Die klimapolitische Ignoranz der Regierung Merz

Bild: In Deutschland leben über 500 verschiedene Wildbienen- und Hummelarten. Fast jede zweite ist in ihrem Bestand gefährdet (IMAGO / Margit Wild)
Sie heißen „Kegelbiene“, „Vierfarbige Kuckuckshummel“ oder „Mannstreu-Sandbiene“: In Baden-Württemberg leben fast 500 verschiedene Wildbienen- und Hummelarten. Noch, muss man leider sagen, denn in den vergangenen 20 Jahren haben sich ihre Lebensbedingungen dramatisch verschlechtert. Fast jede zweite Art ist in ihrem Bestand gefährdet, wie die neue „Rote Liste“ für diese Insekten zeigt.[1] Damit hat sich der Anteil jener Hummel- und Wildbienenarten, denen ein Aussterben droht, seit dem Jahr 2000 fast verdoppelt.
Die Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg macht den Menschen direkt dafür verantwortlich: „Neue Siedlungen, Bauprojekte und Versiegelung zerstören viele Kleinstrukturen, die für Wildbienen essenziell sind.“ Dazu kämen Überdüngung, der Einsatz von Pestiziden und zu häufiges Mähen, was die Qualität verbleibender Habitate verschlechtert. Wildbienen sind auf bestimmte Kräuter oder Blüher als Nahrung spezialisiert. Fehlen diese, können die Insekten nicht überleben.
Zu finden sind solche Pflanzen häufig auf Flächen, die von den Landwirten nicht intensiv bewirtschaftet werden. Allerdings gibt es diese immer seltener. Um Fördermittel von der EU zu erhalten, müssen Bauern bestimmte Auflagen erfüllen. Eine davon ist, dass sie vier Prozent ihrer Ackerfläche nicht bewirtschaften dürfen, um Platz für Wildwuchs zu lassen. Doch nach den Missernten der extrem trockenen Jahre 2018, 2019 und 2021 und dem extrem nassen Jahr 2023 schlug die EU-Kommission vor, diese Regel zur Flächenstilllegung auszusetzen. Die bündnisgrünen Umwelt- und Agrarminister Steffi Lemke und Cem Özdemir folgten dem.[2] Weniger stillgelegte Fläche bedeutet aber weniger Lebensraum für Kräuter und Blüher.
Auch indirekt leiden die Wildbienen und Hummeln unter dem Menschen, wie Ulrich Maurer, Präsident der Landesanstalt erklärt: Der zunehmende Klimawandel verkompliziere ihr Leben, „extreme Niederschläge und Dürren führen dazu, dass die Nester bodenbrütender Arten überschwemmt werden und benötigte Blüten verdorren“. Für manche Spezies wird es schlichtweg zu warm.
Zugleich sind die immer wärmeren Winter eine Todesfalle: Erwachen beispielsweise Hummeln wegen der schon frühlingshaften Temperaturen früher im Jahr aus dem Winterschlaf, stehen oft noch nicht genügend blühende Pflanzen zur Verfügung, die Nahrung spenden. Die ausgeschwärmten Königinnen verhungern, bevor sie ein neues Volk gründen können.
Der Winter ist heute 20 Tage kürzer
Die Lehre vom Einfluss der Witterung auf die jahreszeitliche Entwicklung der Pflanzen nennt sich Phänologie. Phänologen interessieren sich beispielsweise für den Beginn der Baumblüte, zeichnen den Beginn der Blattfärbung und das Ende des Laubfalls auf. Die oft mehr als hundert Jahre alten Daten illustrieren den Stand des Klimawandels. Das zeigt sich etwa bei der Apfelblüte in Hessen: Im Mittel der Jahre 1961 bis 1990 entfalteten die Bäume am 126. Tag im Jahr ihre Knospen. Im Zeitraum 2010 bis 2018 blühten sie bereits am 112. Tag – also zwei Wochen früher. Nicht selten folgt wenig später nochmal ein Wintereinbruch mit Frosttemperaturen, unter denen früh blühende Bäume nachhaltig leiden: Die Blüten erfrieren und die Bäume entwickeln keine Früchte.
