
Bild: v.l.n.r: Jan van Aken (Die Linke), Lars Klingbeil (SPD) und Franziska Brantner (Die Grünen) während der konstituierenden Sitzung nach der Bundestagswahl, 25.3.2025 (IMAGO / Mike Schmidt)
Nicht von jeder Koalition lässt sich sagen, dass sie bereits mit dem ersten Tag Historisches „geleistet“ hat. Für die große Koalition, die in Wahrheit längst eine kleine ist, trifft diese Beschreibung jedoch durchaus zu. Tatsächlich hat sie sich gleich zu Beginn Bemerkenswertes geleistet: Dass Friedrich Merz am 6. Mai als der erste der bisher neun Bundeskanzler dieses Landes – bei einer Bundeskanzlerin – im ersten Wahlgang durchgefallen ist, steht bereits jetzt in den Geschichtsbüchern. Und dass es noch am selben Tag zum zweiten Wahlgang mit der dann klaren Mehrheit für Merz gekommen ist, verdankt sich ironischerweise der Hilfe von Grünen und Linkspartei, da es für die Anberaumung dieses Termins laut Geschäftsordnung einer Zweidrittel-Mehrheit bedurfte. Ohne das Mitwirken der durchaus staatstragenden Opposition wäre aus einer Blamage für den sichtbar unvorbereiteten Kanzler zwar immer noch nicht die allzu alarmistisch ausgerufene „Staatskrise“ geworden, aber doch ein veritabler Fehlstart, der vor allem außenpolitisch erheblichen Schaden angerichtet hätte. Denn dann hätten die lange geplanten Antrittsbesuche in Paris und Warschau verschoben werden müssen, hätte Merz auch nicht gemeinsam mit den anderen Staatchefs seine wichtige Reise nach Kyjiw antreten können, die Putin veranlasste – wenn auch nur zum Schein –, in Verhandlungen mit der Ukraine einzuwilligen.
Dank dieses außenpolitischen Erfolgs, der sowohl die Geschlossenheit der EU als auch, mit Blick speziell auf Trump, die fehlende Friedenswilligkeit Putins demonstrierte, dürfte das Wahldesaster für das weitere Regieren eher nebensächlich sein.
Dennoch ist das Scheitern im ersten Wahlgang hoch symptomatisch – als fundamentales Misstrauensvotum gegenüber der eigenen Regierung. Denn auch wenn wohl nie geklärt werden wird, von wem die abweichenden Stimmen stammten, bringt der Vorgang ein echtes Dilemma zum Ausdruck, das insbesondere die progressiven Kräfte dieses Landes plagt. Einerseits wünscht man dieser Koalition inständig Erfolg, nicht zuletzt, um auf diese Weise den weiteren Aufstieg der AfD zu verhindern. Andererseits gibt es berechtigte Zweifel, ob gerade diese Regierung in der Lage sein wird, das Land auf einen ökonomisch wie sozial-ökologisch nachhaltigen Weg zu bringen. Denn speziell wirtschaftspolitisch bleibt die Merz-Union in erster Linie eine rein marktliberale Partei. Das zeigt nicht zuletzt eine vermeintlich eher abseitige Personalie, nämlich die Berufung des Merz-Intimus und Geistesverwandten Wolfram Weimer zum neuen Kulturstaatsminister. Der Ex-Springer-Journalist und kurzzeitige „Welt“-Chefredakteur war in der Vergangenheit kein, wie zum Teil befürchtet, völkischer Denker, sondern stets ein ökonomischer Vulgärliberaler[1] mit anti-ökologischem Sendungsbewusstsein, immer scharf gegen die „grünen und linken Spinner“ (Merz).
