Wie der Westen die Humanität verrät

Bild: Die Palästinenser fliehen erneut aus dem Norden des Gazastreifens, nachdem die israelische Armee ihre Angriffe verstärkt und ihren Besatzungsplan für Gaza-Stadt in die Tat umsetzt, 26.8.2025 (IMAGO / Anadolu Agency / Abdalhkem Abu Riash)
Inzwischen kann kaum jemand mehr den Bildern des Grauens in Gaza entgehen. Spät haben sie politische Reaktionen in Europa ausgelöst, doch diese bleiben ohne sichtbare Wirkung auf den Krieg. Es ist ein verstörender Zustand. Verstörend auch, weil die Angst vieler Juden seit dem 7. Oktober genauso begründet ist wie der Schock darüber, dass das Morden und die Unmenschlichkeit in Gaza hingenommen werden.
Als der französische Historiker Jean-Pierre Filiu im Mai dieses Jahres sein Buch „Un historien à Gaza“ veröffentlichte, druckte die Zeitung „Le Monde“ einen langen Auszug. „Nichts bereitete mich darauf vor, was ich in Gaza gesehen und erlebt habe. Rein gar nichts. Gar nichts.“[1] So beginnt sein Bericht über diesen Krieg, der zu einer Bruchstelle im 21. Jahrhundert geworden war, schon bevor der katastrophale Hunger die europäische Politik zu einer Art von Handeln gebracht hat. Ein Handeln, das für viele und vieles zu spät kommt. Gaza ist eine Ruptur, es markiert ein Vorher und ein Nachher, so wie es auch ein Vorher und Nachher des 7. Oktobers gibt. Wie diese verschiedenen Vorher und Nachher miteinander verbunden sind, wie das eine Grauen mit dem anderen Grauen zusammenhängt, wie gerecht oder gerechtfertigt der Krieg war und wann er ungerecht, unmenschlich, ein Verbrechen wurde – das sind Fragen, die seit dem Beginn des Krieges im Oktober 2023 diskutiert werden und die weit in die Zukunft hineinwirken, weil sie entscheidend sind nicht nur für das Selbstverständnis Israels und die Sicht auf Israel, sondern auch für die Frage, was dieser Krieg für eine universelle Humanität als Grundlage einer gerechten Weltordnung bedeutet.
Die dreifache Sackgasse
„Gaza in der Nacht des Krieges wiederzuentdecken, ist bereits verstörend“, so schildert Filiu seinen ersten Eindruck bei seiner Reise in den Gazastreifen Ende 2024. „Aber es sind verwüstete Gebiete, die aus dem Schatten auftauchen, während der Konvoi voranschreitet. Eine danteske Landschaft, aus der sich nur Trümmer abheben, die schnell von der dichten Schwärze verschluckt werden. Eine Litanei von Ruinen, mehr oder weniger aufgehäuft, mehr oder weniger eingestürzt, die unaufhörlich vorbeiziehen, bis sie die Form einer kontinuierlichen Sequenz des Schreckens annehmen.“ Filiu beschreibt das Gaza von heute vor dem Hintergrund des historischen Gazas, das schon in der Bibel beschrieben wurde, das schon so oft zerstört, so oft wieder aufgebaut wurde. Als einen Einschnitt sieht er dabei das Jahr 2007, als die Hamas die Konkurrenz der Fatah in einem kurzen, blutigen Bürgerkrieg ausschaltete und die Macht in Gaza übernahm. „Es waren“, schreibt Filiu, „bereits sechzehn Jahre vergangen bis zum 7. Oktober 2023, in denen der Gazastreifen und sein Volk an einer dreifachen Sackgasse erstickten: einer israelischen Sackgasse, einer palästinensischen Sackgasse und einer humanitären Sackgasse. Die israelische Sackgasse resultierte und resultiert aus der Weigerung, Gaza anders zu behandeln als ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit des jüdischen Staates, ohne jede Rücksicht auf die menschliche Realität Gazas und seine gesellschaftspolitischen Dynamiken. Eine solche Blindheit, die an sich ethisch fragwürdig ist, hat Israel den blutigsten Tag seiner Geschichte nicht erspart.“