Der Winter ist jener Zeitraum, in dem Phänologen nichts aufzeichnen können, er wird markiert vom Ende des Blattfalls der Eiche (Winterbeginn) und dem Blühen der Hasel (Beginn des Vorfrühlings). Lag dieser Zeitraum vor dem Klimawandel im Schnitt bei 94 Tagen, so verkürzte er sich im vergangenen Winter auf nur noch 74 Tage. Doch die Winter sind nicht nur immer kürzer, sie sind auch immer wärmer. Nach Erhebung des Deutschen Wetterdienstes gab es in diesem Februar einen extremen Wechsel von Winter- zu Frühlingstemperaturen: Auf der Schwäbischen Alb wurden bereits am 21. Februar 18,9 Grad gemessen.[3] Kein Wunder, dass Bienen- und Hummelköniginnen immer früher erwachen.
Langzeitstudien verdeutlichen das Bild. Ein britisch-kanadisches Forscherteam beobachtete die Entwicklung dutzender Hummelarten in Europa und Nordamerika: Ihre Anzahl ist massiv und flächendeckend zurückgegangen.[4] Schuld seien längere und extremere Wärmeperioden, warnten die Biologen im Jahr 2020. „Wenn der Rückgang in diesem Tempo weitergeht, könnten viele dieser Arten innerhalb weniger Jahrzehnte für immer verschwinden“, erklärte Studienautor Peter Soroye von der Universität Ottawa. Das Team konnte nachweisen, dass das Verschwinden der Insekten direkt mit dem häufigeren Auftreten von Wetterextremen wie Hitzewellen und Dürren zusammenhängt.
Hummeln sind als Bestäuber ähnlich wichtig wie Bienen. Weltweit werden fast 90 Prozent aller Blütenpflanzen von Insekten bestäubt, bei den Nutzpflanzen immerhin 75 Prozent. Als „Ökosystemdienstleistung“ bezeichnet die Wissenschaft diesen Aspekt des Insektenlebens, der ökonomische Nutzen der Bestäubung wird weltweit auf 153 Mrd. Euro pro Jahr geschätzt. Fehlen Hummeln und Bienen, ist das für den Menschen wie die Tierwelt ein Riesenproblem: Ohne Bestäuber gibt es keine Samen, deshalb auch keine Früchte, von denen sich Singvögel oder Käfer ernähren, die wiederum für andere Arten wichtige Beutetiere sind. Ein Großteil der Obst- und Gemüsesorten weltweit hängt von Bestäubern ab, gerade diese Früchte versorgen die Menschheit mit lebenswichtigen Nährstoffen wie Vitaminen, Calcium und Folsäure.
Baden-Württemberg: Vorbote der Veränderung
Baden-Württemberg ist jenes Bundesland, in dem das heißeste Klima in der Bundesrepublik anzutreffen ist. Und Baden-Württemberg ist in vielerlei Hinsicht Vorbote: In den 1980er Jahren lebte eine kleine Population von Gottesanbeterinnen lediglich rund um den Kaiserstuhl. In diesem Mittelgebirge vulkanischen Ursprungs in der Oberrheinischen Tiefebene herrscht mediterranes Klima. Doch inzwischen ist die ursprünglich aus Afrika stammende Fangschrecke bereits auch in Berlin-Schöneberg heimisch. Im Jahr 2007 fand man erstmals Eier der „Asiatischen Tigermücke“, die – sofern selbst infiziert – Malaria übertragen kann, auf dem Rastplatz Rheinaue an der A5. Die ursprünglich in den süd- und südostasiatischen Tropen und Subtropen beheimatete Stechmückenart hat sich mittlerweile als stabile Population rund um Jena etabliert. Konnten Zecken früher nur ganz im Süden Borreliose-Bakterien oder FSME-Viren übertragen, so gilt seit 2019 auch das Emsland als Risikogebiet, im Osten reicht dies bis nach Frankfurt an der Oder. Was vor Jahrzehnten in Baden-Württemberg möglich war, hat sich mit den steigenden Temperaturen Richtung Norden und Osten verschoben. Hierzulande bislang nicht heimische Arten breiten sich aus, zugleich sind hiesige gefährdet – und damit das eingespielte Ökosystem. Derzeit leben noch 28 Hummelarten in Baden-Württemberg, nicht einmal mehr die Hälfte gilt als „ungefährdet“. Die Samthummel beispielsweise wurde in den 1990er Jahren als „bedroht“ eingestuft. Jetzt gilt sie als „ausgestorben“.
