Bericht des Generalsekretärs an den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen vom 30. Mai 1995 über die Perspektiven der UN-Schutztruppe in Bosnien-Herzegowina (Auszug)
Nachdem die bosnischen Serben ein UN-Ultimatum zur Einstellung der Kampfhandlungen und zur Rückgabe aus UN-Depots entwendeter Geschütze hatten verstreichen lassen, flogen NATO-Flugzeuge am 25. und 26. Mai 1995 Kampfeinsätze gegen militärische Ziele in der Nähe von Pale. Die bosnischen Serben nahmen daraufhin mehrere hundert Blauhelm-Soldaten und Militärbeobachter als Geiseln und beschossen u.a. die Schutzzone Tuzla, wobei 71 Menschen getötet wurden. Vor diesem Hintergrund und der allerorten zunehmenden Ratlosigkeit legte der Generalsekretär der Vereinten Nationen Boutros Boutros-Ghali dem Sicherheitsrat einen 41seitigen Bericht über die Lage in Bosnien-Herzegowina und das Mandat der United Nations Protection Force (UNPROFOR) vor (S/1995/444). Die Aufgaben der Blauhelmtruppe, so Boutros-Ghali, habe sich zu einer "mission impossible" entwickelt, weil die ursprünglich friedenssichernde Operation nach und nach um Elemente der Friedenserzwingung ergänzt worden sei. Die Ausführungen des Generalsekretärs hinsichtlich der Zukunft der Blauhelme in Bosnien, die wir nachstehend dokumentieren, sind auch mit Blick auf die deutsche Diskussion von Interesse: der Einsatz der Bundeswehr soll inzwischen nicht mehr ausschließlich bei einem NATO-gesicherten Abzug der UNPROFOR erfolgen, sondern auch bei einer von Boutros-Ghali diskutierten Umgruppierung der Blauhelmtruppe. - D. Red.
IV. Die zukünftige Rolle der UNPROFOR
60. Die Analyse des vorangegangenen Abschnitts hat die grundlegende Frage auf geworfen, ob die UNPROFOR [United Nations Protection Force, d. Red.] eine friedenssichernde Operation (peacekeeping operation) ist, in Übereinstimmung mit den für solche Operationen erstellten Prinzipien und Praktiken, oder ob es sich um eine friedenserzwingende Operation (enforcement operation) handelt.
61. Zur Zeit erstreckt sich das Mandat, wie eine genaue Lektüre der relevanten Resolutionen zeigt, fast ausschließlich auf Friedenssicherung. Aber es enthält einige Elemente der Erzwingung (elements of enforcement); zahlreiche Kreise sind daher der Auffassung, daß die verheerende Situation in Bosnien-Herzegowina mehr auf das Scheitern der Truppe zurückzuführen ist, den Willen der internationalen Gemeinschaft durchzusetzen, als auf das ständige Versäumnis der Parteien, ihren Verpflichtungen nachzukommen und mit der Truppe zu kooperieren, der der Rat ein hauptsächlich friedenssichemdes Mandat verliehen hat.
