Als Mitte 1997 in Südostasien einige Währungen zum erstenmal empfindlich schwankten, konnte Chiles Finanzminister Eduardo Aninat bei einer Finanztagung in Hongkong die Solidität der eigenen Situation betonen - was in Santiago mit grimmiger Genugtuung aufgenommen wurde.
Denn Chile, früher militärisch-tüchtig das "Preußen Südamerikas" und im dieser Rolle 1879/80 Sieger im sogenannten Pazifikkrieg gegen Bolivien und Peru, steht heute in der Avantgarde eines Modernisierungsvorgangs, der rasch Dritte-Welt-Erinnerungen löscht und das "Land der verrückten Geographie" zu einem erfolgreichen Global Player aufwertet. Thailand, Südkorea oder Indonesien jammern 1998 auf den Trümmern ihres früheren Wirtschaftswunders. Das läßt Chile, dessen Exporte inzwischen zu einem Drittel nach Asien strömen, nicht ungeschoren. Zum Beispiel sackte der Peso gegenüber dem Dollar auf seinen realistischen Wert ab.
Aber diese Korrektur war sowieso von den chilenischen Exportorganisationen gefordert worden. Alles in allem hält Chile erstaunlich gut seine Position. Wirkliche Schwierigkeiten macht augenblicklich der magere Kupferexportpreis. Und Santiagos Börse dümpelt ob der relativ hohen Inlandszinsen lustlos vor sich hin.
Doch die Konstruktion an sich hält. Santiago, Chiles Fünf-Millionen-Kapitale, zeigt bei jedem neuen Besuch ein noch moderneres und eleganteres Gesicht. Vor dreißig Jahren, als ich, damals ein blutjunger Korrespondent, zum ersten Mal hier eintraf, war Santiago eine verschlampte, kleinbürgerliche, urgemütliche Stadt, die dank der bemerkenswerten christdemokratischen Reformen kulturell aufzublühen begann. Gemütlichkeit herrscht heute nicht mehr. Dafür gibt es eine modernistische und blitzsauber gehaltene Metro, Glas-Beton-Paläste, elegante BüroTürme und Hotelpyramiden (das "Hyatt" und das "Radisson" stechen jedes europäische Pendant aus), permanente Verkehrstaus, gestreßte Manager und Technokraten mit omnipräsenten Handys und Notebooks. In glänzenden Konsumtempeln und riesigen Shopping Malls nach nordamerikanischem Vorbild drangen kaufwütige Konsumenten, obschon auf der Basis von Kreditkarten und anderen Formen von Plastikgeld bis über die Ohren verschuldet. (Immerhin läßt sich nach diesem System sogar ein Buch kaufen und in zehn bis zwölf Monatsraten abzahlen.) Freilich hat dies auch seinen Preis.
Denn die Plaza publica, der müßiggängerische öffentliche Treffpunkt für Kontakte und Diskussionen, ist zubetoniert. Sogar meine überaus geliebte "Plaza del Mulato Gil", beim Übergang von der Militärregierung zur demokratischen Koalition Treffpunkt einer quirligen Boheme, dünnt aus: Die Zeit der intellektuellen Spielereien ist vorbei; jetzt wird in die Hände gespuckt und auf Wirtschaftswachstum gemacht. Sogar die Heerscharen an Dienstboten, denen ich beim frühmorgentlichen Jogging begegne, wenn sie aus überfüllten Vorort-Bussen quellen, telefonieren im eiligen Schritt diensteifrig per Schnurlos-Telefon. Hingegen Poeten, früher die Essenz von Chile, bleiben heute auf ihren Gedichten sitzen. Auf makroökonomischer Ebene kann das Resultat sich sehen lassen: Chile wächst seit zehn Jahren jährlich um 7% (eine Rate, die heuer freilich nicht durchzuhalten sein wird, infolge der südostasiatischen Zusammenbrüche). 1997 kam die, historisch immer hohe, Inflation sogar auf 6,6% herunter. Planziel für 1998 sind - illusionäre - 5,5%. Ein verläßlicher Budgetüberschuß gehört zu den Selbstverständlichkeiten des verschlankten Staates. Chile könnte spielend die Auflagen von Maastricht erfüllen. Eine Dollarflut macht der Zentralbank immer wieder zu schaffen. Exporte - Kupfer, seltene Metalle, Holz, Zellulose, Gemüse, Früchte, Wein, Fisch und Fischmehl, Meeresfrüchte - erreichen nicht nur die USA, sondern in ziemlich gleichen Teilen auch Europa und Asien.
