ausdruck von Intelligenz und Mut. Der intelligente Mensch ist derjenige, der den Wandel von Anfang an aufgreift und die neuen Kräfte erkennt, auch wenn sie nicht mit seinen ideologischen und politischen Launen übereinstimmen. Er beginnt seinen Weg mit der Suche nach dem, was in dieser neuen Realität möglich ist. Derjenige dagegen, der die Veränderungen leugnet, wird viel verlieren, und die Zeit wird über ihn hinweggehen. Mir wurde klar, dass es besser ist, ein Stück zu gewinnen, als alles zu verlieren, und dass die Geschichte nicht mit uns endet. Wenn wir nicht zwischen Wünschen und Möglichkeiten unterscheiden, wird die Sache damit enden, dass wir verschwinden, ohne dass die Geschichte mit unserem Verschwinden aufhört. Unser politisches Handeln muss sich an seinen Ergebnissen messen lassen, das Umfeld berücksichtigen, in dem es stattfindet, und die verfügbaren Mittel im Blick behalten.

In eine ähnliche Richtung geht auch die Fatwa des beliebtesten islamischen Geistlichen des Gazastreifens, Salman Aldaya, die er vor kurzem gegen den Angriff Jahia Sinwars am 7. Oktober erlassen hat, der den Gazastreifen in einen Krieg stürzte, der Zehntausende von Palästinensern getötet und ein ganzes Volk mittellos und obdachlos gemacht hat. Was genau hat er mit dem Angriff vom 7. Oktober erreicht? Er hat Netanjahus Behauptung bestätigt, dass man einem palästinensischen Staat nicht wird trauen können; hat Netanjahus rechtsextreme Koalitionspartner ermutigt, die den gesamten Gazastreifen wieder besiedeln wollen, und hat selbst unter gemäßigten Israelis die Haltung gegenüber den Palästinensern verhärtet.

Ich bin nach wie vor zuversichtlich, dass die Mehrheit der Palästinenser und Israelis wirklich den Frieden will, wirklich. Aber wie ich schon immer gesagt habe, müssen wir jetzt handeln. Denn wenn wir es nicht tun, werden wir nur Verwüstung und Ruin erleben. Vor einem Jahr habe ich in der „New York Times“ einen Gastkommentar geschrieben, dessen Titel immer noch gültig und notwendig ist: Mahmud Abbas muss gehen.[1] Wenn wir wirklich Gaza ohne Hamas wollen, müssen wir mit dem Westjordanland ohne Abbas beginnen. Das palästinensische Volk weiß, dass er eine Belastung ist, aber es besitzt kein politisches Instrument, um sein Regime zu beenden. Diejenigen, die ihn angeheuert haben, sollten ihn entlassen. Es war die Regierung von George W. Bush, die Abbas den Palästinensern aufgezwungen hat, und er wird so lange an der Macht bleiben, wie Washington sein korruptes Regime gegen den Willen von 90 Prozent der Palästinenser stützt. Es ist an der Zeit, dass diese ungerechte Unterstützung ein Ende hat.

Die Israelis wiederum müssen einen Weg finden, Netanjahu und seine extremistischen Koalitionspartner abzuwählen. Nichts wird sich ändern, solange die israelische Führung nicht den Nutzen eines palästinensischen Staates erkennt und weiter mit einer solchen Gleichgültigkeit gegenüber unserem Leben und unseren Bedürfnissen handelt.

Was die Israelis eint

Israelis auf der linken und auf der rechten Seite des politischen Spektrums reden nicht miteinander, aber ich spreche mit beiden Seiten. Ich habe festgestellt, dass es viele Themen gibt, die sie trennen, aber es gibt zumindest eine Sache, die sie eint: die gemeinsame Überzeugung, dass das einzige Land auf der Welt, das sie nicht hasst und dem sie vertrauen können, die Vereinigten Staaten von Amerika sind – obwohl die meisten rechtsgerichteten Israelis glauben, dass nur die Republikaner hinter ihnen stehen. Und damit zusammenhängend, dass die Palästinenser sie weiterhin hassen werden und dass sie den Palästinensern nicht vertrauen können. Natürlich gilt das nicht für alle Israelis. Aber die Mehrheit, auch in der Linken, ist zutiefst skeptisch.

Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu und seine rechtsgerichtete Regierung sind nicht daran interessiert, den Palästinensern irgendwelche Zugeständnisse zu machen. Sie nehmen uns kaum wahr und sind entschlossen, unsere Forderungen auf unbestimmte Zeit zu ignorieren. Aber ich glaube nicht, dass sie die Mehrheit jener Israelis repräsentieren, die Netanjahu nicht mögen und die wollen, dass seine Herrschaft endet. Ich glaube, dass diejenigen, die jede Woche zu Zehntausenden in Tel Aviv und Jerusalem protestieren, wissen, dass der Status quo für beide Völker nicht akzeptabel ist.

Es ist schwer für mein eigenes Volk, das sich von der israelischen Macht unterdrückt fühlt, dies zu verstehen, aber die Ängste der Israelis sind real, nicht übertrieben oder erfunden. Die Bilder vom 7. Oktober haben sich in ihr Gedächtnis eingebrannt. Vor allem seit dem Massaker sehnen sie sich nach der Art von Sicherheit, die sich jeder von uns wünschen würde, und sie werden niemals die Sicherheit ihrer Familien verschenken. Sie sind kein selbstmörderisches Volk.

Als Palästinenser haben wir die Macht, dieses Stereotyp über uns in den Köpfen der Israelis zu zerstören. Wir müssen ihnen zeigen, dass Vertrauen möglich ist, dass Koexistenz kein Traum ist und dass wir keinen bösen Willen hegen. Und wenn wir das tun, werden wir sehen, dass diese Gefühle erwidert werden. Wir brauchen einen Neustart. Und, ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass das so schwierig ist, wie die Leute es sich vorstellen. Sobald wir das Vertrauen des anderen gewonnen haben, können wir eine politische Lösung anstreben, die diesen Konflikt ein für alle Mal beendet. Wir haben eine Geschichte, dessen bin ich mir bewusst. Aber sie muss nicht über unsere Zukunft entscheiden.

[1] Samer Sinijlawi, Mahmoud Abbas Must Go, nytimes.com, 21.12.2023.

Aktuelle Ausgabe Oktober 2025

In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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Wer seit dem 7. Oktober 2023 von Deutschland aus die Nachrichten zum Nahen Osten fortlaufend verfolgt, der steht vor einem quälenden Problem. Die Tag für Tag eintreffenden Informationen, Bilder und Videosequenzen sind so unerträglich geworden, dass man nahezu unausweichlich in eine moralische Zwangslage zu geraten droht.