62. Die Frage, ob es sich bei der UNPROFOR um Friedenssicherung oder Erzwingung handelt, läßt sich nicht vermeiden. Wie ich an anderer Stelle geschrieben habe, "bringt eine friedenssichernde Mission nichts mehr in Gefahr als das Ersuchen, Gewalt anzuwenden, wenn die bestehende Zusammensetzung, Bewaffnung, logistische Unterstützung und Stationierung den dazu notwendigen Kapazitäten nicht entsprechen. Die Logik der Friedenssicherung ergibt sich aus politischen und militärischen Voraussetzungen, die von jenen der Erzwingung gänzlich unterschieden sind; zudem ist die Dynamik der letzteren unvereinbar mit dem politischen Prozeß, den die Friedenssicherung zu fördern beabsichtigt. Eine Verwischung der Unterschiede zwischen den beiden kann die Existenz der friedenssichernden Operation unterminieren und dessen Personal gefährden. Friedenssicherung und die Anwendung von Gewalt (mit Ausnahme der Selbstverteidigung) sollten als alternative Mittel angesehen werden und nicht als benachbarte Punkte eines Kontinuum, die einen leichten Übergang von dem einen zu dem anderen erlauben." (A/50/60 - S/1995/1, Paragraphen 35-36)
63. Es ist richtig, daß die Androhung von Gewalt hin und wieder positive Ergebnisse gebracht hat. Die Bereitschaft der NATO, den Luftraum verletzende Flugzeuge abzuschießen, hat die Nutzung des bosnisch-herzegowinischen Luftraums zu Kampfzwecken im großen und ganzen verhindert. Die Androhung von Gewalt hat ebenfalls dazu beigetragen, im Februar 1994 die Ausschlußzone für schwere Waffen (heavy weapon exclusion zone) um Sarajevo einzurichten. Aber die bosnischen Serben haben schnell realisiert, daß sie über die Kapazität verfügten, die UNPROFOR einen inakzeptabel hohen Preis zahlen zu lassen, wenn Luftangriffe in ihrem Namen geführt wurden. Diese Fähigkeit wurde jeweils demonstriert nach begrenzter Luftunterstützung in Gorazde im April 1994, nach Luftangriffen auf den Flugplatz von Udbina und auf Raketenstellungen in Bihac im November 1994 sowie erneut nach Luftangriffen in der Nähe von Pale am 25. und 26. Mai 1995. Bei jeder dieser Gelegenheiten wurde eine große Zahl von UN-Personal als Geiseln genommen, die Bewegungsfreiheit der Truppe weiter eingeschränkt und wurden Verhandlungen abrupt abgebrochen, mit Ausnahme der langwierigen Verhandlungen über die sichere Freilassung der Geiseln. Diese Ereignisse haben die Gefahren aufgezeigt, die mit dem Überschreiten der Linie zwischen Friedenssicherung und Friedenserzwingung einhergehen, ohne die Truppe zuvor mit Personal, Bewaffnung, logistischer und nachrichtendienstlicher Kapazität und Führungsstrukturen (command and control) auszustatten, die der Androhung von Gewalt die unabdingbare Glaubwürdigkeit verleihen, indem sie die Fähigkeit zeigen, jede feindliche Reaktionen entschlossen zu beantworten.
64. Das Fehlen eines klaren Mandats zur Friedenserzwingung in den Resolutionen des Sicherheitsrates zu Bosnien-Herzegowina, ungeachtet der häufigen Verweise auf Kapitel VII [der Charta der Vereinten Nationen, d. Red.], sowie das Widerstreben des Rates, zusätzliche Truppen zu bewilligen, die ich als notwendig erachtete, allein um die friedenssichernde Aufgabe zu erfüllen (34 000 für die Sicherheitszonen, 10 000 zur Grenzüberwachung), erlauben die Schlußfolgerung, daß die Antwort des Sicherheitsrates hinsichtlich der obigen Frage bislang nur lauten kann, daß er UNPROFOR als friedenssichernde Operation wünscht.
65. Bleibt dies der Wunsch des Rates, so ergibt sich daraus wie bei allen anderen friedenssichernde Missionen, daß die UNPROFOR ihr Mandat nur dann ausüben kann, wenn sie auf einer fortgesetzten Basis Einverständnis und Zusammenarbeit der kriegführenden Parteien genießt. Mit Blick auf deren beklagenswertes Verhalten auf diesem Gebiet ist es wichtig, keine unrealistischen Erwartungen hinsichtlich dessen zu wecken, was die Truppe bewirken kann. Wenn, was der Fall zu sein scheint, beide Parteien entschlossen sind, den Krieg fortzufahren, so werden die Erfolge der Truppe wahrscheinlich ziemlich begrenzt sein, und es mag nicht kosteneffektiv sein, eine so große militärische Truppe in Bosnien-Herzegowina beizubehalten, die, wann immer es die Parteien wollen, sich als ohnmächtig erweist - mit dem daraus folgenden Schaden für Image und Glaubwürdigkeit der Organisation.