Der Wildbienen- und Hummelschwund ist lediglich Vorbote einer viel breiteren Aussterbewelle, warnen Wissenschaftler: Schon sehr bald drohe ein regelrechter Kollaps der biologischen Vielfalt, erklärte 2020 ein internationales Forscherteam um Alex Pigot vom University College London.[5] Für seine Studie hatte es die Lebensbedingungen von mehr als 30 000 Meeres- und Landarten sowie die Klimaverhältnisse der Jahre 1850 bis 2100 analysiert. Ergebnis: In den vergangenen Jahrzehnten seien viele Spezies näher und näher an ihre jeweilige Temperaturschwelle gerückt. Zwar hätten sich viele Arten gerade noch auf die neuen Verhältnisse einstellen können, in Kürze aber sei bei vielen Arten gleichzeitig das Limit erreicht. Bereits vor 2030 werde deshalb ein abruptes Massensterben in den tropischen Ozeanen einsetzen – und bis 2050 auch auf die tropischen Regenwälder und gemäßigte Breiten übergreifen.
Die dramatischen Folgen des Klimawandels wurden vor 20 Jahren von der Wissenschaft vorhergesagt, jetzt treffen sie in schwindelerregendem Tempo ein. Im seichten Teil des Mittelmeers vor der israelischen Küste, wo die Wassertemperaturen in den vergangenen Jahrzehnten besonders stark gestiegen sind, haben Forscherinnen und Forscher bereits einen Rückgang der Artenvielfalt um 95 Prozent dokumentiert.
Neuer Kolonialismus: Freikaufen statt Alternativen zu entwickeln
In Deutschland leben schätzungsweise 71 900 Tier- und Pflanzenarten, da-runter allein 33 300 verschiedene Insekten. Bis zu 30 Prozent davon könnten in den kommenden Jahrzehnten wegen des Klimawandels aussterben, wurde bereits 2008 in einem Bericht der Bundesregierung gewarnt.[6] Trotzdem spielt 17 Jahre später engagierter Klimaschutz im neuen Koalitionsvertrag keinerlei Rolle. Im Gegenteil: SPD und Union geben jene kleine Chance auf, die uns noch bleibt, um den Temperaturanstieg wenigstens auf ein Maß zu begrenzen, das menschliches Überleben möglich macht.[7] Treibhausgase einzusparen, ist in der Klimapolitik nur die zweitwichtigste Aufgabe: In erster Linie geht es darum, Alternativen zu unserem klimaschädlichen Leben zu entwickeln. Ohne das EEG beispielsweise, das „Gesetz zur Förderung Erneuerbarer Energien“, wäre die Welt längst auf einem 5-Grad-Trip. Das von SPD und Bündnisgrünen im Jahr 2000 in Kraft gesetzte Gesetz führte dazu, dass Solartechnik und Windkraft so günstig wurden, dass sie sich weltweit durchsetzten. Seit 2015 wurden mehr als die Hälfte aller geplanten Kohlekraftwerke nicht (weiter-)gebaut, wie eine Analyse des „World Resources Institute“ ergab –, weil sich Kohle einfach nicht mehr rentiert.[8] Dass wir Europäer Vorreiter beim Entwickeln fossilfreier Lebensweisen sein müssen, liegt eigentlich auf der Hand: Dampfmaschine, Privat-PKW und Sonntagsbraten jeden Tag – es war unser Lebensstil, der die Klimaerhitzung entfesselte. Doch anstatt neue Wege zur Treibhausgasreduktion auszuprobieren, haben Union und SPD im neuen Koalitionsvertrag jetzt verabredet, „CO2-Minderungen in außereuropäischen Partnerländern“ vorzunehmen. Die Idee dahinter: Deutsche Investitionen reduzieren in den Ländern des Globalen Südens Treibhausgase, die Koalition will sich die eingesparte Menge dann auf die deutsche Reduktionspflicht anrechnen.
