Ausgabe Juli 1993

Frankfurter Einmischung: Jens Reich soll Bundespräsident werden (Wortlaut)

Die Wiedervereinigung ist uns Deutschen wie ein unerwartetes Geschenk zuteil geworden. Gefreut haben sich alle, vorbereitet waren aber nur die wenigsten. Deswegen ist, ungeachtet aller Anstrengungen und aller Opfer, der Einigung noch keine Einigkeit gefolgt. Im Inneren wird das Land durch Entfremdung, Mißtrauen und Verteilungskämpfe zerrissen. Nach außen hat die Bundesrepublik Mühe, der Rolle zu entsprechen, die ihre Nachbarn von ihr erwarten. Um uns in die neue Lage zu finden, müssen wir mit langen Fristen rechnen und uns eingestehen, daß das meiste noch vor uns liegt. Die Wahl des nächsten Bundespräsidenten wird Gelegenheit geben, die Kräfte des Landes neu einzusetzen.

Wenn wir das ernsthaft versuchen wollen, brauchen wir einen Präsidenten, der in seiner Person den Gegensatz zwischen den alten und den neuen Ländern überwunden hat, der Grundsatztreue mit Toleranz verbindet, der zu den neuen Nachbarn im Osten ebenso gute Beziehungen unterhält wie zu den alten Freunden im Westen, der den Interessenausgleich höher stellt als den Konflikt, dessen Biographie dafür bürgt, daß er das hohe Amt sachkundig, überzeugend und unparteiisch führen kann. Wir, eine Gruppe von Bürgern mit sonst unterschiedlichen Ansichten, kennen jemanden, der diese Voraussetzungen erfüllt: Jens Reich.

Er hat unter schwierigen Bedingungen den Weg in die Politik gefunden und sich als Bürgerrechtler bewährt. Als in der DDR die Diktatur zusammenbrach, bewies er Mut und Unabhängigkeit. Er hat die Einigung mit Worten und Taten begleitet und mehr als andere dazu beigetragen, daß wieder zusammenkommt, was zusammengehört. Seine Aufsätze, Beobachtungen und Kommentare haben vielen Deutschen die Augen geöffnet und sie daran erinnert, was sie miteinander verbindet. Jens Reich kann im Inneren das Vertrauen und nach außen die Anerkennung schaffen, die unser Land braucht. Wir wissen, daß der Bundespräsident nicht von uns gewählt wird, sondern von der Bundesversammlung, und daß die Delegierten in ihrer Entscheidung frei sind.

Wir glauben aber, daß Vorschläge willkommen sind. Und wir sind sicher, mit unserer Einmischung in das politische Geschäft ein Recht wahrzunehmen, von dem die Bürgergesellschaft lebt. Wir wollen das auch weiterhin tun.

Der Vorschlag, Jens Reich zum Bundespräsidenten zu wählen, wurde am 14. Juni 1993 in Bonn der Öffentlichkeit unterbreitet im Namen von:

Konrad Adam, Journalist; Hans Herbe von Arnim, Staatsrechtslehrer; Bernd Peter Arnold, Journalist; Arnulf Baring, Politikwissenschaftler; Ignatz Bubis, Vorsitzender des Zentralrates der Juden in Deutschland; Daniel Cohn-Bendit, Stadtrat; Warnfried Dettling, Publizist; Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller; Joachim Fest, Publizist; Lothar Gall, Historiker; Joachim Gauck, Bundesbeauftragter; Alexander Gauland, Geschäftsführer; Dieter Grimm, Bundesverfassungsrichter; Klaus Harpprecht, Publizist; Klaus Hartung, Journalist; Hans-Erhard Haverkampf, Geschäftsführer; Wolfgang Herles, Journalist; Frank Heerich, Urbanist; Lutz Hoffmann, Volkswischaftler; Peter Iden, Theaterkritiker; Wilhelm Kewenig, Rechtsanwalt; Udo Knapp, stellv. Landrat; Thomas Krüger, Senator; Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin; Reimar Lüst, Präsident der Alexander von Humboldt-Stiftung; Hube Markl, Biologe; Morvka Maron, Schriftstellerin; Regine Marquardt, Journalistin; Günter Nooke, Fraktionsvorsitzender; Matthias Platzeck, Minister; Konrad Schily, Universitätspräsident; Thomas Schmid, Publizist; Friedrich Schorlemmer, Theologe; Richard Schröder, Theologe; Dieter Simon, Rechtshistoriker; Cora Stephan, Publizistin; Antje Vollmer, Theologin.

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