Auslandskapital strömt nach wie vor bereitwillig ein, obschon immer deutlicher Begrenzungen für Direktinvestitionen gesetzt werden. Dementsprechend bezeichnet eine modische Debatte, analog zu den südost-asiatischen (inzwischen recht zerzausten) "Tigern", Chile gern als "Jaguar". Finanzminister Aninat wiegelt ab: "Chile no es Jaguar; es un Gato muy ordenado" - Chile ist kein Jaguar, aber ein sehr ordentlicher Kater! Indes, vorerst hinkt der Kater noch. Chiles Exporte zielen auf Menge, nicht aber auf Qualität. Es fehlen die hochwertigen Technologieprodukte. Chiles Infrastruktur bleibt mangelhaft. Der Erziehungssektor, immer löchrig, steckt wieder einmal in der Sackgasse. Eine Facharbeiterausbildung fehlt weitgehend. In Wirklichkeit verschleiern die hohen Wachstumsraten, daß der chilenische Erfolg auf der Einspeisung von immer mehr Billig-Arbeitskraft und kaum veredelten Primärgütern in den Verwertungsprozeß basiert (während die südostasiatischen Tigerstaaten auf der Grundlage tiefgreifender technologisch-organisatorischer Veränderungen enorme Produktivitätssteigerungen erzielen konnten). Chiles Binnenmarkt mit seinen 15 Millionen Köpfen ist viel zu bescheiden für eine anhaltende Wirtschaftsdynamik. Die mächtigen Industrieclusters, Exportkonzerne und Bankenkonsortien, sie alle fest in Händen einer tüchtigen Aristokratie, mußten auf Auslandsmärkte ausweichen. Diesen Transferdruck verstärken die vieldiskutierten AFPs (Administradoras de Fondos de Pensiones), Chiles nach 1981 geschaffene private Pensionskassen, die automatisch für hohe Sparquoten sorgen und die heute bereits eine Finanzmasse von 33 Milliarden Dollar bereithalten (die ebenfalls nach internationaler Veranlagung schreit).
Auf diese Weise treten chilenische Privatfirmen in den Nachbarländern als neue Investoren auf. Fast 18 Milliarden Dollar an eigenem Kapital arbeiten inzwischen jenseits der Grenze, die Hälfte davon in Argentinien. Chiles privatisierter Elektrizitätskonzern, heute unter dem Namen Enersis, erwirbt in Zusammenarbeit mit der spanischen Endesa laufend lateinamerikanische Energieversorger (so jüngst auch den der kolumbianischen Hauptstadt Bogota). Stellt diese erfolgreiche chilenische Kapitaloffensive, die auch auf Dienstleistungen übergreift (chilenische Supermarkt-Ketten eröffnen Filialen überall in Südamerika) die traditionelle Imperialismus-Debatte auf den Kopf? Ausländische Investitionen wurden bis vor kurzem ausschließlich von Nordamerikanern, Europäern oder Japanern getätigt, was Marxisten und Nationalisten aufstieß. Heute jedoch treten die Chilenen als junge Investoren auf. Gewissen Sentiments unter den Nachbarn ob solcher Tüchtigkeit tragen die Chilenen mit Fassung. Freilich, jeder Modernisierungserfolg hat seinen Preis. Chile stinkt, im nördlichen Arica wegen des Fischmehls, im Süden wegen der Zellulose, Santiago würgt im Winter an bösartigem Smog, im Eiswasser vor Feuerland schwappt um die Bohrtürme ausgelaufenes Erdöl. Chiles Exportwunder wird unter anderem mit Lachs unterhalten: gezüchtete Lachse, die groß wie Schweine wachsen - aber so schmecken sie dann auch. Oder die Falle mit dem Hanta-Virus, an dem der gerade aufblühende Abenteuer-Tourismus im Süden zu verkümmern droht: Das Hanta-Virus, Verursacher einer oft tödlichen Lungenentzündung, kommt mit den Ausscheidungen von Ratten unter die Leute. Ratten wurden im waldreichen chilenischen Süden bis vor kurzem von Raubvögeln und Raubtieren unter Kontrolle gehalten, mit dem Raubbau am Wald verloren die Jagdtiere ihr Habitat.