Als 2007 das „International Panel of Climate Change“ (IPCC) alarmierende Klimadaten veröffentlichte, zog Weimer in der März-Ausgabe des von ihm 2004 gegründeten „Cicero“ gegen die „ökologische Internationale“ und angebliche „grüne Apokalypse“ zu Felde. Anschließend nahm er sich mit anderen Autoren, vornehmlich aus dem Hause Springer, in denunziatorischer Weise den renommierten Klimaforscher Stefan Rahmstorf vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung vor, dem diese Propagandisten des Marktradikalismus ihrerseits „Propaganda“ in einer Debatte mit angeblich „totalitärem Charakter“ vorwarfen – mehr Verunglimpfung geht kaum.[2] Weil sich an dieser klimaschutzskeptischen bis -feindlichen Einstellung bei Merz, Weimer und Co. bis heute wenig geändert hat, wäre es regelrecht absurd, wenn man aus der Notwendigkeit geschlossenen Regierens gegen die AfD so etwas wie ein Stillhalteabkommen zugunsten der Regierung ableiten wollte. Auch deshalb ist das Gerede von der „letzten Patrone der Demokratie“ (Söder) so fatal, suggeriert es doch, dass die Machtübernahme der AfD zwingend bevorsteht, wenn es mit dieser Koalition nicht klappt. Die Verhinderung der AfD droht auf diese Weise zur rhetorischen Allzweckwaffe der GroKo zu werden, um sich gegen jegliche Kritik zu immunisieren.
Die Doppelstrategie der SPD
Dabei kommt es insbesondere für die SPD auf zwei Dinge an: einerseits auf überzeugendes, geschlossenes Regieren, gerade in Absetzung von der fatalen Kakophonie der Ampel. Deshalb ist in der Tat das erste halbe Jahr so wichtig, in dem die richtigen Weichen gestellt werden müssen, damit der Glaube an die Handlungsfähigkeit der Regierung zurückkehrt.
Andererseits muss die SPD endlich wieder eine echte Idee ihrer selbst entwickeln. Nur so wird sie eine inhaltliche und strategische Perspektive entfalten können, die über die große Koalition hinausweist. Es gehe darum, die Regierungspolitik selbstbewusst zu vertreten, und gleichzeitig das eigene progressive Profil zu schärfen, stellt der neue SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf zu Recht fest. Die SPD solle und müsse wieder „faszinierend werden aus eigener Stärke“.[3]
Bis dahin dürfte es allerdings noch ein weiter Weg sein, wenn man bedenkt, wie wenig Strahlkraft die SPD in den vergangenen Jahren entwickeln konnte. Zudem spricht wenig dafür, dass die Partei die bestmögliche Regierungsaufstellung für die erforderliche, wenn möglich sogar visionäre, Profilierung gewählt hat. Gerade weil der Kampf gegen die AfD die Bündelung der stärksten Kräfte verlangt, wäre die Besetzung der Ministerämter nach inhaltlicher Qualifikation entscheidend gewesen. Doch genau das ist nicht geschehen: Dass nicht der ausgewiesene Umweltexperte der Fraktion, nämlich Matthias Miersch, zum Umweltminister gemacht wurde, sondern stattdessen ein Technokrat wie Carsten Schneider, der als vormaliger Ostbeauftragter seine Verdienste haben mag, aber umweltpolitisch bisher nicht nennenswert in Erscheinung getreten ist, ist symptomatisch für die schon traditionelle Vernachlässigung der Klimapolitik durch die Sozialdemokratie.
Den gleichen Fehler begeht die SPD-Führung auf dem Feld der Entwicklungspolitik, wo die gestandene Amtsinhaberin Svenja Schulze durch die auf diesem Gebiet völlig unerfahrene Reem Alabali-Radovan ersetzt wurde. Wäre es alleine nach den Inhalten gegangen, hätte sich eine andere Besetzung aufgedrängt: Umweltminister Miersch, Entwicklungsministerin Schulze und Fraktionsvorsitzender Hubertus Heil. Aber ganz offensichtlich war hier das Interesse des „neuen starken Mannes“ der SPD, Lars Klingbeil, weniger sach- als rein macht- und damit loyalitätsorientiert. Da hätte ein rhetorisch begabter und in der Partei zudem sehr anerkannter Mann wie Heil wohl eine zu große Konkurrenz dargestellt, zumal die beiden nicht gerade als befreundet gelten.