Das aber ist die Fortsetzung jener alten Politik, die sich längst als untauglich zur Problemlösung erwiesen hat. Bäume in Afrika pflanzen, Solarkocher an Dorfgemeinschaften ausgeben oder Staudämme für Wasserkraftwerke in Asien bauen – unter dem Kyoto-Protokoll wurde dies als „Clean Development Mechanism“, als CDM, gelabelt. Und schon damals ging diese Politik nicht gut: Meistens war strittig, ob der Staudamm nicht ohnehin gebaut worden wäre, es also durch deutsche Investitionen gar keinen Mehrwert für den Klimaschutz gab. Die Solarkocher waren natürlich nur dann klimafreundlich, wenn sie die Gewohnheit, mit Holz zu kochen, ersetzten, was oft nicht der Fall war. Und sicher war die Zukunft der neu gepflanzten Bäume nie: Wird ihr Holz verfeuert, werden jene Treibhausgase wieder frei, die sich der Investor zuvor gutgeschrieben hatte.
Statt sich angemessen für die Zukunft zu wappnen und neue Politikansätze zu suchen, spielt die schwarz-rote Koalition den reichen Onkel, der sich mit seinem Geld von der Verantwortung freikauft. Die „außereuropäischen Partnerländer“ müssen das als neue Form des Kolonialismus empfinden, etwa wenn in Namibia Windräder in einem Nationalpark aufgestellt werden, um damit Wasserstoff für deutsche Fabriken herzustellen. Für eine Tonne Wasserstoff werden sieben Tonnen reinstes Trinkwasser benötigt. Namibia ist eines der wasserärmsten Länder der Welt, die Deutschen nutzten das einst als Waffe gegen die aufbegehrenden Völker der Nama und Herero: Die „Schutztruppe“ trieb die Menschen in die wasserlose Omaheke-Wüste und ließ sie dort verdursten.
Die Probleme der Zukunft werden ignoriert
Zwar taucht das Wort „Zukunft“ 69-mal im neuen Koalitionsvertrag auf, allerdings weigern sich Union und SPD mit diesem Vertrag, die Probleme der Zukunft überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Das zeigt sich beispielsweise bei der Pendlerpauschale: Statt klimaschädliche Subventionen zu streichen, wollen die Koalitionäre diese sogar noch erhöhen. Oder beim Gebäudeenergiegesetz: Statt den Umstieg auf klimafreundliche Heizungen zu beschleunigen, wird er erschwert und künftig wohl nicht mehr Standard sein. Kein Fortschritt auch bei der Landwirtschaft: Statt diese – wie von der EU vorgeschlagen – in den europäischen Emissionshandel einzubeziehen, machen die Koalitionäre davon „keinen Gebrauch“. Fatale Signale auch im Verkehrsbereich: Statt Emissionen zu reduzieren, soll die „Luftverkehrsteuer“ reduziert werden, was das klimaschädliche Fliegen gegenüber dem Bahnfahren weiter verbilligen wird.