Filius Perspektive ist geprägt von der unmittelbaren Anschauung, die so rar ist in diesem maximal medial kontrollierten Krieg, ohne Zugang zu Gaza für ausländische Journalisten – und die Journalisten vor Ort werden von Israel systematisch diskreditiert, sie werden sogar gezielt getötet. Filius Bericht ist deshalb so wichtig, weil er nicht nur die Evidenz des Grauens beschreibt, das teilweise immer noch negiert oder normalisiert wird, sein Zugang ist auch darum so anders, weil er geprägt ist von dem Versuch, die verschiedenen Dimensionen des Horrors von Gaza zu benennen. „Die palästinensische Sackgasse“, schreibt er, „resultierte und resultiert aus der vorhergehenden sowie aus der absoluten Priorität, die die palästinensischen Fraktionen ihren eigenen Interessen eingeräumt haben, ohne Rücksicht auf die nationalen Rechte und die körperliche Unversehrtheit des palästinensischen Volkes.“ Und er ergänzt: „Die humanitäre Sackgasse resultierte und resultiert aus den beiden vorhergehenden, da es vergeblich ist, zu behaupten, dauerhaft einer Bevölkerung zu helfen, die jeder politischen Perspektive beraubt und, selbst aus der Ferne, den Diktaten des Besatzers unterworfen ist.“
Diese Frage nach dem Wesen und der Zukunft der Humanität stellt sich im Angesicht der Bilder und Nachrichten aus Gaza, wie sie sich auch im Angesicht der Bilder und Nachrichten vom 7. Oktober stellte. Es ist Teil der Geschichte des 20. Jahrhunderts und des oft gebrochenen Versprechens des Westens, dass diese Humanität universell sein muss, damit sie Grundlage einer Ordnung sein kann, wie sie die Architektur die Vereinten Nationen mit all ihren Fehlern nach dem Zweiten Weltkrieg herzustellen versuchte – auch als Antwort auf den Holocaust. Gaza ist auch deshalb so ein globales Symbol, weil sich hier die Widersprüche unserer Weltordnung besonders offen zeigen.
Doch wer sieht was? Oft weniger die Lage vor Ort, so scheint es: Deutsche verhandeln am Beispiel Gaza die deutsche Schuld und Staatsräson. Juden in aller Welt argumentieren oft vor dem Hintergrund des Traumas der Shoah, der Retraumatisierung in der Gegenwart und diskutieren ihr Verhältnis zu Israel. Für Autoren wie den schwedischen Schriftsteller Johannes Anyuru wiederum zeigt sich in der westlichen Nicht-Reaktion auf die Kriegsverbrechen in Gaza der Rassismus, der für ihn immer ein Wesensmerkmal der Wertekonstruktion des Westens war. Anyuru, der in der Diskussion in seinem Land eine prominente und kontroverse Position einnimmt und dessen Vater aus Uganda stammt, verhandelt – wie der Essayist Pankaj Mishra in seinem Buch „Die Welt nach Gaza“ und wie viele andere Autorinnen und Autoren des Globalen Südens – seine Geschichte und Erfahrung mit Rassismus und Kolonialismus. „Lassen wir uns nicht täuschen, unsere Sprache verbarg den Horror“, schreibt Anyuru in der Zeitung „Aftonbladet“. „Viele, die jetzt ihr Schweigen brechen, sagen, dass die verhungernden Kinder so unerträglich anzusehen sind, dass sie sprechen müssen. Aber hochrangige Stimmen in Israel, wie Generalmajor Giora Eiland, sagen seit den ersten Tagen des Tötens, dass Hunger eine Waffe ist, die Israel einsetzen sollte. Und wir haben Gazas ausgemergelte Kinder monatelang – ein Jahr lang sogar – nach Essen schreien sehen, und die israelische Öffentlichkeit hat das Verhungern lange bejubelt, öffentliche Proteste in Kundgebungen verwandelt, die Hilfslieferungen physisch gestoppt haben, und sie haben dies getan, gerade weil Verhungern so entmenschlichend ist.“[2]
Posthumanitäre Politik
Dass der Westen seine Werte verrät, das ist für Autoren wie Anyuru Teil der Lebenserfahrung und im Grunde nichts Neues. Auch andere Denker wie der Historiker Samuel Moyn[3] haben kritisch reflektiert, wie sehr der Diskurs von Humanität und Menschenrechten Teil der westlichen Herrschaftspraxis war. Inzwischen wirken solche Kontinutitätserzählungen tatsächlich unangemessen – angesichts der Offensichtlichkeit der tolerierten Inhumanität, angesichts einer Situation, in der jeder Appell an die Versprechen einer universellen Humanität ins Leere zu laufen scheint. Gleichzeitig bleibt diese Humanität als Maßstab essenziell, um all das, was gerade geschieht, überhaupt beurteilen zu können.