Dabei hätte eine derart erfahrene SPD-Riege einen erheblichen Vorteil gegenüber der Unions-Mannschaft bedeutet, in der außer Alexander Dobrindt niemand über Erfahrung als Bundesminister verfügt. Stattdessen kommt nun für die SPD in Kürze ein weiteres Problem hinzu: Wenn die Delegierten auf dem kommenden Parteitag (vom 25. bis 27. Juni) Bärbel Bas zur neuen Co-Vorsitzenden gewählt haben werden, wird die neue Doppelspitze je zwei Hüte aufhaben: als Parteivorsitzende und als Kabinettsmitglieder in der Regierung Merz. Eine derartige zwei- oder gar dreifache Arbeitsbelastung (Klingbeil zudem als Vizekanzler) ist alles andere als eine gute Voraussetzung für den arbeitsintensiven Neuaufbau der Partei.
Klingbeils zentrales Ziel besteht darin, nicht noch mehr Anteile des einstigen Wählerpotenzials an die AfD als die neue Arbeiterpartei zu verlieren. „Ich sag’ das sehr klar: Meine Antwort auf 16,4 Prozent ist nicht, dass die SPD noch polarisierter, noch radikaler, noch weiter nach links rücken muss“, so der Parteivorsitzende zu seinen Kritikern auf dem Parteitag der NRW-SPD.[4] Deshalb ist sein Fokus in der Regierung, aber auch beim Parteiaufbau – im Duett mit der neuen Arbeits- und Sozialministerin – ganz klar auf die Revitalisierung der SPD als Partei der Arbeit und des Industriestandorts Deutschland gerichtet. Vermeintliche sozialdemokratische „Orchideenthemen“ wie Klimaschutz und Entwicklungshilfe drohen dabei unter die Räder zu kommen.
Gefangene Grüne, befreite Linke
Die Grünen wird es – unter taktischen Gesichtspunkten – freuen. Sie werden die parteipolitischen Nutznießer dieser koalitionären Schwachstellen sein. Ihre politische wie kulturelle Hegemonie in klima- und umweltpolitischen Fragen dürfte von dieser Koalition nicht herausgefordert werden. Vielmehr wird deren Schwäche auf diesen Feldern den Grünen voraussichtlich gute Möglichkeiten zur eigenen Profilierung bieten. Diese wird die Partei auch brauchen, da sie sich nach der langen Dominanz von Robert Habeck und Annalena Baerbock in einer personellen Umbruchsphase befindet. Zudem stecken speziell die Grünen in der besagten Loyalitätsfalle gegenüber der Regierung. Auch sie sind an deren Erfolg im Sinne einer Bekämpfung und Verringerung der AfD stark interessiert, zumal sie über diverse Landesregierungen mit SPD und Union in einem Boot sitzen. „Auf Sie wird es ankommen, auf Ihre Regierung“, sagte denn auch Grünen-Co-Fraktionschefin Katharina Dröge in ihrer Antwort auf die erste Regierungserklärung des neuen Kanzlers und wünschte ihm „viel Erfolg für die nächsten Jahre“.
Angesichts der komplizierten Lage von SPD und Grünen hat der dritte Akteur auf Seiten des linken Parteienspektrums eindeutig die beste Startposition. „Die Linke“ hat das strategische Glück, dass sie nur noch in zwei Bundesländern (Bremen und Mecklenburg-Vorpommern) koalitionär eingebunden ist und sich auch nicht wie die Grünen quasi in einer Sandwichposition (eingeklemmt zwischen SPD und Linkspartei) befindet. Dadurch wird rustikale Oppositionsarbeit erheblich erleichtert – zumal sich „Die Linke“ dabei der vollen Gegnerschaft der Merz-Union gewiss sein darf.