Immerhin kann man den Energie- und Umweltpolitikerinnen und -politikern der SPD anrechnen, dass sie die schlimmsten Forderungen der Union und ihres Kanzlerkandidaten verhindert haben, die diese im Wahlkampf ausposaunten – etwa die Neuauflage der Atomstromproduktion, Fusionskraftwerke oder den Rückbau von Windparks, „weil Windräder hässlich sind“. „Es bleibt richtigerweise beim beschlossenen Atomausstieg“, urteilt Nina Scheer, klimaschutz- und energiepolitische Sprecherin der SPD-Fraktion: „Der Koalitionsvertrag enthält ein klares Bekenntnis zur Energiewende.“
Allerdings enthält der Koalitionsvertrag auch den Plan, neue Gaskraftwerke mit 20 000 Megawatt Leistung zu bauen. Mit diesen Fossilkraftwerken, die 30 Jahre lang arbeiten müssen, um sich zu amortisieren, soll der Strompreis gesenkt werden. Und weil Deutschland bereits im Jahr 2045 klimaneutral sein will – und nicht erst 2055 –, sollen diese Kraftwerke die Technik der CO2-Abscheidung nutzen, das sogenannte CCS: Als solches wird die Trennung von Treibhausgasen aus Industrieanlagen oder Kraftwerkschloten bezeichnet, um das Gas dann zu verflüssigen und unterirdisch einzuspeichern. Die SPD sieht das „äußerst kritisch“[9], konnte sich aber offenbar in den Verhandlungen nicht durchsetzen. Beschlusslage der Sozialdemokraten ist nämlich, dass CCS nur dort zum Einsatz kommen soll, wo Treibhausgase unvermeidbar sind, bei bestimmten Industrieprozessen oder der Abfallverbrennung. „Für uns hat die Vermeidung von Treibhausgasen Vorrang vor dem Verpressen“, hatte Nina Scheer vor der Bundestagswahl erklärt. Gaskraftwerke aber produzieren Treibhausgase, die durch Wind- oder Solartechnologie vermeidbar wären.
Nicht einmal gute fachliche Praxis ist vor dem neuen Koalitionsvertrag sicher, wie die europäische Chemikalienrichtlinie REACH zeigt: Wer in der EU eine neue Chemikalie in Verkehr bringen möchte, muss derzeit zuvor nachweisen, dass sie ungefährlich ist. Union und SPD wollen dagegen künftig einen „risikobasierten Ansatz“ einführen. Etwa so wie in den USA? Dort kann eine neue Substanz ohne eine solche Zulassung in Verkehr gebracht werden, der Hersteller haftet für eventuelle Schäden. Hierzulande will die neue Koalition zugleich die Klagerechte der Umweltverbände einschränken, obwohl gerade diese doch erwiesenermaßen Investitionen sicherer machten. Schließlich will sie die Wirtschaft ankurbeln, indem „Spielräume im EU-Recht“ genutzt werden: Das heißt übersetzt: Die neue Koalition will Standards absenken. Das aber löst die Probleme unserer Zeit nicht, sondern verschärft sie.
Neue, wärmeliebende Arten rücken vor
Denn wir stecken bereits mittendrin, die Auswirkungen der klimatischen Veränderungen sind längst spürbar: Erstmals war die globale Oberflächentemperatur im Jahr 2024 weltweit im Durchschnitt 1,6 Grad wärmer als in der vorindustriellen Zeit, wobei es manche Weltregionen stärker trifft, Europa beispielsweise, wo es nach Angaben des EU-Dienstes Copernicus 2024 bereits knapp drei Grad wärmer war.[10] Wegen steigender Temperaturen haben sich die Lebensräume im weltweiten Durchschnitt bereits um rund 17 Kilometer pro Jahrzehnt in Richtung der Pole verschoben, umgerechnet sind das 4,5 Meter pro Tag.
Unaufhaltsam wandern mit den steigenden Temperaturen neue Pflanzen- und Tierarten in Mitteleuropa ein, etwa der Bienenfresser, ein wärmeliebender Vogel aus Südeuropa. Oder die Pazifische Auster, die in der Nordsee den heimischen Miesmuscheln erfolgreich den Lebensraum streitig macht. Ursprünglich ist Crassostrea gigas vor den Küsten Koreas und Japans zu Hause und es war nicht der Klimawandel, sondern der Mensch, der sie in die Nordsee brachte: Austernzüchter setzten sie erstmals Mitte der 1980er Jahre vor Sylt in Drahtkörben im Wattenmeer aus.