V. Beobachtungen
66. Die UNPROFOR ist nicht, wie viele ihrer Kritiker zu meinen scheinen, aufgestellt worden, um den Krieg in Bosnien-Herzegowina zu beenden; das ist die Aufgabe der Friedensvermittler, momentan unter Führung der Mitglieder der "Kontaktgruppe", unterstützt von den beiden Ko-Vorsitzenden des Lenkungsausschusses der Internationalen Konferenz über das Ehemalige Jugoslawien und von meinem Sonderbeauftragten. Auch ist die UNPROFOR keine Armee, die ausgesandt wurde, im Krieg auf einer Seite zu kämpfen, obwohl sie häufig auf eine Art und Weise kritisiert worden ist, als habe sie darin versagt, effektiv Krieg zu führen. Die UNPROFOR ist statt dessen eine vom Sicherheitsrat entsandte Mission, die drei Ziele erfüllen soll: die Auswirkungen des Krieges zu mildem, insbesondere durch die Bereitstellung humanitärer Hilfe; den Konflikt einzudämmen und seine Folgen abzuschwächen, indem durch die Umsetzung von Vereinbarungen wie der Flugverbotszone (no-fly-zone), von Sicherheitszonen (safe areas) und Ausschlußzonen den Kriegführenden Beschränkungen auferlegt werden; die Aussichten für einen Frieden durch die Vermittlung lokaler Waffenstillstände und, wo möglich, deren Erhalt zu verbessern sowie Maßnahmen zu unterstützen, die auf eine umfassende politische Lösung gerichtet sind. Die Truppe hat bei der Verfolgung dieser Ziele bisher einen beachtlichen Erfolg, aber diese sind kein Selbstzweck. Auf diese Weise soll versucht werden, Bedingungen zu schaffen, die es den Friedensvermittlern ermöglichen, eine umfassende Lösung auszuhandeln.
67. Die Bereitschaft der Parteien, die UNPROFOR und die Beschränkungen, die sie ihnen aufzuerlegen versucht, zu akzeptieren, hängt davon ab, inwieweit sie dies als in Einklang mit ihren Interessen stehend betrachten. In diesem Zusammenhang ist die Truppe mit zwei Problemen konfrontiert. Erstens scheint keine der Parteien zu der festen Überzeugung gelangt zu sein, daß es eine größere Chance gibt, ihre Ziele am Verhandlungstisch als auf dem Schlachtfeld zu erreichen. Daraus folgt, daß die Anstrengungen der UNPROFOR, die Intensität des Konflikts zu vermindern, von den Parteien eher als Behinderung denn als Hilfe betrachtet werden. Zweitens scheinen die internationalen Bemühungen, eine Verhandlungslösung zu vermitteln, nahezu zum Stillstand gekommen zu sein. So liegt beispielsweise die letzte Verhandlungsrunde, bei der alle bosnischen Parteien zugegen waren, länger als 16 Monate zurück. Keine der unten diskutierten Optionen für die Anpassung des Mandats der Truppe an die Realitäten vor Ort wird effektiv sein, sofern es keine wirkliche Aussicht auf eine Verhandlungslösung in absehbarer Zukunft gibt. Es ist daher unumgänglich, daß Entscheidungen des Sicherheitsrates über die Zukunft der UNPROFOR mit der Wiederaufnahme und Intensivierung des Friedensprozesses mittels einer wirklich neuen Initiative, möglicherweise in einem neuen Format, einhergehen. Der Rat könnte auch den Wunsch haben, in regelmäßigen Abständen die in den Verhandlungen erzielten Fortschritte und die sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die UNPROFOR zu überprüfen.