Was also ist neu? Worin besteht der Bruch? Der französische Anthropologe, Soziologe und Arzt Didier Fassin weist dabei auf eine Verschiebung des Gegenbegriffs zu Humanität hin, Terror: „Während der Begriff ursprünglich staatseigene Praktiken bezeichnete – jene des Terrors während der Französischen Revolution –, wird er heute ausschließlich auf Personen und Organisationen angewandt, die einen Staat angreifen. Wenn von einem Staat durchgeführte Operationen darauf abzielen, Bevölkerungen zu terrorisieren, werden sie nicht länger als terroristisch betrachtet, sondern als zur Terrorismusbekämpfung gehörig, obwohl der französische Historiker Henry Laurens darauf hinweist, dass sie weitaus mehr Menschen töten als die als terroristisch eingestuften Handlungen.“[4] Was also ist Terror heute, wenn etwa Donald Trump offen ein Regime der Inhumanität etabliert, mit vermummten Schreckensboten im Inneren und imperialem Kalkül nach außen? Neu ist auch die KI-Vision von Gaza als imperiales Investmentparadies, das von einer bizarren Fantasie zu einem realen Plan wurde und schließlich die Vertreibung der Palästinenser als humanitären Akt präsentierte, als Weg zu einer Ein-Staaten-Lösung ohne Palästinenser. Am Beispiel Gaza wird damit deutlich, wie sich die neue posthumanitäre Politik organisiert – KI-getriebene Kontrolle und Vernichtung[5], Auflösung supranationaler Strukturen der Vereinten Nationen, Privatisierung von Sicherheit oder, dem Namen nach, Humanität bei der Verteilung von Nahrung mit katastrophalen Folgen. Hunderte Tote bei der Nahrungsmittelverteilung in den vergangenen Wochen sind ein Zeichen für die fortgeschrittene Enthumanisierung der Menschen in Gaza, wie sie Filiu beschreibt.
„Der Abstieg in die Hölle für die Frauen der palästinensischen Enklave könnte hier aufhören. Aber die Vereinten Nationen schlagen bereits im Mai 2024 Alarm wegen der wachsenden Verwundbarkeit der Frauen und Mädchen Gazas gegenüber sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt. Die Einpferchung einer Menschenflut in die sogenannte humanitäre Zone verschlimmert seither nur die Enge, mit all ihren Risiken und Schattenzonen. Das Tabu, häusliche Gewalt anzuzeigen, beginnt zu fallen. Die sexualisierte Gewalt hat ein solches Ausmaß erreicht, dass das Gesundheitsministerium im Oktober 2024 Verfahren für den Fall einer Vergewaltigung erließ, die eine ‚erleichterte‘ Abtreibung bis zum 120. Tag der Schwangerschaft vorsehen. Außerdem entscheiden manche Familien, erschreckt durch den Mangel an Intimität in ihren notdürftigen Unterkünften, ihre Töchter so früh wie möglich zu verheiraten, damit sie eine Form des Schutzes genießen. Als ob die Ehe nur noch ein Überlebensreflex angesichts des neuen Todes wäre, der über Gaza hereingebrochen ist.“
Es ist schwer zu sagen, was erschütternder ist: die Bilder der Verhungernden von Gaza oder die Tatsache, wie lange es gebraucht hat, bis diese Bilder hierzulande wahrgenommen wurden. Lange war das Grauen von Gaza überlagert von dem Grauen des 7. Oktobers. Und bis heute stimmt beides: Dass sich Juden fürchten und verlassen fühlen, verraten in Gesellschaften, die ihnen Schutz versprachen; und dass sich der Krieg Israels in Kriegsverbrechen gegen Palästinenser verwandelte, wie es der Historiker Omer Bartov kürzlich in einem Essay beschrieben hat. Er datiert eine Eskalation des Krieges, die er nun einen Genozid nennt, auf den Mai 2024[6] – und während diskutiert wurde, ob es sich um einen Genozid handelt, weitete sich das Grauen aus.
