Ausgabe März 2001

Rußlands Babel

Zum Repertoire nationaler Mythen

Seit der Auflösung der Sowjetunion sucht Russland nach Selbstbildern, die Gegenwart und Vergangenheit verknüpfen, das Bedürfnis nach Einzigartigkeit stillen und mobilisierende Ideen bereitstellen. Die meisten Beobachter stimmen darin überein, dass Russlands Suche nach einer Nationalidee ergebnislos ausging. Die Bewertung bleibt jedoch umstritten. Einige Autoren meinen, die Abwesenheit einer schlüssigen Nationalidee habe auch ihr Gutes. Die erfolglos gebliebene Mobilisierung nationalistischer Massen und extremistischer Parteien, die Nichtexistenz schlagkräftiger paramilitärischer Gruppen nach Art der Tschetniks in Serbien, das Ausbleiben eines "Weimarer Republik"-Szenarios und die Beschränkung ethnischer Gewalteskalation auf Tschetschenien - all dies könne auch als Positivsaldo angesehen werden. Eine andere Sicht klagt hingegen Nationsbildung ein und sieht in deren Fehlen einen zentralen Grund für die schlechte Transformationsbilanz. Russlands Demokraten und Liberale hätten in den 90er Jahren das postsozialistische "Vakuum" den Chauvinisten und rechtsradikalen Kräften überlassen. Die konträren Bewertungen rufen über den Fall Russland hinaus reichende grundsätzliche Fragen hervor, und sie erfordern empirische Erklärungen.

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Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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