68. Unterdessen verbleibt die UNPROFOR in der Situation eines Krieges, in dem es nach mehr als drei Jahren keinen Frieden zu erhalten gibt. Ihre Position ist weiter verkompliziert durch den Umstand, daß ihr ursprüngliches friedenssicherndes Mandat, das ohne die Kooperation der Parteien nicht umgesetzt werden kann, nach und nach ausgeweitet wurde, um Elemente der Erzwingung einzuschließen, was dazu führte, daß sie als Konfliktpartei angesehen wird. Das Mandat der Sicherheitszonen beispielsweise macht es erforderlich, täglich mit einer Partei zu kooperieren und zu verhandeln, wobei zugleich erwartet wird, unter bestimmten Umständen Luftangriffe auf dieselbe Partei zu verlangen. Ähnlich haben die Vereinten Nationen gegen eine Partei Sanktionen verhängt, um zur gleichen Zeit eine Truppe zu entsenden, die verpflichtet ist, mit dem Einverständnis und der Kooperation dieser Partei zu arbeiten. Das Ergebnis ist, daß die Führer der bosnischen Serben der UNPROFOR Zustimmung und Zusammenarbeit weitgehend entzogen haben, mit der Erklärung, daß sie im Gegenzug zu den Sanktionen der Vereinten Nationen gegen sie ihrerseits die Vereinten Nationen mit "Sanktionen" belegen.
69. Im Ergebnis dieser Widersprüche sieht sich die UNPROFOR blockiert, als Zielscheibe beider Parteien, an der Versorgung gehindert, in ihrer Bewegung eingeschränkt, konstanter Kritik ausgesetzt, kurzum in einer Zwangslage, die mein Sonderbeauftragter, der Oberbefehlshaber [der UNPROFOR, d. Red.], viele der truppenstellenden Regierungen und ich selbst als nicht länger hinnehmbar betrachten. Das Ausmaß dieser Zwangslage wurde deutlich bei den Luftangriffen vom 25. und 26. Mai 1995 und deren Folgen, die in Teil II des Berichts beschrieben wurden. Die Krise macht es jetzt notwendig, dringende Maßnahmen zur Freilassung der Geiseln zu ergreifen, das Mandat der UNPROFOR und dessen Umsetzung den politischen und operationellen Gegebenheiten vor Ort anzupassen und, wie bereits erwähnt, den Friedensprozeß neu zu beleben.
70. Ich bin extrem besorgt, daß so viele UNPROFOR-Angehörige von den bosnischen Serben inhaftiert worden sind. Deren frühestmögliche Freilassung ist für mich von höchster Priorität; hierüber stehe ich in Kontakt mit politischen Führern und meinem Sonderbeauftragten. Wie in früheren Zwischenfällen dieser Art erfahren, läßt sich dieses Ziel am besten durch Verhandlungen erreichen. Die UNPROFOR hält deshalb so engen Kontakt wie möglich zu den bosnischen Serben, um über den genauen Verbleib und das Wohlergehen der Gefangenen zu wachen und ihre Freilassung zu erreichen. Nach Rücksprache mit den truppenstellenden und anderen interessierten Ländern hat sich mein Sonderbeauftragter mit Präsident Milosevic in Verbindung gesetzt. Mein Sonderbeauftragter verlangt von Dr. Karadzic die sofortige und bedingungslose Freilassung der Gefangenen und beobachtet sehr genau die bosnischen Serben, so daß Verhandlungen bei erster Gelegenheit initiiert werden können. Ich begrüße die Unterstützung, die diesen Bemühungen von den Mitgliedern der Kontaktgruppe und anderen interessierten Ländern und Organisationen zuteil wird. Das ICRC [Internationales Komitee vom Roten Kreuz, d. Red.] bemüht sich um einen Besuch bei dem festgehaltenem UNPROFOR-Personal.