Schon Anfang 2024 war in internationalen Medien vor einer drohenden Hungersnot in Gaza gewarnt worden. Es ist schwer zu verstehen, was seither geschehen ist, warum nichts geschehen ist, warum der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu den Krieg immer weiter verlängern konnte, um sich an der Macht zu halten. Die Intentionalität, die Grausamkeit, die Menschenverachtung der Hungerpolitik in Gaza sind Konsequenzen dieses Krieges. Während also die Angst und die Unsicherheit vieler Juden wächst angesichts des realen Antisemitismus, den sie erleben, wird die Vernichtung von Gaza zu einem epochalen Ereignis, wie es Peter Beinart in seinem Buch „Being Jewish After the Destruction of Gaza“ beschreibt –, er vergleicht den Krieg mit der Zäsur, die der Fall der Mauer 1989 bedeutete, ein Ereignis, das die kommenden Jahre und Jahrzehnte prägen sollte.
Die autoritäre Agenda
„Vielleicht klingt das hochtrabend“, schreibt Beinart, „aber ich glaube nicht, dass unsere Transformation als Juden nur für Israel und Palästina notwendig ist. Sie ist für die Welt notwendig. Vor fast zwei Generationen erlebte die Menschheit eine neue Geburt der Freiheit. Mandela kam aus dem Gefängnis frei, Russland hielt seine erste freie Wahl ab, junge Deutsche tanzten auf der Berliner Mauer. Die dritte Welle der Demokratie fegte Tyrannen von den Philippinen über Chile bis Benin hinweg. Der Geist jener Ära ist längst gestorben. Die Freiheit ist seit Jahrzehnten auf dem Rückzug. Von Putin über Modi und Xi bis Trump beherrschen Schlägertypen den Globus und schüren ethnische Gewalt, während sie ihre Nationen schamlos ausplündern. In ihrer ungezügelten Grausamkeit und unerträglichen Pein ist die Zerstörung Gazas ein Symbol unserer Zeit.“[7]
Die Zerstörung Gazas ist für Beinart Teil einer autoritären Agenda. Dazu gehört auch die Einschränkung der Rede-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit, was in eine Zeit passt, in der Vereinbarungen zur wissenschaftlichen Methodik und Rationalität infrage gestellt werden. Wenn die Wirkung von Impfungen angezweifelt wird, ist das eine Sache – wenn von staatlicher Seite vorgegeben wird, wie historische Erkenntnis auszusehen hat, ist das eine andere. Die Äußerungen von Kulturstaatsminister Wolfram Weimer gehen in diese Richtung: Der Holocaust, so wurde es in den vergangenen Jahren in den Feuilletons diskutiert, und so soll es nun von Weimer dekretiert werden[8], kann nicht oder darf nicht im Kontext etwa kolonialer Verbrechen analysiert werden. Das ist nicht nur unwissenschaftlich oder wissenschaftsfeindlich, es fördert auch die geistige Provinzialisierung dieses Landes, die schon gefährlich weit fortgeschritten ist.
Es ist unklar, wem diese Form der Geschichtspolitik helfen soll. Sie bedeutet eine Verhärtung – ein Gedenken, das allein staatliche Politik ist, verlässt schnell die Sphäre, in der Erinnern stattfindet, die Kultur, die Gesellschaft, das Individuum. Nachträglich bestätigt heutige staatliche Politik damit eine bösartige Karikatur, die in den 1970er, 80er, 90er Jahren verordnetes Erinnern unterstellte, wo es keines gab. Zeigt sich hier wieder einmal die Angst der Deutschen vor sich selbst? Es widerspricht jeder Vernunft, von der Singularität des Holocausts darauf zu schließen, dass man nicht untersuchen sollte, was gedankliche und praktische Einflüsse und Vorbilder sein könnten, wie sie vielfach in Studien, Büchern, Aufsätzen beschrieben sind. Geschichte findet nicht im luftleeren Raum statt, und es ist Zeichen unserer ahistorischen und zum Teil auch analysescheuen Zeit, wenn dieser luftleere Raum von Regierungsseite verordnet werden soll.