„Mit AfD und Linkspartei sind zwei Systemgegner unterwegs, sie stellen infrage, dass unser System noch funktioniert“, postuliert der Kanzler in seinem ersten großen Interview nach der Wahl die angebliche Gleichgefährlichkeit von AfD und Linkspartei[5] – und das, obwohl die GroKo die Kooperationsbereitschaft der Linken für Abstimmungen, die einer Zweidrittelmehrheit bedürfen, auch in Zukunft noch brauchen dürfte. Damit argumentiert Merz ganz im Geiste der noch immer die Union dominierenden Hufeisentheorie, wonach Rechts- und Linksextremismus zwingend spiegelbildlich existieren müssen und die eine Seite so verfassungsfeindlich wie die andere sei. Merz hat ganz ersichtlich bis heute den entscheidenden Unterschied nicht begriffen – oder will ihn nicht begreifen: Die einen kämpfen für ein anderes Wirtschaftssystem innerhalb der Demokratie, die anderen bekämpfen die Demokratie als solche. Letzteres wäre das Ende der Demokratie, Ersteres ist in unserer offenen Wirtschaftsverfassung durchaus verfassungskonform.
„Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden“, heißt es denn auch nicht im aktuellen Parteiprogramm der Linkspartei, sondern im Ahlener Programm der CDU von 1947, das massive Verstaatlichungen vorsah. Damals war der Union durchaus noch klar, dass Demokratie und Kapitalismus nicht gleichzusetzen sind, ja mehr noch: dass die scharfe Begrenzung des Kapitalismus eine Notwendigkeit ist, nicht zuletzt aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus. Heute hingegen gilt der Merz-Union entschiedene Kritik am Kapitalismus bereits als Verfassungsfeindschaft – und das obwohl die Suche nach den Kapitalismus begrenzenden Alternativen durch die massive Verschärfung der ökologischen Krise in den vergangenen 80 Jahren immer dringlicher geworden ist.
Das bereits zeigt, dass die Möglichkeiten einer wirklich nachhaltigen Krisenbewältigung mit dieser Regierung ausgesprochen begrenzt sind – und es umso mehr auf ein Nachdenken über linke Alternativen ankommt, in ökonomischer, aber auch koalitionärer Hinsicht.
Gewiss, bis dahin ist es noch ein weiter Weg, und zwar nicht nur arithmetisch (momentan kommen SPD, Grüne und Linke im Bund nicht einmal auf 40 Prozent), sondern auch inhaltlich. Fürs erste wird man sich daher an eine möglichst konstruktive Arbeitsteilung gewöhnen müssen: sozialdemokratischer Reformismus an der Regierung, grüne Verantwortungsethik aus der Halbdistanz und demokratischer Antikapitalismus von der Linkspartei.
Entscheidend ist, dass diese Konstellation kein Nullsummen-Spiel wird, bei der die Gewinne der einen Partei durch die Verluste der anderen aufgewogen werden, sondern dass das rechte Lager wieder an Stimmen verliert. Nur so kann es – jedenfalls mittelfristig – gelingen, eine linke Regierungsperspektive zu entwickeln.
Gelingt dies den drei potenziellen Links-Koalitionären dagegen nicht, bedeutet das faktisch auf unabsehbare Zeit eine strukturelle Regierungsdominanz des konservativen oder gar reaktionären Politspektrums. Denn dort wird längst, jedenfalls strategisch, über zukünftige Rechtskoalitionen nachgedacht, schon mit Blick auf die kommenden Landtagswahlen im Osten. Bleiben die rechten Koalitionsoptionen alternativlos, wäre dies in der Tat, um im Merz-Jargon zu bleiben, für unser „System“ höchst fatal. Denn auf einem Bein kann eine Demokratie nicht dauerhaft stehen – und schon gar nicht, wenn es nur das rechte ist.
[1] Thomas Schmid, Friedrich Merz und die Minister von der Union, welt.de, 2.5.2025. Zu Weimers pompösen „Manifest des Konservatismus“ Jürgen Kaube, Sorgen um die „Fortdauer des eigenen Bluts“?, faz.net, 27.4.2025.
[2] Albrecht von Lucke, Oh, Cicero, in: „Blätter“, 10/2007, S. 1187-1188.
[3] Zit. nach Mona Jäger, So eine Sozialdemokratin ist selten, in: „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (FAZ), 13.5.2025.
[4] Christian Wernicke, „Gespür für die Partei und Kompass verloren“, sueddeutsche.de, 10.5.2025.
[5] „Wir brauchen keine Nachhilfestunde in Sachen Demokratie“, in: „Die Zeit“, 15.5.2025.