71. Seit meiner Unterredung mit dem Rat am 16. Mai 1995 haben die Ereignisse vom 25. und 26. Mai und deren Folgen, wie schon erwähnt, die Unhaltbarkeit der gegenwärtigen Situation der UNPROFOR und die Notwendigkeit zu klären, ob ihre Rolle friedenssichernder oder erzwingender Art ist, noch deutlicher werden lassen. Die Verletzung der Ausschlußzone um Sarajevo durch die bosnischen Serben, deren krimineller Granatenbeschuß ziviler Ziele in Tuzla und anderswo, nach einem wohl abgewogenen Luftangriff der NATO gegen ein militärisches Ziel, sowie deren unentschuldbare Vergeltung gegen Personal der Vereinten Nationen einschließlich unbewaffneter Militärbeobachter, die in Pale Verbindungsaufgaben wahrnahmen, haben brutal die Bedingungen ins Licht gesetzt, unter denen die UNPROFOR arbeiten muß, und die Gefahren, die die Widersprüchlichkeit des jetzigen Mandats birgt.
72. Nach reiflicher Überlegung in bezug auf diese Entwicklungen und nach weiteren Konsultationen mit meinem Sonderbeauftragten und dem Oberbefehlshaber habe ich die Optionen, die ich dem Rat gegenüber am 16. Mai angeführt habe, überarbeitet und lege dem Rat nun vier Optionen zur Erwägung vor: Option A: Abzug der UNPROFOR, bestenfalls unter Zurücklassung einer kleinen politischen Mission, sofern dies der Wunsch der Parteien ist; Option B: Festhalten an den existierenden Aufgaben von UNPROFOR und an den gegenwärtig eingesetzten Mitteln, diese umzusetzen; Option C: Änderung des existierenden Mandats, um der UNPROFOR zu erlauben, in größerem Umfang von Gewalt Gebrauch zu machen; Option D: Revidierung des Mandats, so daß es ausschließlich Aufgaben enthält, die zu erfüllen von einer friedenssichernden Operation unter den gegenwärtigen Bedingungen in Bosnien-Herzegowina realistischerweise erwartet werden kann. Jüngste Vorkommnisse haben gezeigt, daß jede Option, die die fortgesetzte Präsenz der UNPROFOR in Bosnien-Herzegowina beinhaltet, von Maßnahmen einschließlich der Entsendung zusätzlicher Truppen begleitet werden muß, die eine größere Sicherheit sowohl für das UNPROFOR-Personal als auch für das Personal des UNHCR [der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, d. Red.] und anderer ziviler Organisationen, die mit ihm zusammenarbeiten, garantieren.
73. Bei der Erwägung dieser Optionen sollte der Rat die Auswirkungen bedenken, die jede Änderung des UNPROFOR-Mandats und/oder der Einsatzmethoden auf die Arbeit des UNHCR und anderer humanitärer Organisationen in Bosnien-Herzegowina haben kann. Die fortbestehende Rolle des UNHCR als führende humanitäre Organisation, die Flüchtlingen, Vertriebenen und anderen von dem Konflikt Betroffenen humanitären Beistand und Schutz gewährt und die sich zugleich auf die zukünftige Repatriierung der Flüchtlinge vorbereitet, könnte, in Abhängigkeit von der durch den Rat gewählten Option, eine Neueinschätzung und mögliche Nachverhandlung mit den Parteien erforderlich machen.
74. Ich bin kein Befürworter der Option A. Jüngste Entwicklungen haben einige Regierungen, die der UNPROFOR Truppen zur Verfügung gestellt haben, veranlaßt, über den Abzug ihrer Truppen zu sprechen, jedoch hat sich keine für diese Option ausgesprochen, sofern erträgliche Bedingungen geschaffen werden, die es der Truppe ermöglichen, ihre Operationen fortzufahren. Ich selbst habe die Vorkehrung getroffen, dem Generalsekretär der NATO am 10. Februar 1995 zu schreiben, mit der Bitte, Pläne vorzubereiten, die es ihr ermöglichen, beim Abzug der UNPROFOR aus Bosnien-Herzegowina, sofern dieser unvermeidbar werden würde, zu helfen. Ein Präzedenzfall für solch multinationale Hilfe beim Abzug einer friedenssichernden Mission der Vereinten Nationen wurde in Somalia geschaffen. So viel nur bekannt ist, sind die Planungen der NATO weitgehend abgeschlossen.