Damals glaubten die Züchter, das relativ kalte Wasser der Nordsee genüge zwar zum Wachstum, nicht aber zur Fortpflanzung. Doch schon in den warmen Sommern 1990 und 1994 vermehrten sich erstmals auch in der Nordsee Pazifische Austern, die viel robuster als Miesmuscheln sind. Ein defekter Drahtkorb und weiter steigende Wassertemperaturen genügten, um das Leben im Wattenmeer vor komplett neue Herausforderungen zu stellen: Möwen oder Eiderenten ernähren sich von Miesmuscheln, die dicken, sperrigen Schalen der Austern können sie hingegen nicht knacken. Das aggressive Ausbreiten der fremdländischen Auster hat die Bestände der Miesmuscheln jedoch stark dezimiert.
Der Riesenbärenklau Heracleum mantegazzianum ist ein anderes Beispiel. Die wärmeliebende, bis zu drei Meter hohe „Herkulesstaude“ stammt aus Kleinasien. Bei uns hat die Pflanze keinerlei Fressfeinde und vermehrt sich dank der gestiegenen Temperatur inzwischen prächtig. Allerdings sondert der Riesenbärenklau einen giftigen Saft ab, was ihn besonders für Kinder zu einer gefährlichen Pflanze macht. Ein weiteres Beispiel ist die Nilgans, die mittlerweile bis zur Spree vorgedrungen ist und einheimische Vogelarten aggressiv verdrängt.
Zunehmender Hitzestress für heimische Arten und hitzeresistente Konkurrenz aus dem Süden: Das Bundesamt für Naturschutz (BfN) hat das Schicksal der mehr als 500 in Deutschland geschützten Tierarten untersucht.[11] Ergebnis: Lediglich elf Prozent von ihnen werden wohl relativ problemlos mit der zu erwartenden Klimaerhitzung klarkommen. Steigen die Temperaturen weiter, werden 77 Prozent der untersuchten Arten einem mittleren Überlebensrisiko ausgesetzt. Für zwölf Prozent ist es dann wohl zu spät.
Das zeigt sich auch am Moselapollofalter: Etliche Arten können nicht einfach in kühlere Gebiete in den Norden weiterziehen, da sie auf bestimmte Futterpflanzen angewiesen sind, die bei uns wachsen. Wie der Name sagt, ist der Moselapollofalter weltweit nur im Moseltal anzutreffen, wo er an den felsigen Steilhängen die Futterpflanze für seine Raupen findet, die Weiße Fetthenne. Normalerweise überwintern die Raupen bis zum April – aber wegen der ausbleibenden Frosttage schlüpfen sie jetzt immer früher und finden dann kein Futter, weil die Fetthenne noch nicht herangewachsen ist.
Solche Schicksale sind gut erforscht und längst keine Zukunftsmusik mehr, wie die Samthummel in Baden-Württemberg zeigt. Wie wenig das Union und SPD kümmert, lässt sich auch am geplanten „Sondervermögen“ und der aufgeweichten „Schuldenbremse“ studieren: Mehr Geld zu investieren bedeutet, den Ressourcenverbrauch weiter anzukurbeln. Und solange es sich bei diesen Ressourcen um Zement, Stahl, Benzin oder Kieselsäure handelt, wird die Atmosphäre weiter angeheizt.
Klimaschutz aber muss ein „Weniger“ von Vielem bedeuten: weniger Treibhausgase, weniger Zersiedelung, weil unbebauter Boden Kohlendioxid speichert, das entweicht, wenn dort ein Parkplatz entsteht. Weniger landwirtschaftlich genutzte Fläche, weil beim Umbruch der Bodenkrume Treibhausgas emittiert wird. Weniger Fleisch, weniger Tempo auf der Autobahn, weniger Flüge, weniger Energieverbrauch, weniger Konsum, vor allem weniger Ressourceneinsatz – nur wenn wir weniger von allem nutzen, besteht die Chance, die gefährlichen Kippelemente im Weltklimasystem stabil zu halten.
