Ausgabe Februar 1999

Amnestie und Hysterie

Vermutlich war Erich Mielke der einzige, dem die allermeisten ehemaligen DDR-Bürger eine Strafe gegönnt hätten, Siegerjustiz hin oder her. Nun hat der Rechtsstaat gesprochen: Haftentschädigung. Daß Mielke die Polizistenmorde von 1931 verbüßte, fand der Rechtsstaat richtig und vordringlich. Als Minister für Staatssicherheit aber siecht der Alte unbelangt dahin, mit eben jener Haftentschädigung, die viele kleine IMs fragen läßt, warum sie eigentlich ihren Job verloren haben. Aber im nächsten Augenblick durchsichtige Empörung, weil der ExSpion Rainer Rupp auf Bundestagskosten Zeitungen auswerten darf nach dem Willen Wolfgang Schäubles von 1990 wäre "Topas" nie in den Knast gekommen. Die strafrechtliche Bewältigung der DDR füllt kein Ruhmesblatt für die Lehrbücher künftiger Juristen; schon deshalb scheint die Forderung nach einer Amnestie oder einem Abschlußgesetz naheliegend, im zehnten Jahr der Wende. Die Fakten: Aus 21 776 Ermittlungsverfahren gingen 211 rechtskräftige Verurteilungen hervor, davon wiederum nur 21 zu Haftstrafen ohne Bewährung.

Eine kleine Handvoll Täter muß folglich ein Volk von 16 Millionen Opfern unterdrückt haben, quod erat demonstrandum. Die Zahlen lassen sich auch anders lesen.

Februar 1999

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