Aber der Rückzug ist die Option des letzten Auswegs. Er würde darauf hinauslaufen, die Menschen in BosnienHerzogowina sich selbst zu überlassen und wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis der Unfähigkeit der Vereinten Nationen, zur Beilegung eines Krieges beizutragen, in dem zum Entsetzen der ganzen Welt eine ethnische Gruppe mittels Waffengewalt versucht, die ethnische Landkarte eines Mitgliedstaates zu verändern, und in dem alle Parteien in einem mehr oder weniger großen Umfang sich des Angriffs auf Zivilisten und anderer Grausamkeiten schuldig gemacht haben. Zweck meines Berichts ist es daher, dem Rat Schritte zu empfehlen, die er einleiten kann, um sicherzustellen, daß die UNPROFOR in Bosnien-Herzegowina verbleibt, mit einer verbesserten Aussicht als der gegenwärtigen, das ihr vom Rat anvertraute Mandat zu erfüllen.
75. Ich bin ebenfalls kein Verfechter der Option B. Die in dem Bericht durchgeführte Analyse des derzeitigen UNPROFOR-Mandats (Teil III) und einer möglichen zukünftigen Rolle (Teil IV) zeigen, warum ich der Meinung bin, daß die Aufgabe der Truppe undurchführbar geworden ist (mission impossible). Ein Versuch, den Status quo beizubehalten, wurde ihre Fähigkeit, effektive Hilfe im humanitären und politischen Bereich bereitzustellen, weiter reduzieren sowie noch mehr Opfer auf seiten der Vereinten Nationen fordern und der Organisation noch größeren Schaden zufügen. Wenn die Entscheidungen des Rates in Beantwortung dieses Berichts bewußt oder unbewußt darauf hinauslaufen sollten, den Status quo beizubehalten, so bin ich überzeugt, daß dann sehr bald der Zeitpunkt kommen würde, an dem der Abzug der Truppe unausweichlich würde.
76. Option C würde eine substantielle Verstärkung der Truppe und eine Änderung in ihrem Mandat erfordern, so daß sie militärische Aktionen einleiten könnte, wenn eine der Parteien Zustimmung und Zusammenarbeit verweigert, und, im Falle von Vergeltungsmaßnahmen und weiterer Eskalation, den Schutz des eigenen Personals und des des UNHCR und anderer ziviler Organisationen gewährleisten könnte. Dies könnte eine gangbare Option sein um sicherzustellen, daß die bosnischen Serben und die anderen Konfliktparteien die Entscheidungen des Sicherheitsrates respektieren. Einige Regierungen, die Truppen für UNPROFOR zur Verfügung stellen, haben mich über nationale Pläne in Kenntnis gesetzt, zusätzliche Truppen zu entsenden, um die Verwundbarkeit des UNPROFOR-Personals zu mindern. Ich begrüße diese Initiativen.