Vorreiter für klimafreundliches Leben gesucht
Damit stellt sich die Frage: Können wir dieses „Weniger“ durch den Einsatz von mehr Geld erreichen? Denn natürlich gehören zu funktionierendem Klimaschutz auch einige „Mehrs“: Mehr Moore müssen wieder vernässt, mehr Flächen stillgelegt und mehr Geld muss aufgewendet werden, um das Stromnetz aufkaufen und zukunftsfreundlich umbauen zu können. Mehr Finanzkraft muss aufgebracht werden, um den sozialen Ausgleich der Energiewende zu organisieren, und mehr Fördergeld muss eingesetzt werden, damit sich die klimafreundlichen Technologien durchsetzen.
Doch die Vergangenheit hat gezeigt, dass dieses Mehr nicht durch mehr Geld zu erzielen ist: Vattenfall hat am Standort Schwarze Pumpe genauso lange in die Erforschung der Abscheidung von Treibhausgasen investiert, solange es dafür Fördermittel gab. Die Deutsche Post hat genau so lange in E-Autos investiert, solange die Steuerzahler blechten. Zwar gibt es üppige Förderungen für die Wärmewende, trotzdem ist der Absatz der Wärmepumpe im vergangenen Jahr fast um die Hälfte eingebrochen. ThyssenKrupp hat von den Steuerzahlern zwar Milliarden für die Umrüstung auf grünen Stahl bekommen; doch weil fossiler Stahl billiger ist, stellt der Konzern sein Projekt jetzt selbst infrage.
Das zeigt: Es sind die Rahmenbedingungen, die Klimaschutz gelingen lassen. Solange es ein Dienstwagenprivileg gibt – dieser Euphemismus bedeutet, dass sich reiche Selbstständige ihren Neuwagen vom Steuerzahler finanzieren lassen[12] –, wird es im Verkehr nicht vorangehen mit der Treibhausgasreduktion. Wenn die deutsche Fleischindustrie mit Milliarden subventioniert wird, darf man sich nicht wundern, wenn die Landwirtschaft keine klimaverträglichen Alternativen entwickelt. Wer die Modernisierung im Heizkeller „technologieoffen“ gestalten will, der will nicht, dass der Gebäudesektor zum Klimaschutz beiträgt.
Es mag sein, dass der neue Koalitionsvertrag der maximale Kompromiss ist, um das Land jenseits der rechtsextremen AfD stabil zu regieren. Für das Artensterben und die Klimaerhitzung jedoch ist er eine Katastrophe.
[1] LUBW Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg, Rote Liste und Verzeichnis der Wildbienen Baden-Württembergs, Naturschutz-Praxis Artenschutz 4, Karlsruhe 27.3.2025.
[2] Vgl. Bundesregierung setzt Kommissionsvorschlag zu GLÖZ 8 um, bmel.de, 29.2.2024.
[3] Vgl. Deutschlandwetter im Februar 2025, dwd.de, 27.2.2025.
[4] Peter Soroye, Tim Newbold und Jeremy Kerr, Climate change contributes to widespread declines among bumble bees across continents, in: „Science“, 8/2020, S. 685-688.
[5] Christopher H. Trisos, Cory Merow und Alex L. Pigot, The projected timing of abrupt ecological disruption from climate change, in: „Nature“, 18/2020, S. 496-501.
[6] Vgl. Entwicklung eines Indikatorensystems für die Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel (DAS), umweltbundesamt.de, Dezember 2011.
[7] CDU/CSU, SPD, Verantwortung für Deutschland, cdu.de, 2025.
[8] Joel Jaeger, Lessons from the Coal Boom that Didn’t Happen, wri.org, 9.7.2024.
[9] Nina Scheer, nina-scheer.de, 9.4.2025.
[10] 2024 – A second record-breaking year, following the exceptional 2023, climate.copernicus.eu, 10.1.2025.
[11] Wolfgang Rabitsch u.a., Auswirkungen des rezenten Klimawandels auf die Fauna in Deutschland, in: „Naturschutz und Biologische Vielfalt“, 98/2010.
[12] Vgl. Benjamin Fischer, Dienstwagenprivileg: Wie die Ampel die Verkehrswende ausbremst, in: „Blätter“, 2/2022, S. 17-20.