So vermehrten sich die Ratten explosiv und Chile, im Bereich Gesundheit sowieso kriminell unterversorgt, hat plötzlich ein Endemieproblem. Winzige Ökologiegruppen, angeführt vom unermüdlichen Max Neef, protestieren natürlich, aber vorerst ohne Erfolg. Das Entwicklungsmodell wird von weiten Teilen der Bevölkerung nicht hinterfragt.
"Sowas kann in den besten Familien vorkommen"
Jeder Erfolg hat seine Väter, und für Chile wird von Konservativen gern General August Pinochet ins Treffen geführt. Ist ein Militärputsch tatsächlich eine Vorbedingung für eine radikale Restrukturierung einer Gesellschaft? Dies fragen ausgerechnet Russen, die heute in beträchtlicher Zahl bei Seminaren in Santiago auftauchen, um aus der chilenischen Erfahrung zu lernen. Pinochet hat 1973 brutal eine bluttriefende Tabula rasa geschaffen, die Staatsbürokratie zerschlagen, die Gewerkschaften zertrümmert, die Parteien suspendiert.
So war es für die "Chicago Boys" - Spitzname für eine Gruppe junger, von der University of Chicago getrimmter Wirtschaftswissenschaftler, die vor 1973 wegen der etatistischen Politik keine Aussicht auf Tätigkeit hatten und froh waren, an der Katholischen Universität von Santiago als Dozenten unterzukommen - relativ einfach, im Auftrag der Militärs neoliberale Theorie aus dem Lehrbuch in die Praxis umzusetzen. Trotzdem verliefen die ersten Phasen nach 1973 nicht sonderlich erfolgreich. 1981/82 kam es sogar zu einem Finanzkollaps, weil die Bankenaufsicht, ähnlich der Situation im heutigen Südostasien, nur lax funktionierte. Erst ab Mitte der 80er Jahre und nach entsprechenden Korrekturen ließ sich die chilenische Wirtschaft dauerhaft ankurbeln, danach gehörten hohe Wachstumsraten bei inzwischen nur noch 6,7% Arbeitslosigkeit - bis Anfang dieses Jahres zu den Selbstverständlichkeiten des Landes. Chiles ProKopf-Einkommen überschritt vor kurzem die 5 000-Dollar-Marke. Das Land unterhält seit 1990 eine untadelig demokratische Koalitionsregierung, die "Concertaci¢n", die Zusammenarbeit von Christdemokraten, Radikalen und Sozialisten. Sie führt die neoliberale Wirtschaftspolitik fast nahtlos weiter. Die sozialen Tupfer, welche die Armut (nach offiziellen Statistiken sind 22% der Bevölkerung immer noch arm. 8% gelten als absolut arm, leiden also an Ernährungsmängeln) aufweichen sollen, sind nicht sofort auszumachen.
Auch sonst bewegt die Concertaci¢n sich wie auf Glatteis. General Pinochet bleibt für sie notgedrungen die Respektsperson. Am 10. März hat er das Armeekommando (das er ein Vierteljahrhundert innehatte) abgegeben, doch seit dem 11. März wirkt er als "Senador vitalicio", Senator auf Lebenszeit, was ihm dauerhafte Immunität garantiert. Einwände dagegen gab es im Kongreß lange Zeit nur von Hinterbänklern. Erst kurz vor der Ernennung, nach massiven Demonstrationen, legten sozialistische Abgeordnete Protest ein. Chiles Christdemokraten (DCI haben mittlerweile entschieden, es dem Gewissen ihrer Parlamentarier zu überlassen, der Verfassungsanzeige gegen den Ex-Diktator zuzustimmen - und etliche haben schon gestimmt.
Aber die Pinochet-Verfassung von 1980 wird kurzfristig kaum zu ändern sein, weil bei den jüngsten Parlamentswahlen im Dezember 1997, obschon von der Concertacion relativ gewonnen, die unversöhnliche UDI-Rechtspartei zulegen konnte. Chiles intellektuelle und emotionale Malaise hat damit zu tun, daß über die Vergangenheit bisher nicht befreiend diskutiert wurde. Schwamm drüber, Erinnerungen löschen, realistisch denken, neu anfangen und lieber den Wirtschaftserfolg managen. "Sowas kann in den besten Familien vorkommen", pflegt Senator Gabriel Valdes, Ehrenpräsident der Christdemokraten und 1973 bei den Vereinen Nationen im innerer Emigration, achselzuckend zu sagen, um dann problemlos zur Tagesordnung überzugehen. Dabei wäre vieles aufzuarbeiten.