Aber die betreffenden Regierungen haben auch angedeutet, daß sie die Entsendung zusätzlicher Truppen in Betracht ziehen, um die Fähigkeit der UNPROFOR zu vergrößern, ihre Aufgabe zu erfüllen. Wenn sie allerdings der Ansicht sind, daß die UNPROFOR zu diesem Zweck Gewalt anwenden sollte, so halte ich dies bei einer friedenssichernden Mission wie UNPROFOR für nicht angemessen. Aus meiner Sicht wäre es darin notwendig, UNPROFOR durch eine multinationale Streitmacht zu ersetzen, vom Sicherheitsrat autorisiert, aber unter dem Kommando eines oder mehrerer truppenstellender Länder, wie dies in Somalia oder Haiti der Fall gewesen ist. Ich erinnere daran, daß ich in einem Schreiben vom 24. Juli 1994 an den Präsidenten des Rates meiner Besorgnis hinsichtlich des Bestands der UNPROFOR-Operationen in Bosnien-Herzegowina Ausdruck gegeben habe, wenn die Länder der Kontaktgruppe mit Gewalt das umsetzen sollten, was damals als "Abschreckung" gegen die bosnischen Serben bezeichnet wurde. Bei einer Entscheidung des Rates, daß die UNPROFOR die Option C ausfahren sollte, hätte ich ähnliche Bedenken.
77. Die Gründe für diese Sichtweise wurden in dem vorliegenden Bericht ausreichend erläutert. Die gegenwärtige Situation der UNPROFOR ergibt sich aus dem Umstand, daß aufgrund fehlender Zusammenarbeit der bosnischen Serben mit der Truppe nach und nach Aufgaben zu ihrem Mandat hinzugefügt wurden, die mit ihrer friedenssichernden und humanitären Rolle unvereinbar sind. Option C würde UNPROFOR noch weiter über die Linie ziehen, die Friedenssicherung von Maßnahmen zur Friedenserzwingung trennt. Die sich daraus ergebenden Bedrohungen für ihre Sicherheit und ihrer Fähigkeit, ihr friedenssicherndes und humanitäres Mandat zu erfüllen, könnte bis zu einem gewissen Grad durch die Verstärkung mit zusätzlichen Truppen und Waffen abgeschwächt werden. Es bestünde dann allerdings wie bei UNOSOM in Somalia die Gefahr, daß aufgrund der Notwendigkeit, Personal in größeren Gruppen an sicheren Orten zu konzentrieren, die Fähigkeit zur Erfüllung der wesentlichen Aufgaben ernsthaft beeinträchtigt würde. Des weiteren glaube ich nicht, daß die Vereinten Nationen zur Zeit über die Kapazitäten verfügen, eine Operation zu leiten, die dann Kampfhandlungen in beträchtlichem Ausmaß einschließen würde, wenn, was ich befürchte, die eine oder andere der Parteien Gewalt mit Gewalt beantwortet. Bei ausstehenden Beiträgen auf das Konto der UNPROFOR in einer Gesamthöhe von mittlerweile 898 Millionen Dollar (fast 80% der jährlichen Kosten für die Truppe) sind Zweifel angebracht, ob die Verfahren der Vereinten Nationen die notwendige finanzielle Unterstützung gewährleisten könnten, die für eine Operation in dieser Größenordnung erforderlich ist.
78. Bei Option D würde der Rat das Mandat der UNPROFOR so revidieren, daß von der Truppe nur noch erwartet würde, die Aufgaben zu erfüllen, die zu erfüllen von einer friedenssichernden Operation unter den gegenwärtigen Umständen in Bosnien-Herzegowina vernünftigerweise erwartet werden darf. Dies würde beinhalten: gute Dienste, Verbindung und Verhandlung; Überwachung von Waffenstillständen etc., solange die Parteien bereit sind, diese einzuhalten; die Aufrechterhaltung einer Präsenz in den Sicherheitszonen, nachdem für sie ein angemessenes Regime ausgehandelt wurde, allerdings ohne eine aktuelle oder implizite Verpflichtung, Gewalt einzusetzen, um Angriffe gegen diese Zonen abzuschrecken; den Betrieb des Flughafens von Sarajevo mit Zustimmung der Parteien; Beförderung der Normalisierung des Lebens in Sarajevo; die Eskortierung humanitärer Konvois und die Unterstützung anderer humanitärer Initiativen; Grenzüberwachung, sofern dies von den Parteien akzeptiert wird; den Einsatz von Gewalt einschließlich der Luftwaffe nur im Falle der Selbstverteidigung.