Ein neuer Epochenbruch
Auch in anderen europäischen Ländern gibt es diese Einschränkungen, Zeichen des westlichen Verrats der eigenen Werte, von dem Fassin, Anyuru und andere sprechen. In Schweden etwa erklärte im Sommer eine bekannte Fernsehjournalistin und Nahostkorrespondentin bei einer Podiumsdiskussion, dass sie nicht von einem „Genozid“ in Gaza sprechen dürfe, weil sie für das staatliche Fernsehen arbeitet. Egal also, wie man zu diesem Begriff steht, ob man ihn verwenden will oder nicht, es bleibt die Tatsache, dass Sprachverbote etabliert werden und damit Rede- und Meinungsfreiheit eingeschränkt wird. Gaza markiert auch hierhin einen Bruch, weil dieser Verlust von Freiheiten nichts ist, was einfach wieder verschwindet, wenn die Zeiten sich ändern; die Erfahrung bleibt, das Versprechen des Westens, einmal derart umfassend und unverblümt gebrochen, verliert seine Plausibilität.
Die Historikerin Joelle M. Abi-Rached hat Gaza und den Zusammenbruch der westlich liberalen Ordnung gerade in einem eindrucksvollen Essay beschrieben und dabei wie Beinart indirekt auf den Epochenbruch der 1990er Jahre verwiesen, indem sie vom „Ende der Geschichte“ spricht, wie es Francis Fukuyama 1989 tat, als er den Sieg des Westens erklärte. „Die Gesamtheit dieser unerbittlichen Aggression“, schreibt Abi-Rached, „offenbart die vollständige Erosion des humanitären Völkerrechts, die Doppelmoral, die die Rhetorik der Menschenrechte beherrscht, und den Rassismus, der im Kern der angestrengten Bemühungen des Westens steht, die geopolitische Hegemonie aufrechtzuerhalten.“[9] Sie verwendet noch den Begriff der Doppelmoral, der allerdings selbst wie aus einer anderen Zeit zu stammen scheint. Postliberale Politiker wie Donald Trump etwa argumentieren ja gar nicht mehr mit Menschenrechten oder Moral, und in deutschen rechten publizistischen Zirkeln herrscht schon seit Jahren ein täglicher Angriff auf Moral als gesellschaftliche Grundlage. Die „moralische Selbstaufgabe“ also, wie Didier Fassin es nennt, ist längst weiter vorangeschritten. Oft wurde im Zusammenhang mit dem russischen Überfall auf die Ukraine von einer Zeitenwende gesprochen. Das moralische Versagen des Westens in Gaza markiert eine weitere Zeitenwende. Wir leben bereits in dieser neuen Welt, dieser neuen Ordnung, die noch keinen Namen hat, aber ein Gesicht, das Gesicht der Hungernden von Gaza.
[1] Diese und die folgenden Zitate von Jean-Pierre Filiu aus: Je suis à peine de retour que me submerge déjà la tragédie de ce territoire assiégé, in: „Le Monde“, 25.5.2025.
[2] Anyuru bezieht sich hier nicht auf die Proteste gegen Netanjahu und für ein Abkommen zur Freilassung der Geisel (vgl. Ignaz Szlacheta in diesem Heft), sondern auf Blockaden radikaler Siedler.
[3] Samuel Moyn, Not Enough: Human Rights in an Unequal World, Cambridge 2018.
[4] Didier Fassin, Moral Abdication. How the World Failed to Stop the Destruction of Gaza, London 2025.
[5] Sheera Frenkel and Natan Odenheimer, Israel’s A.I. Experiments in Gaza War Raise Ethical Concerns, in: „New York Times“, 25.4.2025.
[6] Omer Bartov, I’m a Genocide Scholar. I Know It When I See It, in: „New York Times“, 15.7.2025.
[7] Peter Beinart, Being Jewish After the Destruction of Gaza, New York 2025.
[8] Vgl. Jürgen Zimmerer, Erinnerungspolitik nicht verordnen, deutschlandfunk.de, 29.7.2025.
[9] Joelle M. Abi-Rached, Gaza and the End of History, in: „Boston Review“, 30.7.2025.