Denn die christdemokratische Radikalreform der späten 60er Jahre, gefolgt von der Unidad-Popular-Regierung unter Salvador Allende (1970 bis 1973) - aus heutiger Sicht ein aussichtsloses Unterfangen -, hat in ihrer letzten Phase als klassenkämpferischer Aufbruch des Proletariats dem chilenischen Großbürgertum das Fürchten beigebracht.
Deswegen die Brutalität des Staatsterrors der Militärs, um das Land wieder in die Art von Zucht zu nehmen, wo die Ausgegrenzten genau wissen, wo oben und wo unten ist. Die Lektion wurde begriffen. .. Alles Politische, was das Pinochet-Erbe auf lange Frist bereinigen soll, wird heute nur in homöopathischen Dosen vorgelegt. Zum Beispiel im Verteidigungsministerium, wo die Zivilpolitiker der Concertaci¢n im vergangenen Herbst, zum ersten Mal in der Geschichte des Landes, ein wie ein Fremdenverkehrsprospekt aufgemachtes "Weißbuch" publizierten. Mit dieser Taktik der "politica de defensa explicita" (frei übersetzt: transparente Verteidigungspolitik) soll der traditionellen Geheimniskrämerei der Offiziere gegengesteuert werden. Allerdings, auch auf diesen 213 Vollglanzseiten bleibt Pinochet natürlich tabu. Kein Wunder, daß Psychologen und Psychoanalytiker in Santiago volle Terminkalender haben. Chiles kollektive Amnesie läßt das Land intellektuell verkümmern. "Es el momento m s momio que vive Chile en todo el siglo XX", schreibt der Altkommunist Volodia Teitelboim in einem Kommentar zu seinen gerade erschienenen Memoiren. Heißt in etwa: So versteinert wie heute war Chile im ganzen Jahrhundert nicht. Dazu gehört auch, daß die katholische Kirche, unter Pinochet tapfer Menschenrechte verteidigend, heute auf Opus-Dei-Positionen einschwenkt ist und der demokratischen Concertaci¢n grollt, weil deren Projekt der Ehescheidung im Kongreß aufliegt.
Immerhin muckten Mitte 1997, genau dreißig Jahre nach Beginn der ersten Studentenrevolten in Santiago, die - bisher apolitischen Studierenden auf. Nach vielen Jahren des Schweigens und folgsamen Lernens organisierte eine blutjunge Generation einen Streik, der Santiagos höheres Bildungssystem vorübergehend lahmlegte. Ihre spöttische, an Popart gestylte Anarchie wirkte wie ein Befreiungsschlag. Interessant ist auch, daß ausgerechnet in diesen Monaten ein Buch, das Erinnerung versucht, Santiagos Bestseller-Listen anführt: "Chile Actual - Anatomia de un Mito" von Tom s Moulian, Soziologieprofessor an der privaten Arcis-Universität in Santiago. Obschon im Soziologiejargon geschrieben und hermetisch verschlüsselt, elektrisiert Moulians Diagnose wache Leser. Seine für Chiles Selbstverständnis verstörende These: Chiles demokratische Concertaci¢n tritt als direkte Erbin der Militärregierung auf, führt unkorrigiert deren Politik fort und berauscht die Bürger, anstatt mit ihnen eine Bewältigung der schwierigen Vergangenheit zu versuchen, mit dem Opiat glitzernder Konsumtempel und Shopping Malls. Nicht zufällig haben zwei chilenische Dichter, Gabriela Mistral und Pablo Neruda, den Nobelpreis für Literatur erhalten.
Denn diese beide Giganten standen auf den Schultern von Myriaden bescheidenerer Poeten, die unablässig die Frage nach der Essenz des Daseins auf unserer Erde ventilierten. Im heutigen Wirtschaftswunderland Chile treibt das Gebrüll des rasch Muskeln ansetzenden "Katers" die übriggebliebenen Dichter in die Ecke der Belanglosigkeit. Vielleicht ist dies das Faszinierende, aber auch Verstörende am heutigen Chile-Besuch: Man schaut in den chilenischen Spiegel und erblickt die mögliche Zukunft unserer eigenen europäischen Gesellschaften: makroökonomisch gediegen, erfolgreich als Global Player, international strategische Allianzen knüpfend, an der Börse erfahren und risikobereit, e-mail-vernetzt mit der ganzen Welt - aber ohne Solidarität, bei nachlassender Lebensqualität für die unteren Einkommensschichten, blind für Armut, ohne Bedarf an intellektuellem Müßiggang, mit Poeten am Hungertuch...