79. Diese Option würde wahrscheinlich eine Umgruppierung erforderlich machen und könnte zu einer Verminderung der Truppenstärke führen. Aber auf kurze Sicht ist eine Verstärkung entsprechend den Angeboten der truppenstellenden Regierungen erforderlich, um die Sicherheit der UNPROFOR bei der Anpassung an das revidierte Mandat zu gewährleisten. Option D würde ebenfalls die Risiken vermindern, denen sich das UNPROFOR-Personal in den Sicherheitszonen, an Waffensammelstellen und anderswo gegenwärtig ausgesetzt sieht, wenn die Luftwaffe auf Anforderung der Truppe zum Einsatz kommt. Option D würde, so glaube ich, der UNPROFOR ein realistisches Mandat geben, das sie in die Lage versetzt, zur Eindämmung der Situation in Bosnien-Herzegowina beizutragen, ohne Erwartungen zu wecken, sie könnte ein Ende des Krieges erzwingen oder in den Krieg eintreten und auf der Seite einer der Kriegsparteien kämpfen.
80. Ich möchte diesen Bericht mit folgenden persönlichen Überlegungen beenden. Gegenwärtig durchleben die Vereinten Nationen in Bosnien-Herzegowina dramatische Ereignisse, die an andere Krisen erinnern, wie sie in den zurückliegenden Jahrzehnten friedenssichernde Operationen betroffen haben. Die Reaktion der Organisation auf diese Ereignisse wird wiederum einen entscheidenden Einfluß hinsichtlich ihrer Stellung und ihres Ansehens auf viele Jahre hinaus haben. Dies sind wahrhaft definitorische Momente. Im Umgang mit ihnen dürfen wir nicht den Blick für drei miteinander verbundene Ziele verlieren, die die eigentliche Bedeutung der Vereinten Nationen ausmachen: das Streben nach Frieden, der Schutz menschlichen Lebens und die Zurückweisung einer Kultur des Todes (culture of death). Die Umsetzung dieser Ziele wird Zeit in Anspruch nehmen und ist nur durch den erfolgreichen Gebrauch nichtmilitärischer Mittel zu erreichen.
81. In der jetzigen Krise muß die Sicherheit des Personals der friedenssichernden Kräfte und der humanitären Organisationen und der Respekt diesem Personal gegenüber höchste Priorität besitzen. Jeden von uns haben die Fernsehbilder aus den letzten Tagen von erniedrigtem und Gefahren ausgesetztem Personal der Vereinten Nationen sehr beunruhigt. Ich verneige mich vor ihrem Mut und ihrer Standhaftigkeit und spreche den Familien, deren Angehörige ihr Leben gelassen haben, mein tiefstes Beileid aus. Ich trauere auch um die in Bosnien-Herzegowina getöteten Zivilisten. Wir dürfen nicht noch mehr Leben um kurzfristiger Lösungen willen in Gefahr bringen. Nicht nur das Leben der Blauhelme und der Helfer vor Ort ist bedroht, sondern auch die zukünftige Fähigkeit der Vereinten Nationen, effektive Friedensoperationen durchzufahren.
82. Die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen ist von größter Bedeutung und muß zu jeder Zeit sichergestellt sein. Kaum etwas schadet den friedenssichernden Kräften der Vereinten Nationen mehr, als ihnen Aufgaben zu übertragen, deren Erfüllung unter den vorherrschenden Umständen unmöglich ist. Ein Verlust an Glaubwürdigkeit auf diesem Feld wird die Anstrengungen der Vereinten Nationen im Bereich der Entwicklung, der Umwelt, der Menschenrechte und bei allen anderen wichtigen Aufgaben beeinträchtigen. Dies ist ein weiterer Grund, warum wir stets auf der Unantastbarkeit des Personals der Vereinten Nationen in Friedensoperationen bestehen müssen.